Sarkis stellt in Baden-Baden aus: Das Gewicht der Farbe

Historische Traumata sind Thema des türkisch-französischen Künstlers Sarkis. Die Kunsthalle Baden-Baden zeigt ihn seit langem wieder in Deutschland.

Blick in Sarkis Ausstellung in Baden-Baden Foto: Stefan Altenburger/Photography Zürich. Courtesy Staatliche Kunsthalle Baden-Baden

Wenn ein Regenbogen am Himmel erscheint, ruft das ein Moment des Erstaunens hervor. Das Phänomen begleitet die Menschheit seit Tausenden von Jahren und hat sich auf unterschiedlichen Kontinenten mit unterschiedlichen Bedeutungen in die Kulturen eingeschrieben.

Jetzt überwölbt das Motiv die Ausstellung „7 Tage, 7 Nächte“ des türkisch-französischen Künstlers Sarkis in der Kunsthalle Baden-Baden. Die Wandarbeit aus farbigen Neon­röh­ren begrüßt das Publikum mit einer Geste der Versöhnung und des Neubeginns. Der 85-Jährige ist der bedeutendste in der Türkei geborene zeitgenössische Künstler. Er verließ Istanbul 1964 und lebt seitdem in Paris. 1969 nahm er an der legendären Schau „When Attitudes Become Form“ von Harald Szeemann in Bern teil. Damit wurde er zum Teil einer wegweisenden Avantgarde.

Er sei kein Künstler, der zu Humor oder Ironie neige, es ginge bei ihm immer um ernste Dinge, sagt Sarkis. Dennoch will der Konzeptkünstler sein Publikum für seine Sache gewinnen. Unter seinem Regenbogen im großen Saal der Kunsthalle Baden-Baden zeigt er eine raumgreifende Skulptur mit dem Titel „Atelier d’aquarelle dans l’eau“, die an eine lange, gedeckte Tafel erinnert. Es werden jedoch keine Speisen gereicht, sondern Farben und Pinsel. Gemalt wird in mit Wasser gefüllten Schüsseln – oder besser gesagt darin experimentiert.

Denn es geht nicht allein um ein Motiv, sondern auch um die Beobachtung der unterschiedlichen Schwere der Pigmente im Wasser. Eine meditative Studie des kleinen Unterschieds. In der gesamten Schau erklingt von Ferne eine Glockenspielmusik, die überall auf der Welt zu Hause sein könnte. Es handelt sich um „Litany for the Whale“ von John Cage.

Das Prozessuale steht im Mittelpunkt

Die Einfachheit dieser Inszenierung deutet eine subtile Komplexität an, die dem Kosmos von Joseph Beuys ähnelt. Für beide steht das Prozessuale im Mittelpunkt. Doch interessiert sich Sarkis weniger für die Natur als für die Kulturen, die Vermessung ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

„Sarkis. 7 Tage, 7 Nächte“: Kunsthalle Baden-Baden, bis 4. Februar

Wie Beuys entwickelte er eine eigene Begrifflichkeit. Die Bezeichnung „Kriegsschatz“ etwa versteht der Künstler als „Bewusstseinskatalysator“, der seine Haltung zur Präsentation von Museumsobjekten und Kunstwerken verändert hat. Oftmals gehen solche Drehpunkte seines Werks auf Erlebnisse zurück. Im Jahr 1976 hatte der Künstler im Ethnologischen Museum in Berlin die gleichförmige, völlig statische Inszenierung von Objekten unterschiedlicher Herkunft spontan als völlig unangemessen empfunden. Danach sollte keine seiner Ausstellungen mehr einer vorhergehenden gleichen. Er interpretierte seine Werke immer wieder neu.

Das gilt auch für die Schau in Baden-Baden. Er verwebt Aspekte der Malerei, der Skulptur, der Fotografie und der Musik. Das Bühnenhafte seiner mit Verweisen und Doppeldeutigkeiten gespickten Installationen gibt den Be­trach­te­r:in­nen Rätsel auf. Sie werden in ein Labyrinth von Bildern und Gedanken verstrickt, auch um die Frage, was Kunst leisten kann.

Das gilt im Besonderen für die Installation „7 Nächte“, die der Ausstellung ihren Namen gibt. Der Künstler, dessen Eltern 1915 dem Völkermord im damaligen Osmanischen Reich entkommen sind, verarbeitete mit diesem Werk eine Enttäuschung: Die Türkei zensierte einen seiner Kataloge aufgrund einer umstrittenen Formulierung einer Autorin.

Die Energie des Leids

Die Publikation, die anlässlich der Venedig-Biennale 2015 zu seiner Schau „Respiro“ im türkischen Pavillon erscheinen sollte, durfte nicht verkauft werden. Damit war die offizielle Anerkennung des 100 Jahre zurückliegenden Genozids an den Armeniern, einer christlichen Minderheit, abermals in weite Ferne gerückt.

Eine Hand hält einen Pinsel über einer Schüssel

Still aus: „Film No.120, d'après Caspar David Friedrich, Paysage Fluviale en Montagne“ von 2007 Foto: Sarkis; Courtesy Nathalie Obalia Gallery

Defne Ayas, damals verantwortliche Kuratorin des türkischen Pavillons und auch in der Kunsthalle Baden-Baden Teil des Teams, erinnert sich: „Das war eine Erschütterung, die wir nicht erwartet haben, aber auch eine Gelegenheit, diesen Schmerz vor Ort zu transformieren. Sarkis eignete sich den Vorfall an und schuf eine sargähnliche, altarähnliche goldene Box, einen ‚Leidschatz‘, wie er auch in Baden-Baden zu sehen ist. Darin platzierte er die aufgrund einer Randbemerkung verbotenen Bücher.“

In einer Zeit der Krisen weckt der Aspekt der Heilung in Sarkis Werk Interesse

Aby Warburg hatte aus kunsthistorischer Sicht vom „Leidschatz als Besitz der Menschheit“ gesprochen. Für Sarkis geht es um die Transformation von Traumata mithilfe der Kunst: „Der Umgang mit Leid bedeutet immer, eine Energie zu entwickeln, eine Form zu finden, um mit der Erinnerung und dem Leid umzugehen.“

Unter Leidbewältigung kann sich jeder etwas vorstellen. Den konzeptuellen Schachzügen des Künstlers ist nicht so leicht zu folgen. Das zeigt die bereits erwähnte Installations-Serie „7 Nachte“, in der er eine inhaltliche und eine konzeptuelle Ebene miteinander verbindet. Er verarbeitet die wieder aufgebrochene Wunde des tabuisierten Genozids, indem er den Begriff des Originals, eines Gemäldes etwa, infrage stellt.

Der Prozess der Leidverarbeitung, den Besuch einer Therapeutin, im Atelier verbrachte Nächte und die Herstellung eines Bildes montiert er zu einem Tableau. Das sogenannte Original fällt auf den Status eines Relikts zurück.

Die Rolle des Lehrers

In einer Zeit der Krisen dürfte der Aspekt der Heilung in seinem Werk auf Interesse stoßen. Doch geht es um Verdichtung eines Werks, das aber weiterhin atmen soll. Sarkis nimmt gerne die Rolle des Lehrers an. Er unterrichtete an Hochschulen in Straßburg und in Paris. Jetzt gibt er sein Wissen an ausgewählte Kuratoren weiter, wie er in einer Gesprächsrunde zu Protokoll gibt. Alle seiner rund 600 Ausstellungen habe er selbst eingerichtet. Das ginge nun nicht mehr. „Ich plane meine Zukunft“, konstatiert er. „Wenn ich nicht hier sein kann, was passiert dann mit meinem Werk? Für Baden-Baden habe ich nur ein wenig das Konzept angestoßen.“

Das Direktorenduo Çağla Ilk und Misal Adnan Yıldız plante die Schau mit Defne Ayas seit mehr als zwei Jahren. Damals war nicht abzusehen, dass Çağla Ilk den Deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig 2024 kuratieren würde. Seit einem halben Jahr wird gerätselt, was die studierte Architektin und einst am Berliner postmigrantischen Theater praktizierende Dramaturgin und Kuratorin wohl auf der renommiertesten Bühne für zeitgenössische Kunst zeigen würde. Aber klar sein dürfte, dass ihre kuratorische Perspektive in der Zusammenarbeit mit Sarkis eine Bestätigung gefunden hat, was sie im Gespräch bestätigt: „Für mich ist das Sarkis-Projekt eine wunderbare Vorbereitung für Venedig.“

Vielleicht werden Kinder dort eine Rolle spielen, die Sarkis als Vermittler zwischen Gegenwart und Zukunft versteht. In Baden-Baden hängen an zwei Stellen Trauben mit Kinderkostümen in fluoreszierenden Farben von der Decke, als würden sie auf ihren nächsten Einsatz warten. Sie stellen einen Querschnitt der Kindermode aus einem Jahrhundert dar und wurden von Kindern während einer Prozession durch eine Stadt in der französischen Provinz getragen. Der Erzähler Sarkis bedient sich der Augenblicke, der Momente, die das Potential eines Bild haben oder eines Films.

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