Grünen-Fraktionschef über Autoindustrie: „Nichtstun rettet keine Jobs“

Der Staat muss E-Mobilität stärker fördern, so Anton Hofreiter. Sein Vorschlag: eine Kommission zur Zukunft der Automobilindustrie.

Fraktionschef Anton Hofreiter in seinem Bundestagsbüro

Fraktionschef Anton Hofreiter in seinem Bundestagsbüro Foto: Christian Thiel

taz: Herr Hofreiter, viele Autozulieferer in Deutschland fürchten gerade um ihre Existenz. Warum sollte ein Arbeiter, der Getriebe für Verbrennungsmotoren herstellt, die Grünen wählen?

Anton Hofreiter: Es ist doch so: Entweder die Autoindustrie modernisiert sich und setzt konsequent auf Nullemissionstechnologie. Oder sie wird von der internationalen Konkurrenz überrollt, die massiv in Elektromobilität investiert.

Das hilft dem Arbeiter, der seinen Job behalten will, wenig.

Stimmt. Ich würde ihm sagen: Die Grünen wollen den sozialen und ökologischen Umbau der Autoindustrie aktiv gestalten – anders als Verkehrsminister Andreas Scheuer, der mit offenem Mund danebensteht. Wir möchten möglichst viele der 800.000 Jobs in der Autoindustrie retten, indem wir den nötigen Rahmen setzen. Nichtstun rettet keine Jobs. Im Gegenteil. Der Verbrennungsmotor samt seiner Technik, Kolben, aufwendigen Getrieben, wird überflüssig werden. Die betroffenen Firmen brauchen deshalb klare Ansagen und Unterstützung.

Wie wollen Sie helfen?

Der Staat muss die Voraussetzungen für die E-Mobilität schaffen, etwa die CO2-Grenzwerte durchsetzen, Elektrotankstellen fördern und die Forschung vorantreiben. Und der Staat sollte den Beschäftigten der Firmen, die den sozialökologischen Umbau bewältigen, auch finanziell unter die Arme greifen. Ein Transformationskurzarbeitergeld wäre eine gute Sache. Arbeitnehmer brauchen außerdem gerade in Zeiten großer Umbrüche ein Recht auf Weiterbildung, um sich neu zu qualifizieren. Mithilfe solcher Maßnahmen hätten die Firmen auch mehr Zeit, andere Geschäftsmodelle zu erschließen – ohne jemanden zu entlassen.

Einige Unternehmen werden trotzdem vom Markt verschwinden.

Diese Gefahr besteht immer, wenn große Technologiesprünge anstehen. So funktioniert der Kapitalismus leider. Wir sprechen zum Beispiel gerade intensiv mit der IG Metall darüber, wie man es schafft, dass niemand zurückgelassen wird. Klar ist: Wenn man die Umwälzungen einfach passieren lässt, ohne sie zu gestalten, wird es viel schlimmer.

Anton Hofreiter, 49 Jahre, führt seit 2013 gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt die grüne Bundestagsfraktion. Am Freitag erklärte er, im Herbst (wie Göring-Eckardt) erneut für den Fraktionsvorsitz kandidieren zu wollen. Hofreiter gehört seit 2005 dem Deutschen Bundestag an und war von 2011 bis 2013 Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.

Die Botschaft an den Arbeiter wäre also: Wir können dir Veränderung nicht ersparen, aber wir nehmen deine Sorgen ernst.

Genau. Die Grünen wollten immer schon die Welt retten, aber sie haben dabei manchmal legitime Ängste der Menschen aus dem Blick verloren. Wer den ökologischen Umbau vorantreibt, ohne die soziale Frage mitzudenken, wird scheitern. Diesen Gedanken haben wir in der Vergangenheit vernachlässigt.

Was war der größte Fehler?

Die Solar- und Windenergiebranche ist vor einigen Jahren sehr stark gewachsen. Dabei haben wir zu wenig darauf geachtet, dass es Betriebsräte in den Unternehmen gibt. Ein anderes Beispiel: Bei der Autoindustrie haben wir – auch ich – leidenschaftlich darüber gestritten, ab wann nur noch emissionsfreie Neuwagen zugelassen werden sollen. Für den Klimaschutz ist das eine elementare Frage. Die Debatte drehte sich aber vor allem um Jahreszahlen. Wir haben den Leuten dabei nicht ausreichend gesagt, dass wir selbstverständlich auch einen Plan für Arbeitsplätze, für ihre existenziellen Bedürfnisse haben. Das wurde erst später in den Mittelpunkt gerückt.

Welche Geschwindigkeit kann man der Gesellschaft bei Reformen zumuten? Die Klimakrise spitzt sich ja rasant zu, gleichzeitig überfordert zu viel Veränderung die Menschen.

Schwierige Frage. Objektiv stehen wir unter krassem Zeitdruck. Die Erd­er­wär­mung verläuft in Schüben, wir drohen ganze Ökosysteme zu verlieren. Wenn etwa die Permafrostböden auf der Nordhalbkugel auftauen, werden Massen von Methan freigesetzt, die die Klimakrise beschleunigen. Außerdem passieren derzeit mehrere Umbrüche gleichzeitig, die Klimakrise, die Globalisierung, die Digitalisierung, der demografische Wandel. Wir brauchen deshalb neue Formate des gesellschaftlichen Dialogs, um die Menschen mitzunehmen.

Runde Tische, die ohne großes Echo vor sich hin werkeln, gibt es doch schon genug.

Reden hilft – wenn die Richtigen miteinander reden. Die Kohlekommission hat Vertreter unterschiedlicher Gruppen an einen Tisch gebracht: betroffene Regionen, Unternehmen, Gewerkschaften, Umweltaktivisten. Sie haben diskutiert, gestritten und sich am Ende auf einen Weg verständigt. So ein Prozess hat eine befriedende Wirkung in der Gesellschaft. Ich kann mir eine ähnliche Kommission auch für die Autoindustrie gut vorstellen.

Wenn deutsche Firmen ökologisch produzieren, sind ihre Produkte teurer als die der internationalen Konkurrenz. Was tun Sie dagegen?

Mich hat im Ruhrgebiet mal ein Stahlarbeiter angesprochen. Er sagte: Ich habe Kinder, ich finde es richtig, etwas gegen den Klimawandel zu tun. Aber wenn ich meinen Job verliere, weil wir stattdessen schmutzig produzierten Stahl aus China importieren, ist keinem geholfen – weder meinen Kindern noch dem Klima.

Der Mann hat recht.

Ja. Wir müssen die Globalisierung endlich fair gestalten und europäische Unternehmen, die sich an Standards halten, vor Dumping schützen. Darum brauchen wir Klimazölle. Ausländische Firmen, die ihre Produkte schmutzig, also mit hohem CO2-Ausstoß herstellen, müssten dann einen Ausgleich zahlen, wenn sie auf dem europäischen Markt verkaufen wollen. In den USA sind Tausende Wissenschaftler und Nobelpreisträger für solche Zölle, selbst deutsche Stahlunternehmen sind dafür, weil sie Wettbewerb auf Augenhöhe wollen. Gleiches gilt für Produkte, bei deren Herstellung Menschen- und Arbeitnehmerrechte massiv verletzt worden sind. Da braucht es soziale Strafzölle.

Das klingt verdächtig nach Protektionismus, oder?

Nein. Das ist fairer Handel. Klima- und Sozialzölle sind ja an klare Bedingungen geknüpft, ihr Ziel ist es, sich selbst überflüssig zu machen. Ausländische Firmen müssten ihre Produktion klima- und arbeitnehmerfreundlich umstellen, dann könnten sie zollfrei in die EU exportieren. Die Sozialdemokratie war lange erfolgreich damit, den Kapitalismus sozial verträglich zu gestalten. Dieses Modell ist tot. Heute müssen wir den Kapitalismus sozialökologisch zähmen.

Herr Hofreiter, Sie schildern eine Utopie. Glauben Sie ernsthaft, dass sich die EU so hart mit China anlegen würde?

Wer sonst? Die EU ist einer der weltweit wichtigsten Märkte, auch für China. Sie erhebt bereits Antidumpingzölle auf Produkte, die in den Herkunftsstaaten unzulässig subventioniert werden. Da gibt es Anknüpfungspunkte. Außerdem entwickelt sich weltweit eine schlagkräftige Bewegung für Klimaschutz in der Zivilgesellschaft, siehe Fridays for Future. Ich wäre deshalb nicht so pessimistisch.

Auch mit der Union, Ihrem künftigen Koalitionspartner, ist ein weitgehender Umbau der Marktwirtschaft nicht zu machen.

CDU und CSU handeln opportunistisch, wenn sie Druck aus der Indus­trie, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft kriegen. Denken Sie daran, wie Kanzlerin Merkel die deutschen Atomkraftwerke nach Fukushima abschaltete. Übrigens ist es ja nicht gottgegeben, wie die nächste Koalition ausschaut …

… ich wollte mich gerade wundern, dass Sie in puncto Schwarz-Grün gar nicht widersprechen.

Tue ich jetzt. Politik funktioniert doch so: Erst hast du eine gute Idee, dann stellst du in der Gesellschaft Mehrheiten her – und dann bekommst du auch eine politische Mehrheit. Wir Grünen wollen sozialökologische Politik gestalten, die der Größe der Herausforderungen entspricht. Darum kämpfen wir für progressive Mehrheiten in der Gesellschaft.

Grünen-Wähler kaufen Biogemüse, fliegen aber gerne – und versauen sich mit ihrem Städtetrip nach Barcelona die Ökobilanz. Warum sagen Sie Ihren Leuten eigentlich nicht, dass sie Verzicht üben müssen?

Da gibt es das schöne Zitat aus Friedrich Dürrenmatts Theaterstück „Die Physiker“: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Man rettet die Welt letztendlich nicht allein durch individuelles Verhalten. Jeder, der persönlich einen Beitrag zum Umweltschutz leistet und die Gesellschaft voranbringt, trägt etwas bei. Aber wir müssen an die Strukturen ran. Das heißt: den Zugverkehr ausbauen und den Flugverkehr klimaneutral machen, etwa durch regeneratives Kerosin, das mit erneuerbaren Energien produziert wird. Aus Erdöl hergestelltes Kerosin sollte dagegen besteuert werden.

Haben Sie vielleicht einfach Angst vor Ihren reiselustigen WählerInnen?

Ich bin ein großer Fan von politischen Maßnahmen – und halte nichts davon, den Einzelnen moralisch zu überfordern. Ein Beispiel: Der Fleischkonsum ist in Deutschland in den vergangenen Jahren von 64 Kilo pro Kopf und Jahr auf 60 Kilo gesunken. Die industrielle Landwirtschaft wurde trotzdem nicht verändert, weil die Große Koalition untätig blieb – und das Fleisch dann eben exportiert wird.

Prominente Grüne werden in so­zia­len Netzwerken scharf für Langstreckenflüge in den Urlaub kritisiert. Schadet so ein Verhalten der Glaubwürdigkeit Ihrer Partei?

Ich finde, nicht.

Früher hieß es bei den Grünen: Das Private ist politisch.

Da ging es um die Frauenbewegung! Entscheidend ist, was man fordert. Wir fordern, dass unsere Mobilität sauberer wird – und nicht, dass kein Mensch mehr fliegen oder Auto fahren soll.

Sie klingen insgesamt sehr optimistisch. Glauben Sie, dass der westliche Lebensstil für alle auf der Welt möglich ist – mit umweltfreundlichen Technologien?

Das gute Leben für alle ist möglich, ohne die Welt zu zerstören. Ich bin Technikoptimist. Vor gar nicht allzu langer Zeit hieß es, die Atomkraft sei unersetzbar. Es hieß, die Photovoltaik sei unbezahlbar und Elektroautos würden an der begrenzten Batteriekapazität scheitern. Heute sind Atomkraftwerke unwirtschaftlich, Photovoltaik ist die günstigste Form, Strom zu erzeugen, und E-Autos fahren 400 Kilometer weit. Man darf nur nicht naiv denken, der Markt würde es allein schon richten. Die Politik muss sich trauen, das neue Denken gegen alte Machtstrukturen durchzusetzen.

Wird das klappen – oder geht die Welt unter?

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir den sozialökologische Umbau schaffen. Die Welt geht nicht unter.

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