Ukraine-Krieg und Belarus: Die dunkle belarussische Seele

Er sei „Orwellianer“, sagt der belarussische Künstler Sergey Shabohin über sich. Seine vom Ukraine-Krieg geprägten Werke zeigt er nun in Berlin.

Sergey Shabohin im Kvost in Berlin

Sergey Shabohin bei der Ausstellung im Kunstverein Kvost in Berlin. Sie läuft bis zum 30. Dezember Foto: Bernd Borchardt

Berlin taz Sergey Shabohin zeigt auf zwei Regale. Doch darin stehen keine gewöhnlichen Bücher. Die zehn Bände belarussischer Literatur sind aus Holz, grau lackiert und schwarz beschriftet – eine neue Arbeit des belarussischen Künstlers namens „Čornaja žoŭć“ (dt. Melancholie). Die Serie, die in der Ausstellung „All the Dots Connected Form an Open Space Within“ im Kunstverein KVOST zu sehen sind, trägt den Titel ­„Atlas tektonischer Landschaften“.

„Der Beginn der russischen Invasion in der Ukraine 2022 war ein großer Schock. Für mich war es der vierte, wenn man die Annexion der Krim, die Pandemie und die Proteste in Belarus 2020 mitzählt. Damals habe ich mit einem neuen Arbeitszyklus begonnen. Es geht darum, die Neuaufteilung der Welt am Beispiel unserer Region neu zu denken“, sagt Shabohin. 2020 waren in Belarus Zehntausende monatelang auf die Straßen gegangen, um gegen die gefälschte Präsidentenwahl am 9. August zu protestieren.

Historisch gesehen ist die gesamte belarussische Literatur auf Traurigkeit, Tragödie und Schmerz aufgebaut. Entsprechend lauten die Namen der Bände: „Trauer zerstört“, „Der Nebel ist stickig“, „Leiden unterdrückt“, „Die Sorge nagt“, „Übelkeit packt“…, erzählt Shabohin. Die Belarussen würden sehr subtil die Schattierungen der dunklen Seite der Seele unterscheiden. Schattierungen von Schmerz. Dies werde „schwarze Galle“ genannt und sei eine Übersetzung aus dem Griechischen.

Politische Utopie, Dystopie und gesellschaftliche Prozesse

Der 1984 geborene Künstler wurde 1984 geboren und bezeichnet dieses Jahr als „orwellianisch“. Die Themen politische Utopie, Dystopie und gesellschaftliche Prozesse nehmen in seinen Werken einen zentralen Platz ein.

Sergey Shabohin, Kunstwerk

Eine von mehreren Collagen von Sergey Shabohin über die ukrainische Stadt Mariupol Foto: Sergey Shabohin

Zu Shabohins Arbeiten gehören auch Collagen. Sie bestehen aus Zeitungsausschnitten und Postkarten. Ein Pressefoto der zerstörten südukrainischen Stadt Mariupol ist mit einer Postkarte kombiniert, die eine Landschaft mit einem Sonnenuntergang zeigt. Das Motiv stammt von Archip Kuindschi (1841–1910). Er wurde in Mariupol geboren und vor allem durch seine Landschaftsmalereien bekannt. Besonders bei den Romantikern sei jede Landschaft politisch, erläutert Shabohin. Kuindschi habe die ukrainische Landschaft Mariupols gemalt, weil er dort gelebt habe.

Künstler im Exil seit 2016

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Die Annexion der Krim 2014 war ein Schock. Eine Freundschaft zwischen Russland, der Ukraine und Belarus auf Augenhöhe, das ist eine Illusion“, sagt Shabohin und erzählt von einem Hügel an der Kreuzung der drei Grenzen dieser drei Länder. Das Monument wird „Hügel der Freundschaft“ oder auch „Drei Schwestern“ genannt. Zu diesem Ort gibt es ein Video von Shabohin, das er in einem Wandbild verarbeitet hat.

„Ich habe diesen Hügel als Kuchen dargestellt, der dritte Teil wurde abgeschnitten und beiseite geschoben“, erklärt der Künstler. Welches Land hier als abgeschnittener Teil dargestellt werde, sei nicht festgelegt. Dies sei Abbild der Tatsache, dass diese Schwesternschaft nicht existiere, nicht mehr existieren könne.

2016 ging der Künstler nach Polen. Die schmerzhafte Entscheidung, sein Land zu verlassen, treibt ihn um. Ihr ist eine ganze Reihe von Arbeiten gewidmet. Seit 2020 ist Sergey Shabohin nicht mehr nach Belarus gereist. Mittlerweile hat er ein großes Archiv angelegt, der Titel lautet „sozialer Marmor“.

Als belarussische Sicherheitskräfte die Demonstranten auf den zentralen Straßen von Minsk auseinander getrieben hatten, habe es so ausgesehen, als hätten die Menschen resigniert. Dies sei aber nicht der Fall gewesen.

Archiv des belarussischen Widerstands
Sergey Shabohin, belarussischer Künstler

„Russlands Annexion der Krim 2014 war ein Schock“

„In diesem Moment habe ich beschlossen, diese Stimmen und Hoffnungen zu bewahren. 20 Tage lang saß ich vor einer Wand, die aus Sperrholz bestand und mit einer Folie mit einem Marmorbild bedeckt war. Dabei handelte es sich um eine Art Folie (meistens in China hergestellt), mit dem die belarussischen Behörden unauslöschliche Graffiti auf sowjetischem Marmor in der Minsker U-Bahn angebracht hatten. Für mich ist dies ein Symbol der belarussischen Regierung, die auf einem Fundament aus sowjetischem Marmor, Zensur und dem Einsatz von Fälschungen basiert“, sagt Shabohin.

Dann passierte Folgendes: Shabohin saß 20 Tage lang an einem Tisch im Haus der Statistik, im Zentrum von Berlin. Hinter ihm befand sich eine Wandinstallation, die er selbst gemacht hatte und die mit derselben chinesischen Folie bedeckt war. Jeden Tag sprach er mit Menschen aus Belarus und über Belarus. Er zeichnete diese Interviews auf, druckte Fragmente davon auf Papier und klebte die Dokumente an die Wand. „Nach und nach ist die Wand zu einem Gesamtarchiv des belarussischen Widerstands geworden. Ich möchte diese Informationen als Katalog veröffentlichen“, sagt Shabohin.

Georgien und die Ukraine, die bei dieser Ausstellung vertreten sind, waren physischen Angriffen Russlands ausgesetzt. In Belarus gab es keine direkte Invasion, aber tatsächlich sind wir seit langer Zeit stillschweigend vom russischen Imperialismus besetzt. Deshalb stelle ich in der Ausstellung die belarussische Seite anhand der Geschichte der zerstörten Mythenbildung der Schwesternschaft und des Aspekts der Depression und Melancholie – dieser „schwarzen Galle“, die unser Land erlebt – vor.

Ist Shabohin traurig? „Natürlich, sehr sogar. Seit drei Jahren habe ich meine Eltern nicht mehr umarmt. Die engsten Verwandten und Freunde nicht sehen zu können, das übersteigt meine moralischen und geistigen Möglichkeiten.“

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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