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Nationalparks in Deutschland Die Wildnis von morgen

Die Nationalparks in Deutschland können jetzt auch Wildnis. Der Befehl dazu kommt von oben. Doch das funktioniert nicht.

Naturschutzgebiet Schliffkopf. Bild: dpa

DEUTSCHLAND zeo2 | Überall kann man inzwischen diesem Satz begegnen. Man liest ihn in Infobroschüren und Artikeln von Lokalzeitungen, hört ihn auf Führungen im Nationalpark Harz oder im Biosphärengebiet Schwäbische Alb – ja, sogar im Stadtwald von Saarbrücken: „Hier entsteht der Urwald von morgen“.

Beeindruckend ist nicht nur die Geschmeidigkeit, mit der dieser Satz allen Beteiligten von den Lippen geht; interessant ist auch das Phänomen an sich. Eines der am dichtesten besiedelten und am höchsten industrialisierten Länder der Welt hat offenbar ein neues Produkt in sein Portfolio aufgenommen: Wir können jetzt auch Wildnis. Der Befehl dazu kommt von oben.

In der „Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt“, gültig seit 2007, erklärt die Bundesregierung die Sehnsucht nach unberührter Natur quasi zur vaterländischen Aufgabe. Bis zum Jahr 2020, so die Ansage der Politik, soll auf zwei Prozent unserer Landesfläche Wildnis entstehen – beziehungsweise, so der Wortlaut, die Natur „sich nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln“ dürfen.

Die Botschaft scheint anzukommen: Den Satz, die Natur auch mal „Natur sein zu lassen“, hat inzwischen fast jeder Kommunalpolitiker drauf. Und Begriffe wie „Nationales Naturerbe“ oder „Nationale Naturlandschaften“, unter denen die großen Schutzgebiete seit einigen Jahren vermarktet werden, deuten an: Hier entsteht Großes. 

Wildnis als Gegenkonzept

Aber woher plötzlich diese Renaissance der Wildnis? Ist es nur die übliche Naturromantik, die diffuse – und folgenlose – Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, die auch von Werbung und Produktmanagement längst bis zum Überdruss ausgenutzt wird? Oder steckt mehr dahinter?

„Wildnis war immer ein Gegenkonzept“, sagt Ludwig Trepl, emeritierter Professor für Landschaftsökologie an der TU München. Kein naturwissenschaftlicher Begriff, sondern eher ein kulturhistorischer. Und ein ethisch-moralischer. „Historisch gesehen, war die Wildnis während der allerlängsten Zeit der Geschichte immer etwas Gefährliches und Bedrohliches“, meint Trepl; „es war der Gegensatz zu dem Teil der Landschaft, den der Mensch mühsam urbar gemacht hatte.“

Das wandelte sich erst mit der Aufklärung und der Industrialisierung: In dem Maß wie man die Natur zunehmend in den Griff zu bekommen schien, galt diese nun nicht mehr als übermächtig, sondern, je nach Perspektive, als schön oder gar nützlich.

„Und heute“, so Trepl, „scheint sich da wieder etwas zu drehen. Wenn das Land – oder das ganze Leben – von immer mehr Menschen als überzivilisiert und überreglementiert empfunden wird, dann bildet die Wildnis wieder einen Gegenpol. Diesmal in Form des Ungeplanten, des Unkontrollierten, das dann aber positiv empfunden wird.“

Ein bisschen Wildnis muss sein, fordert schon der berühmte Wilderness Act der USA aus dem Jahr 1964: damit „die wachsende Bevölkerung, die sich ausbreitenden Siedlungen und die zunehmende Mechanisierung nicht sämtliche Flächen besetzen und kein Land übrig lassen, das dem Schutz und der Bewahrung seines natürlichen Zustands gewidmet ist“.

In Zeiten des Extremkapitalismus hat dieser Aspekt eine verschärfte Aktualität bekommen: Wildnis ist zweckfrei. In einer Welt, in der alles auf seinen monetären Nutzen abgeklopft wird, wächst der Wunsch nach ein paar Eckchen, die davon ausgenommen sind. Man will wenigstens das Gefühl haben, dass diese Eckchen irgendwo (man muss ja nicht unbedingt hinfahren) tatsächlich existieren.

Diesen Zusammenhang sollte man im Auge behalten, um zu begreifen, warum manche Menschen die Wildnis so sehr wollen, dass sie dafür Ärger riskieren – wie der Streit um neue Nationalparks im Steigerwald oder im Nordschwarzwald zeigt. Und warum gerade Städter so sehr für Wildnis sind. „Der veränderte Blick auf die Wildnis geht von den Ballungsgebieten aus“, bestätigt Hans Bibelriether, der von der Gründung 1969 bis 1998 den Nationalpark Bayerischer Wald leitete.

„Es gibt ja immer mehr Menschen, die nicht mit intakter Kulturlandschaft aufgewachsen sind, sondern mehr oder weniger in Siedlungsräumen. Die erschrecken nicht, wenn im Wald totes Holz herumliegt, weil sie nicht gelernt haben, das als etwas Schlimmes zu sehen. Für die klingt Wildnis positiv. Vor 20, 30 Jahren war das noch ein Schimpfwort.“

Der Mensch als vorübergehender Besucher

Eine erstaunliche Entwicklung also. Aber macht das denn Sinn, Wildnis in Deutschland? Was ist Wildnis überhaupt? Der Wilderness Act hat auch hierzu eine einleuchtende Formulierung: „Im Gegensatz zu den Landschaften, die vom Menschen dominiert werden, verstehen wir Wildnis als eine Gegend, in der die Erde und ihre Lebensgemeinschaften sich ungehindert entfalten können und in der der Mensch nur ein vorübergehender Besucher ist.“

Der Mensch soll sich in erster Linie raushalten, das klingt doch plausibel. Unberührte Natur, wunderbar! Aber da fängt’s schon an: Dann wären die ehemaligen Truppenübungsplätze, die in mancher Hinsicht zu den ökologisch wertvollsten Gebieten zählen, natürlich gar keine Wildnis. Ihre speziellen Biotope verdanken sich ja gerade dem Eingreifen des Menschen.

Wo die Panzerketten die Vegetationsdecke aufrissen, konnten Wildbienen ihre Baue graben; wo die schweren Fahrzeuge den Boden verdichteten, entstanden kurzlebige Kleinstgewässer, in denen Gelbbauchunke und Kreuzkröte ihren Laich ablegen; und abseits der Panzerwege konnten bodenbrütende Vögel ungestört ihre Jungen aufziehen. Vielfältige, reichhaltige Natur also. Aber Wildnis?

Oder ist Wildnis dort, wo wilde Tiere leben? Aber was für Tiere? Müssen es Raubtiere sein, oder zählen auch Pflanzenfresser? Wilde Tiere leben vielerorts in Deutschland: Wildschweine, Waschbären, Rothirsche, Biber, Fischotter, Marder, Dachse; zu schweigen von Fischadler und Uhu, Turmfalke und Habichtskauz.

In der Lausitz leben Wölfe; durch den Harz und den Bayerischen Wald streifen Luchse, im Pfälzer Wald und anderswo gibt es Wildkatzen. Aus Polen schauen immer wieder mal Elche herüber. Und im Rothaargebirge darf sich seit kurzem eine kleine, achtköpfige Wisentherde frei im Wald bewegen.

In dieser Hinsicht wäre also der Südosten Nordrhein-Westfalens die wildeste Gegend Deutschlands. Oder gilt das alles nicht – und richtig wild wäre es nur, wenn wir irgendwo auch wieder Bären hätten? Es scheint, als ließe sich die Frage, was genau Wildnis ist, gar nicht so leicht beantworten.

Man könnte es sich auch einfach machen und sagen: Es gibt keine Wildnis in Deutschland, Punkt. Viele Fachleute sind genau dieser Meinung. Schließlich ist hierzulande kaum ein Fleck nicht schon mehrfach von Menschen umgestaltet worden.

Selbst der Buchenwald, der meist als unsere „natürliche Vegetation“ bezeichnet wird, konnte nur deshalb so dominant werden, weil seit der Jungsteinzeit praktisch jeder Quadratmeter Wald mindestens einmal schon gerodet wurde – und die Rotbuche auf den Lichtungen besser Fuß fasste als der ursprüngliche Mischwald aus Kiefern und Birken, Haselsträuchern, Fichten, Eichen, Eschen und Ulmen.

Wildnis ist Definitionssache

Schon der Buchenwald also (mitsamt den schönsten „Urwald“-Resten, die wir von ihm haben), ist streng genommen bereits eine Kulturlandschaft. Wildnis ist also Definitionssache. Das zeigt sich jedes Mal, wenn es konkret wird. So wie im Nationalpark Bayerischer Wald, erstmals im August 1983.

Dort erschien die natürliche Dynamik zunächst in Form eines Sturms, der 30.000 Festmeter Bäume zerbrach, und dann in Gestalt des Borkenkäfers. Den Käfer hatte es immer schon gegeben. Aber nun konnte er sich erstmals explosionsartig vermehren, weil die Nationalparkverwaltung das tote Holz nicht wegräumte und verwertete, wie es die „gute forstliche Praxis“ und der „gesunde Menschenverstand“ geboten hätten – sondern es einfach liegen ließ.

Das war wilde Natur, es war natürliche Dynamik. Aber schön war es nicht. Toter Wald, stumm in den Himmel ragende Baumleichen; das war nicht das, was die meisten Menschen unter Natur verstanden. Bibelriether und seine Mitstreiter aber verteidigten die natürliche Dynamik. Es waren harte Jahre, bis zu erkennen war, dass zwischen den abgestorbenen Fichten ein neuer Wald heranzuwachsen begann. In dieser Zeit entstand der Satz „Natur Natur sein lassen“, den Bibelriether 1991 erstmals im Titel eines Aufsatzes veröffentlichte.

Der Forstmann kann schlüssig erklären, warum die natürliche Verjüngung des Waldes menschlicher Planung sogar überlegen ist: „Wenn die toten Stämme kreuz und quer liegen, können in ihrem Schutz die jungen Stämmchen hochkommen, da können die Rehe und Hirsche nicht ran. Und außerdem kommen nur dort neue Bäume hoch, wo es vom Standort her passt. Wenn Sie dagegen pflanzen, können Sie nie ganz sicher sein, ob der Baum dort auch angeht, Sie können ja in den Boden nicht reinschauen.“

Was jetzt auf diesen Flächen heranwächst, ist ein stabiler Mischwald. Und wie Mahnmale stehen zwischen dem frisch emporschießenden Grün noch die ausgebleichten Stämme der abgestorbenen alten Fichten. Bis sie irgendwann fallen und in den Kreislauf eingehen. Die Erkenntnis, was Dynamik in der Natur bedeuten kann, war schmerzhaft für alle Beteiligten.

Aber sie stieß einen wichtigen Prozess an, der sogar den Naturschutz zu verändern beginnt. Denn dort ging es bisher vor allem darum, jeweils einen bestimmten Zustand zu konservieren. Zunächst wurden die „Naturmerkwürdigkeiten“ geschützt.

Das waren im 19. Jahrhundert auffällige Orte, Felsformationen wie der Drachenfels im Siebengebirge oder der Totenstein in der Oberlausitz. Auch später, als es um größere Landschaftsteile ging, versuchte man, den gewünschten Zustand zu erhalten. Das ist bis heute die Idee der Naturschutzgebiete.

Wacholderheiden und Orchideenwiesen werden vor der Verbuschung geschützt, Moore bleiben Moore, Wald wird als Wald erhalten; es wird Holz geschlagen, Gras gemäht, Schilf geerntet, Schafe, Rinder oder Ziegen werden geweidet. Dieser statische Blick auf die schützenswerte Natur („Bestandsschutz“) hat natürlich seine Berechtigung, vor allem in der Kulturlandschaft: Wenn man hier nicht eingriffe, entstünde eben überall Wald. »Diese Haltung«, meint Landschaftsökologe Trepl, „hat aber lange Zeit den Blick auf das Prozesshafte, auf das Wandelbare der Natur verstellt.“

 

Das Land verwildern lassen

Manche Naturschützer verglichen Ökosysteme mit Organismen, in denen jedes Element eine bestimmte Funktion habe; sie propagierten die Vorstellung von einem natürlichen Gleichgewicht, das bewahrt werden müsse, und von einem Endzustand, den ein Ökosystem erreichen könne. Dies wird heute zunehmend in Frage gestellt.

Kräftige Impulse dazu gab es aus der Politik. Die Absicht, künftig zwei Prozent unseres Landes (und zugleich fünf Prozent der Waldfläche) verwildern zu lassen, klingt sowohl erstaunlich präzise als auch ehrgeizig. Und ist offenbar erfolgreich: „Es ist ungewöhnlich, dass ein politisches Ziel so starke Wirksamkeit entfaltet“, freut sich Uwe Riecken, Leiter der Abteilung für Biotopschutz und Landschaftsökologie beim Bundesamt für Naturschutz (BfN).

Das Europäische Parlament forderte 2009 ebenfalls in einer vielbeachteten Entschließung die Schaffung von Wildnisgebieten. Auch hier fanden sich Formulierungen wie »Ökosystem- Ansätze« und »ungehindert ablaufende natürliche Prozesse«. Aber wo können sie denn nun stattfinden, die natürlichen Prozesse, nach denen wir alle uns offenbar so sehr sehnen?

In Deutschland gibt es unterschiedliche Gebiete, wo im Gegensatz zu den Naturschutzgebieten die natürliche Dynamik Vorrang hat. So weisen die Forstverwaltungen der Länder auf eigene Initiative so genannte Naturwaldreservate aus, wo »die forstliche Nutzung eingestellt«, die Natur sich selbst überlassen wird.

Hier könnte man also von Waldwildnis sprechen – wenn diese Gebiete nicht so klein wären. Nur die wenigsten sind größer als 100 Hektar, also ein Quadratkilometer. Auch in den Kernzonen der Biosphärenreservate hat die Natur freien Lauf; aber auch die sind meist klein.

Wildnis aber hat auch etwas mit Größe zu tun. Für etwas, das zumindest wildnisähnlich sein soll, kommen also am ehesten die Nationalparks in Frage – Gebiete, die idealerweise „großräumig, weitgehend unzerschnitten und von besonderer Eigenart“ sind.

14 Nationalparks hat Deutschland inzwischen, auch das durchaus eine Erfolgsgeschichte (als 1970 der erste im Bayerischen Wald eingerichtet wurde, war der Begriff im deutschen Recht noch unbekannt, es brauchte eigens ein Landesgesetz). Und die nehmen die Herausforderung gerne an. Der Nationalpark Eifel etwa will seinen Besuchern „die Faszination Wildnis hautnah erlebbar machen“.

Doch wenn man strengere Maßstäbe anlegt, sieht es in den deutschen Nationalparks in puncto Wildnis ziemlich mau aus. In einem Nationalpark, so fordert es die Internationale Naturschutzorganisation IUCN, darf auf mindestens 75 Prozent der Fläche der Mensch nicht eingreifen; das ist zur Zeit in Deutschland nur im thüringischen Hainich und bei den kleinen Parks Jasmund auf Rügen und Kellerwald-Edersee der Fall. 

Monokulturen sind keine Wildnis

Und der Anspruch gar, die Gebiete sollten sich „in einem überwiegenden Teil ihres Gebiets in einem vom Menschen nicht oder wenig beeinflussten Zustand befinden“ – ist in den meisten Fällen utopisch. Beispiel Harz: Der ist mit gut 24.000 Hektar, also 240 Quadratkilometern, schon einer der größeren. Die Kernzone, in der die Nutzung unterbleibt, macht etwas mehr als die Hälfte aus.

Aber was dort steht, ist deshalb noch keine Wildnis: überwiegend Fichtenmonokulturen, zudem nicht die einheimischen, widerstandsfähigen Bergfichten, sondern schnellwüchsige Flachland-Sorten. Bis da ein wilder Mischwald entstanden ist, wird es mehrere Jahrzehnte dauern – weshalb die Fachleute ein bisschen verschämt von einem „Entwicklungs-Nationalpark“ sprechen.

Und noch etwas unterscheidet ihn von echter Wildnis: die vielen Wege und Straßen. „Selbst in den Kernzonen gibt es breite, Lkw-fähige Forststraßen“, kritisiert Gerhard Trommer, langjähriger Professor für Umweltbildung in Frankfurt und einer der besten deutschen Wildniskenner. „Das wichtigste Kriterium für ein Wildnisgebiet ist die Abwesenheit von Straßen. Wildnisgebiete müssen unzerschnitten sein, und der Mensch muss sich raushalten.“

„Mut zu schmalen Pfaden!“ fordert Trommer von den Nationalparkverwaltungen, sie sollten sich mehr trauen. „Kinder zeigen das am besten; wenn Sie mit denen auf schmalen Wegen gehen, dann hüpfen die voran – weil es Lust macht und weil es immer was zu entdecken gibt. Auf den breiten Forstwegen dagegen verweigern sie sich.“

„Echte Wildnis ist ausgerottet“

Trommer warnt auch davor, kleinere Gebiete wie die Naturwaldreservate oder die kleinen Kernzonen in den Biosphärenreservaten Wildnis zu nennen: „Das ist eine Verniedlichung“, schimpft er, „echte Wildnis ist in Mitteleuropa längst ausgerottet.“

Er schlägt vor, solche Gebiete beispielsweise Verwilderungszonen zu nennen: „Diese begriffliche Trennschärfe ist wichtig. Denn Wildnis ist eine Denkfigur, die wir zum Abgleich der Realität nutzen können. Und nur wenn wir eine Vorstellung davon haben, was echte Wildnis ist, können wir ermessen, was uns gerade wirklich an Natur verloren geht.“

Martin Rasper der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 4/13.

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