Berliner Schriftsteller Klaus Kordon: „Talent ist Interesse“

Ein Pionier des modernen Kinder- und Jugendbuchs wird 80. Klaus Kordon über Literatur, die Eckkneipe seiner Mutter und Verhöre im Stasi-Gefängnis.

Porträt von Klaus Kordon, Brille kurzer heller Bart, in der Wohnung vor Wand mit Kinderbuchpostern und Stadtplan

Autor Klaus Kordon in seiner Wohnung in Berlin Foto: Eva-Christina Meier

taz: Herr Kordon, zu Ihrem 70. Geburtstag sagten Sie: „Jetzt ist Schluss mit Historie.“ Damals beendeten Sie gerade Ihren Roman „Joss oder der Preis der Freiheit“. Er handelt von einem 16-jährigen Bauernsohn zur Zeit der Leipziger Völkerschlacht. Doch 2021 veröffentlichten Sie das Jugendbuch „Und alles neu macht der Mai“ über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Wirklich Schluss war dann also doch nicht?

Klaus Kordon: Na ja, manchmal sagt man, jetzt ist Schluss. Aber dann habe ich an die Familie meiner Frau gedacht und was sie erlebt hat. Die mussten damals als Flüchtlinge weg. Man hat ja manchmal von der Stunde null gesprochen, aber es gab keine Stunde null. Das waren dieselben Menschen, die haben zum Teil mitgemacht oder waren Mitläufer oder haben sich geduckt. Und wie war das gerade für junge Leute, die plötzlich feststellen müssen, wie alles Lüge, alles falsch war, und furchtbare Verbrechen geschehen sind? Da hab ich mich doch noch mal hingesetzt und wirklich den letzten Roman über die deutsche Geschichte geschrieben.

geb. am 21. 9. 1943 in Berlin-Pankow, wächst nach dem Tod der Mutter 1956 im Heim auf. Studiert Volkswirtschaft in der DDR. 1972 misslingt der Fluchtversuch. Er kommt für ein Jahr ins Stasigefängnis Ho­hen­schönhausen. 1973 wird er von der BRD freigekauft und arbeitet zunächst als Exportkaufmann. Lebt heute in Berlin-Steglitz. Ab 1977 veröffentlicht der Kinder- und Jugendbuchautor u. a. „Brüder wie Freunde“, „Trilogie der Wendepunkte des 20. Jahrhunderts“ („Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter“, „Mit dem Rücken zur Wand“, „Der erste Frühling“), die „Jacobi-Saga“ („1848. Die Geschichte von Jette und Frieder“, „Fünf Finger hat die Hand“, „Im Spin­nen­netz. Die Geschichte von David und Anna“), „Krokodil im Nacken“, „Und alles neu macht der Mai“.

Ein Jahr später, im Februar 2022, beginnt in Europa der Krieg gegen die Ukraine, der Ihren Romanen eine überraschende Aktualität beschert. In Büchern wie „Und alles neu macht der Mai“ erzählen Sie von den Menschen, die Kriege und krisenhafte Momente in der Geschichte erlebt haben. Was fasziniert Sie als Schriftsteller an dieser Thematik?

Ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich es einfach kapieren will. Mein Großvater ist im Ersten Weltkrieg gefallen und mein Vater ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Ich bin 1943 geboren. Als der Krieg vorbei war, war ich anderthalb Jahre alt. Berlin war eine Ruinenwüste. Und immer, wenn irgendetwas geschah oder erzählt wurde, dann hatte das mit dem Krieg zu tun. Mit Großvater und Vater in einer heilen Stadt Berlin, da hätte ich eine andere Kindheit gehabt. Ich wollte immer wissen, was da passiert ist. Brecht hat mal gesagt, Talent ist Interesse. Das kann man bei mir wirklich sagen, mein Interesse an dieser Zeit ist einfach da. Und wahrscheinlich habe ich deshalb auch das Talent, mich in diese Zeit hineinzubegeben.

Wie haben Sie sich den historischen Stoffen angenähert?

Klaus Kordon, Schriftsteller

„Ich habe Menschen getroffen, die den Ersten Weltkrieg und die Revolution bewusst erlebt hatten“

Heutzutage könnte ich natürlich anders recherchieren. Aber ich wusste, da gibt’s jede Menge Historiker, die darüber geschrieben haben, aus den verschiedensten politischen Richtungen. Das ist wichtig, dass man nicht nur in eine Richtung schaut. Doch 1980 gab es auch eine Menge Leute, die noch erzählen konnten. Für „Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter“, das erste Buch dieser Trilogie der Wendepunkte, habe ich Menschen getroffen, die den Ersten Weltkrieg und die Revolution bewusst erlebt hatten – die zum Teil dafür waren, zum Teil dagegen.

Sie sind in Berlin-Prenzlauer Berg aufgewachsen, in der Raumerstraße Ecke Prenzlauer Allee. Ihre Mutter hatte dort eine Kneipe. Wie war das für Sie?

Ja, die Kneipe war meine erste Universität. Man muss sich vorstellen, die Kneipen in der Nachkriegszeit waren voll. Es war nicht viel Geld da, aber die Menschen haben immer getrunken. Viele Frauen waren durch den Krieg allein geblieben. Die wollten auch nicht zu Hause rumsitzen. Fernsehen gab’s noch nicht. Es war fast immer gerammelt voll. Da mein Vater im Krieg gefallen war, hat meine Mutter die Kneipe allein betrieben, mit drei Söhnen. Ich war der jüngste. Manchmal hab ich Bier gezapft und dann beim Stammtisch gesessen. Da waren die unterschiedlichsten Leute. Bei uns im selben Haus, auf der anderen Seite des Hauseingangs, war eine Schneiderwerkstatt. Der Schneider war ein Jude, der sich drei Jahre im Keller versteckt hatte. Der hat auch am Stammtisch gesessen. Der brauchte gar nicht die Schuhe anzuziehen, wenn er zu uns kommen wollte. Und der Schuhladenbesitzer. Da wussten alle, das war ein SA-Mann gewesen. Die beiden haben am selben Tisch gesessen. Der eine hat sein Leid verdrängt und der andere sein schlechtes Gewissen, wenn er eins hatte.

In der Erstausgabe von „Die roten Matrosen“ fiel mir auf, dass Ihr Leben in der DDR in den Autorenangaben gar nicht erwähnt wird. Warum?

Als ich 1973 im Westen ankam, wusste ich, jetzt wirst du versuchen zu schreiben. Da habe ich gedacht, wenn du jetzt sagst, du kommst aus dem Osten, hast im Gefängnis gesessen, dann wird alles daran aufgezogen. Das wollte ich nicht. Später, als dann die Mauer gefallen war und weitere Bücher erschienen sind, da konnte ich es gar nicht mehr verbergen, wollte es auch nicht. Hinzu kam, dass ich wusste, irgendwann will ich über diese Zeit schreiben.

2001 ist Ihr biografischer Roman „Krokodil im Nacken“ erschienen. Warum brauchte es so viele Jahre, um über die Erfahrungen in der DDR, Ihre gescheiterte Flucht und die anschließende Haft in Hohenschönhausen zu schreiben?

Als ich Ende der 1980er Jahre dachte, ich könnte mich an das Thema wagen, fiel die Mauer. Alles war wieder ganz frisch. Ich konnte meine Zelle, in der ich damals gesessen habe, wieder betreten. Das musste ich sinken lassen. 1989, 90, 91 – das wäre zu früh gewesen. Aber Ende der 1990er Jahre habe ich das Thema aufgegriffen.

Sind Sie mit „Krokodil im Nacken“ 2001 auf Lesereise gegangen?

Ja, auch im Osten. Da gab es natürlich immer Leute, die mir applaudiert haben, weil sie Ähnliches erlebt haben oder weil ich ein bisschen das getroffen habe, was sie empfunden haben. Aber natürlich gab es auch andere Reaktionen. Ich habe mal irgendwo in Brandenburg in einer Abiturklasse aus dem „Krokodil“ gelesen. Dann sagte die Lehrerin hinterher: „Na ja, man kann die DDR auch ganz anders sehen.“ Da habe ich gesagt: „Man kann sie sehen, wie man will. Nur, was ich da geschrieben habe, war eben so, das kann man nicht anders sehen, das war so.“

Das ehemalige Gefängnis Hohenschönhausen ist inzwischen eine Gedenkstätte. Die Archive der Stasi sind ebenfalls zugänglich. Warum fällt es einigen Menschen trotzdem so schwer, das Regime der DDR als Diktatur zu bezeichnen?

Das steckt wohl leider in den Köpfen von vielen – dieses Beharren: Früher war aber nicht alles schlecht. Ich habe doch damals gelebt und habe da auch schöne Zeiten erlebt. Ich war jung und verliebt. Wir waren in den Ferien und haben im Meer gebadet … Es ist so, dass Menschen in allen Zeiten Ecken finden, in denen sie es sich gemütlich machen können. Aber was ist denn ein Rechtsstaat und was ist ein Unrechtsstaat? Als ich damals verhaftet wurde, war ich bereit, alles auszusagen, aber mit einem Rechtsanwalt. Das habe ich meinem Vernehmer gesagt. Der hat mich ausgelacht. „Sie haben wohl zu viel amerikanische Filme gesehen. Bei uns sehen Sie erst dann einen Rechtsanwalt, wenn wir mit Ihnen fertig sind.“ „Dann sage ich nicht aus.“ „Gut, dann kommen Sie jetzt in Ihre Zelle zurück, und wenn Sie vernünftig geworden sind und kooperieren wollen, können wir ja nochmal reden.“ Man sitzt dann in seiner Einzelzelle, 14 Tage, drei Wochen, und irgendwann sagt man sich, die sitzen am längeren Hebel.

Nach Ihrer Ausreise aus der DDR haben Sie zunächst weiter als Exportkaufmann gearbeitet. Wann entschlossen Sie sich, ausschließlich Schriftsteller zu sein?

Ich bin 1973 in den Westen gekommen, und 1977 lag mein erstes Buch vor. Damit hatte ich Blut geleckt und habe das nächste Buch und noch eins und noch eins geschrieben. Anfang der 80er Jahre gab es schon vier, fünf Bücher von mir, alle nicht sehr dick, nicht sehr umfangreich, aber eben doch vier, fünf Titel. Da habe ich mit meiner Frau überlegt, was machen wir jetzt? Sie wusste natürlich, dass ich gerne schreibe, und meine Frau arbeitete wegen der Kinder nur halbtags. Das hat ihr nicht so gepasst. Dann haben wir gedacht, wir probieren es aus. Und mein Verleger hat gesagt: „Du schaffst es.“

Das war damals Hans-Joachim Gelberg?

Ja, das war Jochen Gelberg. Meine Frau war auch froh, jetzt wieder voll zu arbeiten. Ich blieb ganztags zu Hause und habe nur noch geschrieben.

Wenn man Ihre Kindheit betrachtet, dann überrascht der spätere Lebensweg.

Ich glaube, dass ich eigentlich von Anfang an in eine künstlerische Richtung tendiert habe. Natürlich denkt man nicht daran, Schriftsteller zu werden, aber ich habe als Kind unwahrscheinlich viel gelesen, oftmals bis nachts um zwölf. Es war alles nicht so einfach damals, aber die Bücher und die Autoren, die sie geschrieben haben, die haben mich ein bisschen gerettet. Denn die Leute, die in der Kneipe verkehrt haben, das waren nicht alles Leute, die man so ins Herz schließen konnte. Ich bin auch viel ins Kino gegangen und weiß noch, wie ich als Kind „Fahrraddiebe“ von Vittorio De Sica gesehen habe, einen neorealistischen Film aus Italien. Da muss ich acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Warum hat mich gerade dieser Film, der das wahre Leben gezeigt hat, so sehr bewegt? Das ist eben das berühmte Interesse: Wie leben die Menschen?

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