Türkisches Museum für moderne Kunst: Transparente Fischschuppen

Das Museum Istanbul Modern feiert seine Wiedereröffnung. Der Renzo-Piano-Bau soll auch politisch ein Zeichen setzen.

Ein modernes, rechteckiges Gebäude mit großen Fensterfronten. Dahinter lässt sich das Meer erahnen.

Mit seiner neuen Architektur sendet das Istanbul Modern ein Signal aus der liberalen Türkei Foto: Cemal Emden

„Road to Tate Modern“. So heißt ein Video der kurdischen Künstler Şener Özmen und Erkan Özgen aus dem Jahr 2013. In dem Streifen sieht man die beiden in der Manier von Cervantes’ Klassiker „Don Quijote“ auf Eseln durch den steinigen Südosten der Türkei reisen – auf der nie endenden Suche nach dem Heiligen Gral der Kunstwelt. Eine großartige Metapher auf die Kunstwelt, aber auch auf die Perspektive der Peripherie auf das ästhetische Versprechen des Westens.

Ganz so weit müssten die beiden, sollten sie sich heute noch einmal auf den Weg machen, nicht mehr reisen. Denn in Istanbul, nur ein paar Stunden von ihrer Heimat entfernt, hat nun ein Haus wieder eröffnet, das es mit dem Londoner Kunsttempel aufnehmen kann.

Istanbul Modern heißt das Museum, das nach vier Jahren Bauzeit am Dienstag an der Promenade des hippen Stadtteils Karaköy seine Türen öffnete. Die Feier geriet zum Lebenszeichen der Hälfte des Landes, die nach dem erneuten Wahlsieg ihres autoritären Dauerpotentaten Recep Tayyip Erdoğan in depressive Schockstarre verfallen war. Hat die Moderne etwa noch eine Chance am Bosporus?

Wer sich die Eröffnungsausstellung in dem markanten Bau des Genueser Architekten Renzo Piano anschaut, wird das unbedingt bejahen. Trifft er dort doch auf ein zwei mal drei Meter großes Gemälde von Nejad Melih Devrim: ein Gewirr geometrischer Felder in kräftigen dunklen Tönen von Ocker bis Violett. Eine chromatische Kaskade aus Rhythmus und Farbe ohne den leisesten naturalistischen Anklang.

Kein Renommierprojekt

Das Werk des 1923 geborenen Malers gilt als das erste abstrakte Werk der modernen türkischen Kunst, es ­entstand 1947–1949. Das Signum der Moderne, das gemeinhin allein mit dem Westen identifiziert wird, hat seine eigene türkische Geschichte. Zum Glück ist das Haus, in dem es zu sehen ist, keines der bei Museumsneubauten üblichen, spektakulären Renommierprojekte geworden; keines, mit dem sich seine Betreiber, die Industriellenfamilie Eczacıbaşı, oder der mittlerweile 85 Jahre alte Architekt ein Denkmal setzen wollten.

Wie das alte ist auch das neue Istanbul Modern ein moderates Rechteck geblieben. Wo bislang ein klobiger Betonblock mit einer schnöden Gitterrampe stand, zieht sich an der Uferpromenade nun ein dreistöckiger, eleganter Bau entlang, der sich mit großen Glasfronten dem gegenüberliegenden Tophane-Park und auf der anderen Seite dem Marmarameer öffnet.

Die Fassade des neuen Istanbul Modern besteht aus 3-D-geformten Aluminiumplatten, die im wechselnden Sonnenlicht eine irisierende Hülle bilden und an Fischschuppen erinnern. Der ganze Komplex strahlt ein Gefühl von Transparenz, Zugänglichkeit und Helligkeit aus.

Blick über eine Terrasse und ein Wasserbecken im Sonnenuntergang

Die Aussichtsterrasse des Museums mit Wasser­becken und Rundblick über Istanbul und den Bosporus Foto: Cemal Emden

Eine Extravaganz erlaubte sich der Architekt: Eine einzigartige Aussichtsterrasse an der Spitze des Gebäudes schwebt über einem flachen Wasserbecken. Es bedeckt das gesamte Dach und eröffnet einen Rundblick auf die Stadt und den Bosporus.

Dauerausstellung mit Kunst von 1945 bis heute

Renzo Piano hatte gemeinsam mit Richard Rogers das Centre Pompidou entworfen, das 1977 eröffnete. Es war der Eindruck dieses ikonischen, maschinenartigen Baus mitten im 4. Pariser Arrondissement, der das Unternehmerehepaar Bülent und Oya Eczacıbaşı, Chefs des gleichnamigen Pharmakonzerns, zu Beginn der 2000er Jahre bewog, in Istanbul ein Pendant errichten zu lassen.

Als Nukleus diente eines der schäbigen Antrepo-Warenhäuser. In denen fand 2003 die 8. Istanbul-Biennale statt, die von der Istanbul Stiftung für Kunst und Kultur (İKSV) ausgerichtet wird und ebenfalls vom Eczacıbaşı-Clan betrieben wird.

Erdbebensicher ist der 45-Millionen-Neubau durch ein neuartiges Braced-Frame-System. Seine Betonwände sind mit diagonalen Stahlstreben abgesichert, die sich durch das ganze Haus ziehen und deren Gelenke maximale Amplituden puffern können: Das Gebäude bleibt selbst dann stehen, wenn seine Mauern einstürzen.

Auch inhaltlich hat Piano das Haus nicht komplett neu erfunden. Die Dauerausstellung folgt wie bisher der Chronologie von 1945 bis heute. Sie ist so umfangreich wie nie zuvor. Insgesamt 280 Werke von 110 Künst­le­r:in­nen zeichnen den Weg der türkischen Gegenwartskunst nach.

Informationen zum Museum Istanbul Modern finden Sie unter: www.istanbulmodern.org

Ein Signal aus der liberalen Türkei

Unter den Highlights dieser „Floating Islands“ betitelten Schau findet sich neben den Werken Nejad Devrims mit „The Headless Woman or the Belly Dance“ der 1938 geborenen Künstlerin Nil Yalter die erste türkische Videoarbeit überhaupt. Auf ihren eigenen stetig kreisenden Unterleib – im Hintergrund läuft Bauchtanzmusik – hat die Künstlerin einen orientalismuskritischen Text aufgetragen.

Der Parcours endet mit Refik Anadols Arbeit „Infinity Room Bosphorus“. In seiner Installation zeigt der 1985 geborene Medienkünstler, der mit seinen KI-Bildern gerade die US-Kunstszene in den Bann schlägt, Echtzeit-Umweltdaten des Bosporus.

Sich in „Zeiten der Not“ Trost und Stärkung in der Kunst zu suchen, rät Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu

Das Museum an einem der herausgehobenen Plätze der Weltstadt Istanbul sendet mit seiner neuen Architektur ein Signal aus der liberalen Türkei. Dass es mit „Always Here“ eine seiner fünf Eröffnungsausstellungen türkischen Gegenwartskünstlerinnen widmet, lässt sich für die AKP-Türkei, die die Istanbul-Konvention aufkündigte und regelmäßig Demonstrationen zum Weltfrauentag im März mit Polizeigewalt unterbindet, als weiteres kalkuliertes Zeichen lesen.

„Always Here“ eröffnet programmatisch mit der aus recyceltem, besticktem Textil geschaffenen Arbeit „Against the Current“ der Künstlerin Güneş Terkol aus dem Jahr 2013, dem Jahr der Gezi-Proteste. Darauf ist eine Gruppe Frauen zu sehen, die mit Plakaten für ihre Rechte protestieren.

Selbst Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu ließ es sich nicht nehmen, sanft Richtung Ankara zu sticheln. Wer in „Zeiten der Not“ Trost und Stärkung suche, sagte der Politiker der oppositionellen CH-Partei des Staatsgründers Atatürk in seiner umjubelten Ansprache, solle sich auf den Weg zur Kunst machen.

So beschwerlich und aussichtslos wie der von Şener Özmen und Erkan Özgen in „The Road to Tate Modern“ ist dieser Weg jetzt nicht mehr. Ihr Video gehört inzwischen zur Sammlung des Istanbul Modern.

Transparenzhinweis: Die Re­cher­chen wurden vom Museum Istanbul Modern unterstützt

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.