„Woyzeck“-Inszenierungen im Norden: Das Stück der Stunde

Auf etlichen Bühnen kommt derzeit Georg Büchners „Woyzeck“ zur Premiere. Was erzählt diese heikle Hauptfigur über unsere offenbar unsicheren Zeiten?

Ein Schauspieler zieht eine Schauspielerin gewaltsam über eine verrauchte Bühne.

Zwischen Operetten- und Gruselkabinettfigur: Woyzek in Ayla Yeginers Hildesheimer Inszenierung Foto: Tim Müller

Böse ist die Welt und voller schlechter Menschen: Thea­ter­ma­che­r:in­nen im Norden blicken derzeit vielfach in eine düster verwirrende Zukunft. Vielleicht deshalb wird „Woyzeck“ zum Stück der Saison. Mit grotesken Figuren findet Autor Georg Büchner darin zu einem Ausdruck für den Wahnsinn einer haltlos selbstzerstörerischen Gesellschaft.

Im Zentrum leidet der Protagonist an der feindlichen, chaotischen, brutalen Umwelt, wird in pseudowissenschaftlichen Experimenten physisch ruiniert, vom Militär unterjocht, von der Gesellschaft verhöhnt und selbst von der Freundin Marie noch betrogen. Keine Chance bekommt er im Kampf um ein bisschen Stolz und Lebensglück, bleibt völlig haltlos in das absurde Dasein verstrickt und in seine immer gleich ausweglos kreiselnden Gedanken-, bedrohlichen Fantasie- und ungeheuerlichen Erinnerungssplitter.

Zehn Re­gis­seu­r:in­nen bringen das Drama bald oder wieder auf norddeutsche Bühnen: In Celle, Wilhelmshaven und Oldenburg hebt sich noch im Herbst der Vorhang für neue Produktionen; Wiederaufnahmen gibt es in Hamburg, Lübeck, Göttingen. In Wolfsburg wurde bereits Premiere gefeiert, in Hildesheim sogar schon zweimal – und eine dritte Fassung, die „Woyzeck“ in Yamila Khodrs Choreografie zum Tanzen bringt, wird dort ab dem 21. Januar zu sehen sein.

Sehr viel Gleiches also, einerseits. Aber höchst unterschiedlich fallen die Antworten auf die entscheidende Frage aus: Ist Woyzeck, wenn er Marie am Ende ersticht, ein Fall für die Psychiatrie, ein herzloser Mörder, als geknechtete Kreatur vor allem Opfer seiner prekären Lebensumstände – oder von allem ein bisschen?

Unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage

Regisseur Ersan Mondtag startete Mitte September den Premieren-Reigen mit einem Anti-„Woyzeck“ in Wolfsburg: Laut Text rast er hirnwütig fiebernd und äußerlich gehetzt durchs Stück. Im ­Scharoun-Theater nun plantscht Maximilian Diehles Woyzeck aber in völlig spannungsloser Ruhe mit den Füßen in einem Teich. Hinter ihm wallt Nebel durch einen idyllisch mondbeschienenen Nadelwald – belebt von ein paar Campern.

Ausnahmslos Männer spielen hier Büchner. Gerrit Jansen beispielsweise Marie, die mit zärtlicher Bestimmtheit auch den stummen Sohn alleinerziehend bemuttert und mit Woyzeck ein liebevoll sensibles Kuschelpaar abgibt. Ungemütlich ist die Jahrmarktszene des Stücks, in der Woyzeck als viehischer Mensch erniedrigend vorgeführt, dann in den Teich gestoßen und zusammengeschlagen wird vom Sinnbild toxischer Männlichkeit, dem Tambourmajor. Marie aber, von dessen Macho-Physis allzu fasziniert, lässt sich betören.

Die Männerclique auf der Bühne repräsentiert mit deutlich fixierten Hierarchien unsere patriarchal geprägte Gesellschaft, die den Schwächsten gern zur chauvinistischen Selbstvergewisserung ihren Außenseiterstatus einprügelt. Die Regie behauptet, das Männlichkeitsgehabe des Kollektivs habe die größere Schuld am finalen Mord, nicht das ihn ausführende Individuum. Gezeigt wird aber nicht, dass dieses Verhalten den sanften Träumer Woyzeck zum Killer mutieren lässt. Er blickt chronisch weltentrückt unter einer Jesus-Mähne hervor und hat vielleicht einfach genug von dieser Trantütigkeit.

Provoziert wird dabei die Frage, ob es eine gute Idee ist, Männergewalt gegen Frauen als Gewalt unter Männern zu zeigen. Das nimmt dem Stück die traurig aktuelle Brisanz: Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin umzubringen, davon erzählen Polizeistatistiken; und jeden dritten Tag gelingt das einem Mann.

Genau da setzt Ayla Yeginers Inszenierung in Hildesheim an: Zwischen Operetten- und Gruselkabinettfiguren ist Woyzeck bei ihr überfordert in seiner devoten Dienstbarkeit. Eine historische und politische Verortung seiner Quälgeister und seiner selbst spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Eine hinzuerfundene „Idiotin“ bringt mimisch immerhin etwas Mitleid für die Hauptfigur ins Spiel. Marie (Nina Carolin) ist die typisch frustrierte Freundin, die sich vom Tambourmajor nun sogar im Wortsinne abschleppen lässt. Woyzeck (Paul Hofmann) schubst ihn dann um und rast mit gezücktem Messer hinter Marie her, nimmt sie in den Würgegriff, ritzt sie zu Tode. Ein heißblütiger Mord aus verletzter männlicher Eitelkeit, Rache oder Eifersucht. Zweifelsfrei ist dieser Schauspiel-Woyzeck ein ohne Relativierung zu verurteilender Täter.

Eine Marie im roten Lackledermantel

Freundlicher geht Regisseur Amit Epstein mit ihm um in der ebenfalls Hildesheimer Musicalproduktion, während angeraut popmilde Rocksongs des Hamburger Komponisten Manuel de Rien aus dem Graben flüstern. Wo Woyzeck draufsteht ist auch Woyzeck drin, jedenfalls steht sein Name auf dem Körper von Samuel Jonathan Bertz.

Der gibt den geschlagenen Hund, kriecht im Kreis und malt mit Worten die hoffnungslos verdorrte Atmosphäre. Alle Personen sprechen vor allem Englisch. Nur Woyzeck zelebriert die kraftvolle Büchner-Poesie unerschrocken in Deutsch. Die dadurch installierte Sprachbarriere soll wohl die verständigungslose Ferne zeigen zwischen Woyzeck und seiner sozialen Umwelt – und gleich noch die Klassenfrage stellen.

Woyzeck (Schauspiel, mit türkischen Obertiteln):

Di, 7. 11., Hildesheim; Do, 16. 11, Lehrte; Mo, 20. 11., Hildesheim; Do, 23. 11., Peine; Di, 28. 11., Uelzen; weitere Vorstellungen im Dezember und Januar

Woyzeck (Punk-Rock-Musical nach dem gleichnamigen Dramenfragment):

Do, 30. 11. + Fr, 22. 12., Hildesheim, weitere Vorstellungen 2024

Weitere „Woyzeck“-Premieren an norddeutschen Theatern: Fr, 10. 11., CelleSa, 18. 11., WilhelmshavenFr, 24. 11., Oldenburg

Marie (Katharina Wollmann)zeigt mit rotem Lackledermantel über rotem Trainingsanzug, dass hier die Triebe lodern. „Ich will Spaß“, sagt sie, bezeichnet den Kraftkerl Tambourmajor als „really hot guy“ und beginnt lustvoll zu tanzen. Klar, was kommt. Es dauert dann allerdings eine halbe Stunde, in der expressionistische Lyrik verrockt werden muss, bis Woyzeck Maries Lebensgeister auslöscht. Bertz wütet dabei nicht wie ein frauenhassender Killer, sondern ist ein in den Wahnsinn abdriftender Mensch von ganz unten, durchaus angefeuert von Mehrheitsbürgern, die als besoffene Partytiere grölen.

„Wie könnte ich gut sein, wenn die ganze Menschheit schlecht ist“, so formuliert Woyzeck seine fragwürdige Moral, mit der sich Marie nicht zufrieden gibt. Sie schüttelt noch mal die Leichenstarre aus dem Körper und erinnert daran, dass am Ende der Geschichte mal wieder eine tote Frau auf der Bühne liegt.

Schauspielerisch top ist die dramaturgisch gescheiterte, inzwischen ans Berliner Ensemble weitergereichte Wolfsburger Inszenierung. Die beiden Hildesheimer Produktionen sind da eher wenig überzeugend. Yeginers Schauspiel-Inszenierung überzeugt aber in ihrer Klarheit, die Geschichte des Klassikers gewinnt dramatische Gestalt und die Schüler:innen-Massen im Publikum – „Woyzeck“ ist Abiturthema 2024 – erfahren alles Grundlegende zum Stück.

Dagegen krankt der Musiktheater-„Woyzeck“ daran, dass die Musicalausbildung der Haupt­dar­stel­le­r:in­nen die tiefenscharfe Durchdringung der Figuren – aber auch dem rockigen Gesang – im Wege stehen. Die noch mit Bibelzitaten aufgeplusterte Textfassung von Intendant Oliver Graf ist wenig hilfreich. Dafür überzeugt der anregend widersprüchliche Schluss.

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