Neuerscheinungen zu Liberalismus: Freiheit und frei sein

Es wird viel über Freiheit und Zwang diskutiert. Oft schwingt ein falsch verstandener Liberalismus mit. Zwei Bücher dazu helfen weiter.

Freiheitsstatue in einem Garten in Rumänien

Welcher Liberalismus – der des Wohlfahrtsstaates oder des Gartenzaunes Foto: Rene Zieger/Ostkreuz

Frei bin ich in meinem Verbrenner auf der A 100, prahlen die einen. Frei bin ich gerade ohne Besitz, sei es Porsche, sei es Reihenhaus, beharren die anderen. Wirklich frei kann ich nur sein in einer gerechten Gesellschaft, verkomplizieren Dritte.

Je­de*r redet von Freiheit, der Liberalismus ist in aller Munde. Im Westen saugen wir ihn seit über 200 Jahren – seit Immanuel Kant und John Stuart Mill – auf mit der Muttermilch. Gerade deswegen fällt es uns heute so schwer, die Frage zu beantworten: Was ist Liberalismus eigentlich? Klar, liberal sein hat etwas mit Freiheit zu tun und Freiheit ist schon mal gut. Aber wie weiter?

In ihrem kürzlich erschienenen Suhrkamp-Band „Was ist Liberalismus?“ leistet die Philosophin Elif Özmen genau die wertvolle Definitionsarbeit, auf die es jetzt ankommt.

Libertärverwirrte Verschwörungssympathisanten

Samuel Moyn: „Liberalism against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times“. Yale University Press, Yale 2023, 229 Seiten, 28,40 Euro

Elif Özmen: „Was ist Liberalismus?“ Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 208 Seiten, 18 Euro

Das irgendwie freiheitliche Spektrum umfasst heute alles, von libertärverwirrten Verschwörungssympathisanten am rechten Rand, deren autoritäres Gehabe ihr Gerede über die Freiheit konterkariert, bis hin zu eher linken Weltverbesserern, die zwar auch von Freiheit schwärmen, aber gelegentlich offen lassen, ob sie nicht im Zweifelsfall ihre Mit­bür­ge­r*in­nen zu diesem Glück zwingen würden. Wäre das dann überhaupt noch Freiheit?

Auch historisch lässt sich die liberale Tradition kaum auf ein einziges Schlagwort bringen: Zum Liberalismus gehören Monarchieanbeter wie Thomas Hobbes, Vernuftverliebte wie Immanuel Kant und Protolibertäre wie Karl Popper. Auch Karl Marx lag Freiheit – die Freiheit der ausgebeuteten Klasse – am Herzen. Hier haben wir gleich mehrere verfeindete Philosophen versammelt – was könnte die noch einen?

Özmen, Professorin für praktische Philosophie in Gießen, versucht gar nicht, eine strikte Definition zu basteln. Sie beruft sich auf eine alte Wittgenstein-Idee: Wo wir keine einzige Gemeinsamkeit finden können, da lässt sich nur über „Familienähnlichkeiten“ sprechen. Özmen stellt für den Liberalismus-Begriff mehrere solcher Ähnlichkeiten fest: Hobbes und Kant haben die gleiche Mundpartie, den Individualismus – der Mensch selbst legitimiert seine politische Ordnung. Jeder einzelne muss ihr zustimmen, damit aus einer ungerechten Gewaltherrschaft ein liberaler Staat wird.

Marx, Mill, Hobbes und Popper

Mill und Marx wiederum haben eine ähnliche Augenfarbe: Sie verurteilen existierende Ungleichheiten, sei es die Ungleichheit von Mann und Frau (Mill) oder ungleiches Privateigentum an Produk­tionsmitteln (Marx). Schließlich teilen sich Hobbes, Mill und Popper eine gemeinsame Nase: Staatliche Gewalt muss begrenzt werden, um persönlichen Freiraum zu schaffen.

Özmen nennt das „trio liberale“: Die Familienähnlichkeiten, die den Liberalismus ausmachen, das sind Individualismus, Gleichheit und Freiheit. Und wie es in jeder Familie auch Verwandte ohne familientypische Merkmale gibt, so geht es in der liberalen Tradition auch mal ohne Gleichheit, mal ohne Individualismus. Ohne Freiheit geht es kaum, allerdings kann man den Freiheitsbegriff sehr unterschiedlich ausbuchstabieren.

Um den guten Liberalismus abzugrenzen von unliebsamen Verwandten, lohnt sich ein Blick zurück ins 20. Jahrhundert, wie Samuel Moyn ihn wirft in seinem neuen Buch „Liberalism Against Itself“. Der Rechtshistoriker Moyn lehrt in Yale, er hat zahlreiche Bücher geschrieben über Menschenrechte, Krieg und internationale Politik.

Ihr aller Schaffen gründet sich auf einer Angst: dass die Freiheit der Tyrannei weichen könnte

Diesmal hat er eine Wutrede verfasst gegen die liberalen Denker des Kalten Krieges wie den Oxford-Theoretiker Isaiah Berlin und die Harvard-Politologin Judith Shklar; er teilt aber auch aus gegen die Libertären Karl Popper und Friedrich Hayek, gegen Hannah Arendt, gegen­ die christlich-konservative Historikerin Gertrude Himmelfarb, sowie den eher unbekannten Freud-Freund Lionel Trilling. Es wird ein Rundumschlag.

Freiheit und Tyrannei

Ihr aller Schaffen gründet sich auf einer Angst: Dass die Freiheit der Tyrannei weichen könnte. Alle emigrierten sie aus dem dunklen Europa in die noch freie Welt. Judith Shklar etwa war gerade elf Jahre alt, als ihre Flucht begann: zunächst aus Riga vor der Roten Armee nach Stockholm, zurück in die Sowjetunion, um der Wehrmacht zu entkommen, mit gefälschten Pässen in der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Japan, interniert in Seattle in einem Lager für „illegale orientalische Einwanderer“, und schließlich nach Montreal. Später wird Shklar die erste Professorin im Government Department in Harvard.

Ihre eigene Fluchterfahrung prägt ihr Denken, sie sucht nach einem Bollwerk gegen den Totalitarismus. Doch wie alle in Moyns Buch nimmt sie dafür nicht den solide gemauerten Wohlfahrtsstaat, sondern den privaten Gartenzaun, der besonders das persönliche Eigentum beschützen soll. Den Liberalen des Kalten Krieges konnte der Staat kaum klein genug sein. Alles, was hinauswuchs über den sprichwörtlichen Nachtwächterstaat, das verwuchere notwendigerweise zu Faschismus oder Stalinismus. So zumindest karikiert Moyn die liberale Tradition des letzten Jahrhunderts.

Wenigstens in einem hat er recht: Der wahre Liberalismus muss sich klar abgrenzen von einem blinden Libertarismus, der die willkürliche Freiheit – alle dürfen möglichst tun, was ihnen gerade so einfällt, dürfen sich nicht impfen lassen und das Klima kippen – auf Händen trägt, dann aber keine Hand mehr frei hat für soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt und zukunftsgewandte Vernunft.

Aus Sorge, den Liberalismus so nach unten abzugrenzen, wagt Moyn sich zu weit nach oben. Dabei schmilzt ihm jene pluralistische Haltung, die sonst den Liberalismus erst beflügelt. Moyn sehnt sich zurück zu den Romantikern, die, als der Liberalismus noch jung war, nicht nur die Architektur des Staates entwarfen, sondern auch eine enge Vorstellung hatten, wie ein gelingendes Leben aussehen muss.

Zeitmaschine in die Romantik

Für diese Romantiker waren moralische und intellektuelle Selbstverwirklichung unabdinglich für das gute Leben – das findet auch Moyn. Er würde uns gerne in einer Zeitmaschine zurückschicken in einen dieser Berliner Salons, in denen man gepflegt Tee trank, detailliert den neuesten Schleiermacher-Essay erörterte und später andächtig dem Cembalogeklimpere der Gastgeberin lauschte.

Gott sei Dank für den pluralistischen Liberalismus, der solche weit ins Privatleben hineinreichende Zielvorgaben nicht mehr kennt! Ein liberaler Staat heute, sagt auch Özmen, erlaubt allen, „sich über alle möglichen Gegenstände und Tatsachen vielfältige, abweichende und auch falsche Meinungen“ zu bilden. Schleiermacher mag brillant sein, wir dürfen ihn aber auch verabscheuen.

Doch Pluralismus heißt nicht „anything goes“. Ein liberaler Staat darf durchaus Tempolimits einführen, denn sein normatives Vokabular erschöpft sich nicht mit dem Freiheitsbegriff. Das Rasen mag ein Verständnis von Freiheit antreiben – das können wir den Stumpflibertären zugestehen.

Aber Gleichheit gegenüber anderen und gegenüber Zukünftigen wird dadurch nicht erreicht. Im Begriff der Gleichheit – ja auch ein Mitglied von Özmens „trio liberale“ – schlummert also noch liberales Argumentationspotenzial. Der Raser mag frei sein, liberal ist er nicht.

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