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Wenn Medien über Suizid berichten, fügen sie meist ein Hinweis auf die Telefonseelsorge ein. Doch die bieten oft keine ausreichende Hilfe für Menschen in akuten Krisen

Bei Unfällen kann man die 112 wählen. Für Suizidgefährdete gibt es so eine Nummer noch nicht Foto: Hannes Jung/laif

Von Shoko Bethke

Wer journalistisch arbeitet, trägt die Verantwortung, vorsichtig über Suizid zu berichten und abzuwägen, ob überhaupt berichtet werden soll. Der Pressekodex schreibt vor, auf Nennung des Namens, auf Fotos und die genaue Tatbeschreibung zu verzichten.

Denn mediale Berichterstattung über Suizid animiert andere zur Nachahmung, die Methode oder der Ort gleicht oft dem der in den Medien. Nach der Veröffentlichung der Fernsehreihe „Tod eines Schülers“ gab es etwa Suizide mit der gleichen Methode. In Japan führte der Suizid des Schauspielers Haruma Miura im Sommer 2020 zu prominenten Suiziden mit der gleichen Todesursache.

Trotzdem wird in den Medien über Suizid berichtet, etwa bei Personen des öffentlichen Lebens oder bei besonders gravierenden Umständen. Bei Artikeln über Suizid ist am Ende des Textes oft ein Hinweis auf ein Hilfsangebot für Le­se­r:in­nen eingefügt. Dieser Hinweis sieht in vielen deutschen Medien recht ähnlich aus. Die taz, tagesschau, Spiegel Online, Süddeutsche Zeitung oder Welt ergänzen die Nummer der bundeseinheitlichen Telefonseelsorge: „Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter http://www.telefonseelsorge.de“.

Diese Nummer ist in den meisten Fällen der einzige Hinweis auf eine Hilfestelle bei Suizidgedanken. Von der Le­se­r:in­nen­sei­te wird das kritisiert. Erst Anfang April bekam die taz Post von einer Person, die es als „fahrlässig“ bezeichnete, die Nummer als Hilfsoption anzugeben. Sie habe in den vergangenen fünf Jahren mehrmals vergeblich angerufen. Das Angebot sei keine gute Hilfe für Betroffene. Charlotte Riedel, die eigentlich anders heißt, sieht die Auflistung der Telefonseelsorge ebenfalls kritisch. „Ich hatte auch schöne Gespräche. Wenn ich jemanden hatte, mit dem ich sprechen konnte, hat es den Schmerz etwas gelindert“, sagt sie der taz. Doch bis sie jemanden an der Leitung hatte, dauerte es. Riedel nimmt die Seelsorge seit etwa sieben Jahren in Anspruch, bis zu fünfmal im Jahr. „Ich hatte Depressionen, keine konkreten Suizidabsichten, aber durchaus das Gefühl, nicht weiterleben zu wollen“, sagt sie. Wenn sie sich in dieser akut bedürftigen Lage befand, musste sie die Nummer der Seelsorge jedoch mehrmals wählen, bis sich jemand ihrer Probleme annahm. Ein Kraftakt, den nicht alle mit Depressionen leisten können.

In einem Beitrag der taz erklärte der Vorsitzende der Telefonseelsorge, dass ihre Kapazitäten nicht ausreichen würden. Allein im Jahr 2023 15 Millionen Anrufe und 1,1 Millionen Gespräche. Viele An­ru­fe­r:in­nen würden aufgefordert, es später nochmal zu versuchen.

Auf eine taz-Anfrage dazu erklärte Ulrike Mai von der Telefonseelsorge, dass der Gesprächsbedarf sehr hoch sei. „Die Menschen, die uns erreichen, bekommen die Zeit, die sie für ihre jeweilige Lage brauchen. Das heißt aber auch, dass die Leitungen häufig besetzt sind und wir keine Angabe dazu machen können, wie lange es dauert, bis eine freie Leitung verfügbar ist“, erklärt Mai.

Die Telefonseelsorge bietet andere Hilfsangebote, etwa Termine via Chat- und Mail, doch dafür ist eine Anmeldung notwendig und wird nur je nach Kapazität von Ehrenamtlichen durchgeführt. Riedel habe es aus diesen Gründen nie in Anspruch genommen: „Wenn ich depressiv bin, habe ich nicht die Energie, jemandem zu schreiben und auf eine Antwort zu warten. Du weißt ja gar nicht, wann sie sich zurückmelden.“

Zudem ist das Problem bei der Telefonseelsorge nicht allein mangelnde Erreichbarkeit. Insbesondere die inhaltliche Kompetenz ist bei schwer depressiven oder gar suizidgefährdeten Menschen von hoher Relevanz. Denn die Telefonseelsorge besteht nicht aus professionell ausgebildeten Psy­cho­the­ra­peu­t:in­nen oder Fachärzt:innen. Stattdessen arbeiten dort 300 Festangestellte und über 7.700 Ehrenamtliche. Gewiss sind Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Telefonseelsorge geschult, doch ihre Ausbildung beträgt 120 Stunden. Dies entspricht einer Ausbildungszeit von drei Wochen bei einer täglich achtstündigen Einführung.

Wer sich also mit expliziten Suizidgedanken an die Seelsorge wendet, in der Hoffnung, eine psychologisch professionelle Hilfe zu erhalten, landet nicht direkt an der richtigen Stelle. Dabei muss bei Anrufen mit akuten suizidalen Gedanken unmittelbar gehandelt werden. In Deutschland allein begehen jährlich mehr als 10.000 Menschen Suizid, es sterben dreimal so viele wie durch Verkehrsunfälle. Die Zahl der Suizidversuche wird auf 15- bis 20-mal höher geschätzt – so viele, als begehe ganz Heidelberg oder ganz Potsdam einmal im Jahr einen Suizidversuch.

Wenn akute Suizidgedanken bestehen, ist es zu spät für eine ehrenamtliche Seelsorge: Dann muss die Krankheit genauso behandelt werden wie ein kritischer Unfall, entsprechend sollte auch die Nummer des Notarztes gewählt werden. Ulrich Hegerl, Professor und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, erklärt der taz, dass es bislang keine zentrale Nummer für Suizidalität gibt, die auch von Medien anstelle der Telefonseelsorge aufgelistet werden könnte. Er ist überzeugt, dass die Telefonseelsorge „für viele Menschen in Not ein sehr wichtiges erstes, niederschwelliges Hilfsangebot“ sei. Allerdings sei es nicht ihre Aufgabe, akut gefährdete Menschen zu behandeln: „Menschen mit Depressionen, anderen psychischen Erkrankungen oder drängenden Suizidgedanken sollten sich möglichst rasch an den Hausarzt, einen niedergelassenen Psychiater in Wohnortnähe, einen psychologischen Psychotherapeuten oder an eine psychiatrische Klinikambulanz wenden“, sagt er. Das sei der schnellste Weg, um rasche Hilfe zu erhalten, eine Diagnose gestellt und Leitlinienkonform behandelt zu werden.

Dass die Telefonseelsorge als Hilfsoption aufgelistet wird, hält Mai von der Telefonseelsorge für sinnvoll. Allerdings plädiert sie auch dafür, dass daneben auch andere Anlaufstellen aufgelistet werden. Gleichzeitig sei dies aber auch mit Komplikationen verbunden: „So ist die 112 bundesweit 24/7 erreichbar, aber nicht anonym und von einigen Menschen in suizidalen Krisen gegebenenfalls unerwünscht, weil die Angst groß ist, dann in eine Psychiatrie eingewiesen zu werden“, sagt Mai. Trotz Optionen wie Krisendiensten, die es in einigen Bundesländern gibt, sei es „für die Medien tatsächlich schwierig, Alternativen zu nennen“.

Der Idee einer zentralen Nummer für Suizidalität, wie von Hegerl erwähnt, will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nachgehen. Anfang Mai kündigte er die „Nationale Suizidpräventionsstrategie“ an, die im Laufe der nächsten Monate in ein Gesetz münden soll. Es soll neben der Einrichtung von Beratungs- und Kooperationsstellen und Schulungen auch eine zentrale Kriesendienst-Notrufnummer eingerichtet werden. Ähnlich wie die 110 an die Polizei oder 112 an den Rettungsdienst verbindet, soll die neue Nummer speziell Fachkräfte erreichen, die in Thema Suizidprävention geschult sind. Bis die Nummer allerdings in Kraft tritt, wird es noch eine Weile dauern.

Allein im Jahr 2023 gab es 15 Millionen Anrufe bei der Telefonseelsorge

Bis dahin brauchen Medien einen neuen Umgang mit Hilfsangeboten. Auf einem Instagrambeitrag zur Entstehung von Depression fügte das Süddeutsche Zeitung Magazin Anfang April einen Hinweistext hinzu: „Wenn Sie den Verdacht haben, an Depression zu leiden, ist das Gespräch mit einem Arzt oder Psychotherapeuten unverzichtbar. In Notfällen wenden Sie sich bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder einen Krisendienst (Adressen finden Sie zum Beispiel unter www.deutsche-depressionshilfe.de) – oder direkt an den Notarzt unter der Telefonnummer 112.“

Auf Nachfrage der taz bestätigte das Magazin jedoch, dass es bei Themen, die Suizid behandeln, auch üblich sei, die Nummer der Telefonseelsorge aufzulisten.

Spiegel Online geht auf ihrer Webseite einen Schritt weiter als andere Medien und stellt einen Link parat, der zu einer Liste verschiedener Hilfsangebote führt: Neben der Telefonseelsorge listet sie auch ein muslimisches Seelsorgetelefon und den Hinweis auf ein persönliches Gespräch etwa mit Psy­cho­lo­g:in­nen oder Krankenhäusern auf. Diese Methode könnte als Vorbild für andere Medienhäuser dienen: Eine Webseite einzurichten, die verschiedene Hilfsangebote auf mehreren Sprachen für verschiedene mentale Stadien und bietet.

Allen voran sollte die Notrufnummer stehen. Ferner gibt es diverse Hilfsangebote wie die der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sowie die Arche und MANO Suizidprävention. Für Beratung für Kinder, Jugendliche und Eltern gibt es den Verein Nummer gegen Kummer. Ist eine solche Webseite einmal eingerichtet, kann der Link in sämtliche Artikel, die Suizid thematisieren, eingefügt und bei Bedarf aktualisiert werden. Und sobald die von Lauterbach geforderte zentrale Suizidpräventionsnummer steht, kann diese auf der Liste über der Notrufnummer stehen.