Justizreform in Israel: Unter Hochdruck

Das Oberste Gericht in Israel könnte den bereits verabschiedeten Teil der Justizreform wieder kippen. Wird es seine verbliebene Macht nutzen?

Ein Wasserwerferstrahl nässt einer Menge Demonstranten mit israelischen Flaggen

Tel Aviv, in der Nacht zum 25. Juli: Die Polizei richtet Wasserwerfer gegen De­mons­tran­t*in­nen Foto: Corinna Kern/reuters

BERLIN taz | Eigentlich sollte sie am Dienstag in Karlsruhe, der deutschen „Stadt des Rechts“, über die israelische Justiz sprechen. Doch kurzfristig musste Esther Hayut, Präsidentin von Israels Oberstem Gerichtshof, absagen. Zu dringlich sind die Aufgaben, die auf die Richterin und ihre Kolleg/innen an dem Jerusalemer Gericht nun zukommen. Im Gezerre um die von der rechtsreligiösen Regierung vorangetriebene Justizreform könnte dem Gericht eine ganz entscheidende Rolle zukommen.

Nachdem das Parlament in Jerusalem am Montag einen ersten Teil der Reform verabschiedet hatte, der das oberste Gericht in seinen Kompetenzen beschneidet, gingen wieder Zehntausende Menschen auf die Straße, um Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen. Die Ärztekammer rief am Dienstag einen Streik aus, und der mächtige Gewerkschaftsverband Histadrut drohte erneut mit einem Generalstreik. In Jerusalem und Tel Aviv war es in der Nacht zu Straßenblockaden und mehreren Dutzend Festnahmen gekommen.

Inmitten der Turbulenzen sind die Augen nun auf das oberste Gericht gerichtet: Nicht nur, weil dessen Richterinnen und Richter ein Stück Macht abgeben sollen, sondern vor allem, weil sie ihre verbliebene Macht nutzen könnten, um die Gesetzesänderung vom Montag wieder zu kippen. Das Parlament hatte die sogenannte Angemessenheitsklausel abgeschafft, die dem Gericht die Möglichkeit gab, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern als „unangemessen“ einzustufen, wenn sie nach Auffassung des Gerichts nicht im Interesse der Allgemeinheit sind.

Noch am Montag reichten mehrere Zivilgesellschaftsorganisationen, darunter das Movement for Quality Government (MQG), eine Petition beim obersten Gericht ein und forderten es auf, sich der Sache anzunehmen. Eine weitere Petition reichte am Dienstag die israelische Rechtsanwaltskammer ein. Auch Oppositionsführer Jair Lapid will das Gericht auffordern, tätig zu werden. Zunächst könnten Hayut und ihre Kolleg/innen die Gesetzesänderung nun einfrieren und damit den ersten Teilerfolg der Regierungskoalition unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vorerst kassieren.

Nochmal kippen wäre schwer vorstellbar

Die Argumentation der MQG-Petition zielt darauf ab, dass die Abschaffung der Angemessenheitsklausel gegen die Verfasstheit des Staats verstößt, weil der Schritt „grundlegend die Struktur der parlamentarischen Demokratie verändert“. Die Neuregelung beschädige „das empfindliche Gefüge der Gewaltenteilung und das System der gegenseitigen Kontrolle“ der Gewalten. Eine zweite Argumentationslinie läuft darauf hinaus, dass die Gesetzesänderung zu schnell durch das Parlament gebracht wurde.

Es geht nicht um ein einfaches Gesetz, sondern um die Änderung eines von Israels Grundgesetzen

Ob das oberste Gericht tatsächlich seinen eigenen Kompetenzbeschnitt rückgängig machen wird, weiß indes niemand. Israelische Medien zitierten am Dienstag Ex­per­t/in­nen mit unterschiedlichen Einschätzungen. Der Verfassungsrechtler Amir Fuchs gab sich optimistisch aufgrund „der Verletzung von drei entscheidenden Grundsätzen, die den Kern der demokratischen Identität Israels bilden: Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Reinheit von Wahlen“.

Der Rechtswissenschaftler Yoav Dotan von der Hebrew University in Jerusalem dagegen ließ sich mit den Worten zitieren, es sei „schwer vorstellbar“, dass das Gericht die Gesetzesänderung noch einmal kippt, weil die Hürden dafür sehr hoch seien.

Noch nie funkte der Oberste Gerichtshof dazwischen

Denn bei der Abstimmung am Montag ging es nicht um ein einfaches Gesetz, sondern um die Änderung eines von Israels Grundgesetzen, die eine Art Verfassung des Staates darstellen. In der 75-jährigen Geschichte Israels hat der sonst sehr aktive Oberste Gerichtshof noch nie bei der Verabschiedung oder Änderung eines Grundgesetzes dazwischengefunkt.

Während die Gesetzesänderung vom Montag lediglich einen Teil der Justizreform darstellt, ist ihre Bedeutung groß. Gleich mehrere israelische Zeitungen erschienen am Dienstag mit einer schwarzen Titelseite und den Worten „Ein schwarzer Tag für die israelische Demokratie“. Denn die Abschaffung der Klausel war nur die erste von mehreren geplanten Gesetzesänderungen, die alle darauf hinauslaufen, die Justiz zu schwächen und staatliche Institutionen stärker nach den Interessen der jeweils regierenden Kräfte auszurichten.

Kri­ti­ke­r/in­nen sorgen sich vor allem, dass der Wegfall der Angemessenheitsklausel die Grundlage schafft, um kritische Stimmen in Bezug auf weitere Reformen auszuschalten. Demnach könnte die Gesetzesänderung es erleichtern, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara zu entlassen, eine prominente Gegenspielerin Netanjahus und seiner rechten Koalitionspartner. Oppositionspolitiker Lapid warnt: „Sie werden in der Lage sein, alle Hüter der Rechtsstaatlichkeit zu entlassen und sie durch gehorsame und unterwürfige Marionetten zu ersetzen, von der Generalstaatsanwaltin an abwärts.“

Das Parlament geht kommende Woche in die Sommerpause. Ab Oktober will die Regierung weitere Teile der Justizreform vorantreiben, nachdem es zuletzt mehrere Änderungen nicht weiter verfolgt hatte – auch, weil der Widerstand aus der Bevölkerung zu groß war.

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