Der Roman „Prana Extrem“ von Joshua Groß: Avantgarde, mindestens

Der Skisprung-Roman „Prana Extrem“ von Joshua Groß verschaltet großartig Witz und Empfindsamkeit, echtes Anliegen und schräge Verschiebung.

Ein Skispringer im Flug, dahinter Berge und strahlendblauer Himmel

Hoch hinaus und rein in die Welt: Die Figuren bei Joshua Groß sind so „trill in Tirol“ Foto: Dean Mouhtaropoulos/getty images

Getrude Rhoxus, eine fiktive Science-Fiction-Autorin im neuen Roman von Joshua Groß, klebt sich gerne an den Enden abgeschnittene Elektroden an ihren Körper, um sich damit nackt in ihren Garten zu legen. „Das ist mein Denkritual“, sagt sie, „ich liege für mehrere Stunden im Moos, dann gehe ich heim und schreibe.“ Es spricht einiges dafür, dass Joshua Groß das auch so macht.

„Prana Extrem“ heißt das gleichsam zarte wie schräge Buch, in dem sich jederzeit eine Art humorvolles Pathos einstellen kann, angesichts überwältigender Wolkenformationen genauso wie vor den Fruchtjoghurts im Kühlschrank. „Ich habe eine solche Schwäche dafür, wenn in komplett alltäglichen Situationen plötzlich so eine maßlose Übertriebenheit zutage tritt“, kommentiert das der mit dem Autor namensgleiche Ich-Erzähler Joshua einmal selbst.

Sein Wahrnehmungsvermögen, mit dem er sich sensibel der Welt öffnet, scheint dabei bis auf subatomare Ebenen zu reichen, wo er surreal anmutende Atmosphären und Stimmungen beschreibt oder auch mal mit selbstgerollten „Antimateriebällchen“ jongliert.

Der Roman spielt in einem sehr langen und heißen Sommer in Tirol, wohin Joshua seine Freundin Lisa im Rahmen eines Literatur­stipendiums begleitet. Die beiden lernen das 16-jährige Skisprungtalent Michael Stiening und dessen ältere Schwester und Trainerin Johanna kennen, die sie kurzerhand einladen, für ein paar Monate zu ihnen nach Kurbruck zu ziehen, einem fiktiven Ort unweit von Innsbruck, an dem sich lokal ein tropisches Sumpfklima entwickelt hat.

Joshua Groß: „Prana Extrem“. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 301 Seiten, 24 Euro

Zusammen mit Hündin Lu, der Katze Schnurri-San und einem – anders als noch im Vorgängerroman „Flexen in Miami“– traurig verschwiegenen Kühlschrank wird Kurbruck zum Basislager ihrer „Bootgang of Love“, zu der später noch die fünfjährige Tilde und Joshuas exzentrische Oma Suzet stoßen.

Sich aus der Handlungsunfähigkeit rausflexen

Gemeinsam unternehmen sie Ausflüge in von Farn umwucherte Thermalquellen, unterstützen Michi bei seinem Training, beratschlagen sich über den Einsatz diverser Hautcremes, lesen Getrude Rhoxus oder floaten Marihuana rauchend im Pool. Das alles ist dermaßen harmonisch und achtsam, dass man sich manchmal fast wundert, warum es nicht nervt.

Vielleicht liegt es an der sympathischen Vorbehaltlichkeit, mit der das Erzählte immer wieder in Anführungszeichen gesetzt wird. Ironie wäre das falsche Wort. Wenn der Erzähler Joshua entsetzt feststellt, dass er „der Einzige war, der keine umfassende Skin-Care-Routine hatte“, dann ragt das zwar arg ins Pa­rodistische, andererseits ist die Sorge um eine „von Trockenheit zerfickte Haut“ auch echt und sogar existenziell markiert in einer Welt, die sich anfühlt, „als würde sie sich langsam häuten“.

Verschaltungen von Witz und Aufrichtigkeit, echtem Anliegen und schräger Verschiebung begegnet man im Roman immer wieder. Es scheint fast so, als würden Augenzwinkern und berührender Ernst einander bedingen. Als müsste man einer verdrehten und übersteuerten Welt mit Verdrehung und Übersteuerung begegnen, um – mit Donna Haraway gesagt, deren Denken einen wichtigen Bezugspunkt für Groß’ Schrieben darstellt – antwortfähig und verantwortungsfähig zu bleiben.

Oder wie Joshua Groß es in einem poetologischen Essay selbst formuliert: „Wer es nicht permanent schafft, gleichzeitig Ironie, Selbsthass, Nostalgie, Affirmation und Konterrevolution in sich selbst auszuhalten, ist ein Hurensohn, der die Schichtungsverhältnisse der Gegenwart nicht verstanden hat.“

Oft kreiert Groß schon auf konzeptioneller Ebene Szenarien, Denkfiguren eigentlich, die mit ihren leichten Verschiebungen im Realitätsgefüge auf eine interessante Weise stimulieren. Allein das Setting der Skisprungschanze in einer Tiroler Sumpflandschaft mit Riesenlibellen, die kurz davor sind, die tonangebenden Player im speziesübergreifenden Zusammenleben zu werden.

Alles muss fließen

Oder der aus einem Museum gestohlene Meteoroid, der Joshua „intensiv mit der Tiefenzeit konfrontiert“, den er dann aber in einem Minigolf-Match setzt, um seiner Oma ein Date zu organisieren. Auch wenn man kaum eine Möglichkeit habe, seine eigene „Grobschlächtigkeit gutzumachen“, müsse man „sich dagegen wehren, dass die Zukunft schon feststehen soll“.

Oder die Chupa Chups, die Joshua in Anspielung auf Ursula K. Le Guins „The Carrier Bag Theory of Fiction“, ein Manifest gegen die männliche Heldengeschichte, in einem selbstgenähten Beutel stets bei sich trägt, „ein bisschen druidenhaft, na ja, aber auch mondän und komplett sinnlos und geil“.

Süßigkeiten und Softdrinks scheinen überhaupt gut reinzupassen in diesen Lebensstil, der sich der Verstricktheit in kaum zu ahnende „Vernichtungszusammenhänge“ und „andere geisteskranke Kontinuitäten“ bewusst ist, gleichzeitig aber „jeglicher Future-Flauheit“ abschwört, mit der man gelegentlich auf die Welt deutet und meint, man könne nichts tun. Hier kommen nun auch Skispringen und das titelgebende Prana ins Spiel.

„Komplette Verkeilung, Egosumpf, Selbstverherrlichung“ seien ein riesiges Problem, erklärt Coach Johanna einmal, weil es die Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde Rahmenbedingungen einschränke. Ihren Bruder möchte sie dazu bringen, dass Skispringen zu einer „Transzendenzerfahrung“ für ihn werde. „Prana muss ungehindert zwischen Scheitelpunkt und Becken­boden fließen“, nur so erreiche man „fortlaufende Verflüssigung“.

Das ungefähr meint das aus dem Hinduismus kommende „Prana“ nämlich: eine Veränderung hin ins Offene, indem man sich, mit den Worten Joshuas, „in die vierte Dimension hochmeditiert beispielweise“.

Liebe, Team und Transformation

Realness und echte Erfahrung in einer sich medial und simulacrum-mäßig enthebenden Welt spielten auch schon in den Vorgängerbüchern von Groß eine zentrale Rolle. Neben dem Prana-Motiv, das deutlich auch auf den sich häutenden Planeten anspielt, der eine Transformation von Lebenspraktiken unumgänglich macht, akzentuiert „Prana Extrem“ ein zweites Thema in neuer Prägnanz: Gemeinschaft.

„Entkommen wird nie ein individueller Akt sein“, sagt Joshua einmal zu seiner Mutter, als sie sich darüber unterhalten, wie man für „sich selbst neue Formen“ findet. Bereits am Ende von „Flexen in Miami“ löst sich die psychotische Verlorenheit, die den Roman durchzieht, in einem Zusammenleben auf, das ganz im Zeichen von Haraways Konzept der Ge­fähr­t:in­nen­schaft steht, in dem Hunde und Katzen genauso eine Rolle spielen wie Kühlschränke oder Reinigungsroboter.

In „Prana Extrem“ steht nun von Anfang an eine „guerillamäßig“ verschworene Clique, die empfindsam und high durchs brütende Tirol stept. Gravitationszentrum und Herzstück der Gemeinschaft: die Liebesbeziehung zwischen Lisa und Joshua. Neben Oma Suzet, die nach dem Verlust ihres Lebensgefährten mit Einsamkeit und Resignation zu kämpfen hat, und der totkranken Gertrude Rhoxus, der vielleicht einzigen Figur, die über ein noch extremer ausgebildetes Empfindungsvermögen verfügt als Joshua, gehören die Szenen zwischen Lisa und Joshua zu den berührendsten des Romans.

Das ununterbrochen harmonische Gekicher, bei dem selten auch mal eine bestimmte Art von Young Adult Fiction anvibet, scheint dabei wieder nur jene Form von Augenzwinkern zu sein, die in der Folge Passagen ermöglicht, die in einem so offenen, unverstellten und verletzlichen Ton geschrieben sind, dass der Rezensent gelegentlich das Buch auf die Knie sinken lassen musste.

Poetisierung der Gegenwart

Überhaupt empfiehlt es sich, „Prana Extrem“ langsam zu lesen. Zwar ist auch der Plot abgefahren und unterhaltsam, die große Stärke des Texts liegt aber in seiner Sprache. Es sind vor allem einzelne Formulierungen, die hängen bleiben, etwa als Jo­shua und Lisa verschwitzt einen Berg besteigen und Joshua freudig feststellt: „Wir sind so trill gemeinsam in Tirol.“

Groß’ Sprache ist hochgradig reflektiert und dabei gleichsam spielerisch, witzig und ernst. Mühelos wechselt er zwischen Gamerlingo, Rap-Jargon, poststrukturalistischen Theoriebegriffen und poetisierenden Anachronismen wie „dräuend“ oder „gülden“. In der Kollision dieser Sprachbereiche, aber auch in ihrer virtuosen motivischen Verschränkung, werden Funken geschlagen, die in ihrer sprühenden Leuchtkraft genauso faszinierend wie rätselhaft sind.

Naturbeschreibung gefolgt von einem zeitphilosophischen Gedankengang gefolgt von einem Lil-Wayne-Zitat gefolgt von einem selbstironischen „Na ja“. In der Überlagerung entstehen oft so etwas wie kleine Transzendenzmomente, nicht als Transzendierung dessen, was da ist, sondern im Sinne seiner hypersensiblen Durchdringung.

Die Welt morpht sich, um es mit einem Lieblingspräfix Joshuas zu sagen, in ihn und die Lesenden „rein“. Als hätte man ein „klein bisschen Acid in der Dämmerung“ gedippt oder momenthaft die Skills einer Libelle inkorporiert, die „so viel schneller als Menschen“ realisieren; ein Skill, den sich Joshua im Sinne seines „Pranatrainings“ versucht anzueignen.

Neu in der deutschen Gegenwartsliteratur

Zentrales Anliegen der Poetik von Joshua Groß ist es – und das ist auch unter politischen Gesichtspunkten interessant –, aus dem Vorgefertigten der Gegenwart herauszukommen, ohne das Vorgefundene eskapistisch auszublenden. Gelingen tut ihm das dank einer trippig-sensiblen Prosa, die gleichsam formbewusst wie welthaltig ist.

Mit das Spannendste daran: Obwohl Groß mit realistischen Erzählkonventionen bricht und gerade auf sprachlicher Ebene durchaus experimentell arbeitet, verschließt sich der Text nicht. Es sind eher zarte Verschiebungen, die das Vorstellungsvermögen kitzeln und die Gehirnhaut zum Kribbeln bringen. Verschmitzt und empfindsam hovert Groß durch die Hemmnisse, die uns umgeben, und etabliert einen Ton in der deutschen Gegenwartsliteratur, der neu ist.

Innerhalb der Literaturszene wird der 33-jährige Joshua Groß viel diskutiert, gerade unter jüngeren Autor:innen. Darüber hinaus ist er noch ein Geheimtipp.

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