Kunst nach dem 7. Oktober: Im Notfall Trial and Error

Der Kulturbetrieb in Deutschland ist an einem Tiefpunkt. Es wird aggressiv gestritten, verbal aufgerüstet, zum Boykott aufgerufen. Was tut not?

Blick in eine Ausstellung mit Holzkiste auf den Boden

Holzkiste, wenn der Künstler streikt: Blick in Ausstellung „Poetics of Encryption“ in den KW Institute for Contemporary Art, Berlin 2024 Foto: Frank Sperling

Im Berliner Kunsthaus KW – Institute for Contemporary Art steht inmitten eines Ausstellungsraums eine Holzkiste. Darin soll ein Kunstwerk aus Leuchtstoffröhren enthalten sein, so informiert ein Label an der Wand, sein Verfasser: „American Artist“. Vielleicht ist in der Kiste gar nichts drin und sie suggeriert nur, man verpasse hier etwas. „American Artist“ bestreikt das KW als deutsche Kultureinrichtung, hat seine Teilnahme an der Ausstellung „Poetics of Encryption“ zurückgezogen. Und das KW schließt sich auf eine Art dem Streik an und straft das Publikum mit dieser Holzkiste ab.

Was ist passiert im deutschen Kunstbetrieb, für das diese Kiste nun ein Symptom ist? Viel, seit dem 7. Oktober, sehr viel. Und es scheint, als wären die Ausstellungshäuser an einem Tiefpunkt angelangt. Fragt man bei Ku­ra­to­r:in­nen und Mu­se­ums­lei­te­r:in­nen nach, wie es hierzulande um die Kunst und das Ausstellungmachen steht, wird nur zögerlich geantwortet. Am liebsten möchte man gar keine öffentlichen Aussagen mehr machen.

In den letzten Monaten hatte es viele Absagen gegeben, und ihr Symbolgehalt ist fatal. Die Hashtags „Censorship“ oder „McCarthyismus“, mit denen in den sozialen Medien von streikenden Künst­le­r:in­nen derzeit öffentlich geförderte Kulturinstitutionen markiert werden, sie sind schon andernorts in ein festes Narrativ übergegangen. Ganz selbstverständlich leitet der Autor Eugene Yiu Nam Cheung auf der US-amerikanischen Onlineplattform e-flux seinen Text über die so desaströs geendete Lesung von Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof damit ein, dass „in Deutschland ein zunehmendes Klima der Zensur“ herrsche.

Viel Aufsehen erregte international der Fall der südafrikanischen jüdischen Künstlerin Candice Breitz. Sie hätte jetzt im Saarlandmuseum ihre Videoarbeit zu Prostitution in Südafrika zeigen sollen, doch die Ausstellung wurde im November mit der Begründung abgesagt, Breitz würde damit auch ihren politischen Äußerungen zum Nahostkonflikt eine Plattform bieten. Die Künstlerin hatte zuvor in sozialen Netzwerken und bei öffentlichen Kundgebungen Kritik an Israel geübt, provozierte mit Begriffen wie „Apartheid“ und „Genozid“, nannte die israelische Regierung „sadistisch“.

Verweben von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit

In dieser Woche hat die saarländische Museumschefin Andrea Jahn nun vorzeitig ihren Posten geräumt, anscheinend eine Folge der Absage. Im Saarland wird diskutiert, ob Kulturministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) zu starken Druck auf Jahn ausgeübt hat.

Doch der Fall Candice Breitz ist vielleicht exemplarisch für eine längere Entwicklung in der Kunst, die seit den aggressiven Diskussionen um den Nahostkonflikt für Ausstellungshäuser zu einem paralysierenden Dilemma geworden ist. Denn die im Kulturbetrieb so viel debattierten Begriffe Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit sind schon lange in der Kunst miteinander verwoben. Die politisch aktive Breitz und ihre Kunst sind kaum zu trennen.

„Ich bin skeptisch, ob Kunst das richtige Mittel ist, politisch etwas in Gang zu setzen“, hatte Künstler Tim Eitel einmal gesagt. „Meistens ist Kunst ja ein Symptom gesellschaftlicher Prozesse.“ Das stand 2010 in Texte zur Kunst, als das Magazin in einer Ausgabe die Frage nach dem Politischen in der Kunst stellte. Noch verortete Tim Eitel das Politische in den materiellen Verhältnissen.

Autor Helmut Draxler äußerte in der gleichen Ausgabe bereits die Sorge, dass eine politische Kunst ihre Autonomie verliere und sich unter Ideologieverdacht stelle. Heute spricht man längst davon, dass die Kunst ihre Autonomie aufgegeben habe. Schon auf der documenta 2017 ließ sich beobachten, dass Identität und Autorschaft überhaupt erst den Wert eines Kunstwerks legitimieren.

In den sozialen Medien hat in den letzten Monaten ein regelrechtes Aufrüsten stattgefunden, durch Bilder und durch Worte, durch verkürzte Parolen dank Hashtags wie „Genozid“, „Apartheid“ oder „Rassismus“. Die Fronten sind hart, auch aufgebaut von Künst­le­r:in­nen und Ku­ra­to­r:in­nen. Jene, die meinen, sich mit einfachen politischen Formeln auf eine vermeintlich gute Seite zu stellen, wenn sie sich für die palästinensische Sache einsetzten, in einem Konflikt, der so komplex ist, dass er auch erfahrene Po­li­tik­ex­per­t:in­nen überfordert.

Boykott als ästhetische Form?

Die Venedig-Kunstbiennale steht an, und jüngst kursierte im Internet ein Boykottaufruf. Mit grafischer Guerillataktik täuschte eine Website den offiziellen Auftritt der Biennale vor und rief dazu auf, den israelischen Pavillon zu stoppen. In kurzer Zeit hatten 18.000 Personen aus dem internationalen Kunstbetrieb unterschrieben, darunter bekannte und unbekannte Namen.

Die Künstlerin Hito Steyerl hat einen Begriff für derlei Vorgänge gefunden: „Boycottism“. Das Boykottieren in den sozialen Medien und den realen Räumen wie bei „Strike Germany“ deutet Steyerl so als künstlerische Performance. Damit wäre vielleicht ein Umgang gefunden. Man müsste all die Unterschriften und Postings nicht mehr als politisches Handeln ernst nehmen, sie wären dann nur Teil einer ästhetischen Kategorie, eines gewissen Radical Chic.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Das, was verbreitet wird, ist hart, feindselig, oft einseitig. Man muss letztlich gegenhalten – durch Aufklärung. Die Diskussionen müssen aus der Unterkomplexität des Internets herausgehievt werden. Oder man überführt die Diskussionen in den realen Raum, zum Beispiel in die paralysierten Museen.

Aber bräuchte es dafür etwa einen Polizeischutz, wie es zuvor die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) forderte, nachdem die Performance der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof in Berlin schmerzhaft enden musste? Bruguera hatte bei einer geplant 100-stündigen öffentlichen Lesung von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse die Grenzen der Diskussionsfähigkeit austesten wollen, lud auch israelkritische Demonstranten ein.

Ein leerer Stul in einem großen Raum.

Bei der Lesung von Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof in Berlin Foto: Funke Foto Services/imago

Es entlud sich antisemitischer Hass

Während gerade Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, aus Hannah Arendts Werk las, entlud sich unter ihnen ein Hass, und man kann sagen, es war ein antisemitischer Hass, denn er war an die Repräsentantin einer jüdischen Einrichtung gerichtet: Wenzel wurde als „Rassistin“ beleidigt und mit den Worten „You are committing genocide – shame on you“ bedrängt.

Doch Law and Order forderte auch Wenzel nicht, als sie infolge einer Sitzung des Kulturausschusses im Bundestag Handlungsempfehlungen für Kultur und Politik veröffentlichte, wie dem ansteigenden Antisemitismus im Kulturbetrieb zu begegnen sei. Auch administrative Maßnahmen bei öffentlichen Förderungen, wie es Berlins Kultursenator Joe Chialo mit der Antisemitismusklausel versuchte, scheinen ihr kein Mittel. Wenzel, die Museumsfrau, spricht vielmehr vom „Bereitstellen zusätzlicher Mittel für die Fortbildung des leitenden Personals von Kultureinrichtungen zur Stärkung ihres antisemitismuskritischen Urteilsvermögens“.

„Eine staatliche Förderung dieser Schulungen begrüßen wir“, antwortet der Direktor des Museum Folkwang in Essen, Peter Gorschlüter, auf taz-Nachfrage. „Die Schulungen sollten aber auch weiterhin von unabhängigen Fachleuten durchgeführt werden und nicht im Auftrag der Politik.“ Das Folkwang-Museum war Ende letzten Jahres in die Schlagzeilen geraten, als der Kurator Anais Duplan nach BDS-nahen Posts zum Nahostkonflikt von einer Ausstellung abzog und in den sozialen Medien den internen Briefwechsel mit dem Museum veröffentlicht hatte. Auch jetzt macht Duplan auf Instagram mit einem Brief gegen das Folkwang auf sich aufmerksam.

„Antisemitismuskritisches Urteilsvermögen“ ist ein guter Begriff und womöglich schwer zu erreichen. Es begegnet wohl auch dem Ansatz der Lite­ratur­wis­sen­schaftlerin Yael Kupferberg. Die betonte im Zuge der Aufarbeitung antisemitischer Verfehlungen während der documenta 2022, dass antisemitische und allgemein diskriminierende Feindbilder immer auftauchen werden in der Kultur, man müsse aber eine „reflexive Distanz“ zu ihnen entwickeln.

Die „reflexive Distanz“ zu Feindbildern

Diese reflexive Distanz, ein souveränes Verhältnis zu schwierigen Inhalten, ließe sich auch durch Schulungen in den Vorgesprächen zu den „Codes of Conduct“, dem Verhaltenskodex im Kulturbetrieb, aufbauen. Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) wehrt sich derzeit öffentlich gegen solche Verhaltensregeln. Er trat einst als Oberbürgermeister von Kassel für die Kunstfreiheit der documenta ein, indem er in den Siebzigern die Findungskommission einführte und so die Weltkunstschau von der Politik trennte. Aber schränken „Codes of Conduct“ die Kunstfreiheit ein, oder schärfen sie nicht eher das Bewusstsein?

Die Anforderung, Verfehlungen zu erkennen und ihnen mit Haltung zu begegnen, dem Druck von Politik einerseits und Aktivist:in­nen andererseits standzuhalten, lastet besonders bei Mu­se­ums­di­rek­to­r:in­nen oder Kurator:innen. Daher sollten sie Boykottforderungen ablehnen, egal aus welcher Richtung sie kommen. „Kontroversität muss zugelassen werden“, schrieben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel kürzlich in ihrer FAZ-Kolumne. Notfalls in einem „Trial-and-Error-Verfahren“, wie Hito Steyerl sagt.

Die Verengung der Diskussion auf Kunst- und Meinungsfreiheit hat noch eine andere Wirkung. Was ihr zum Opfer fällt, ist die Kunst selbst. Die taucht in den Debatten nicht auf.

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