Klimaprotest: Ein Dorf ist komplett verschwunden

Vor einem Jahr begann die Räumung von Lützerath. Es kam zu heftigen Zusammenstößen. Polizei und Klimaaktivist*in­nen ziehen nun Bilanz.

Demonstranten stehen der Polizei in Lützerath gegenüber. Der Energiekonzern RWE will die unter Lützerath liegende Kohle abbaggern - dafür soll der Weiler auf dem Gebiet der Stadt Erkelenz am Braunkohletagebau Garzweiler II abgerissen werden.

An den Protesten gegen die Räumung von Lützerath vor einem Jahr beteiligten sich Zehntausende teil Foto: Federico Gambarini/dpa

AACHEN taz | Ein Jahr ist es her, dass im rheinischen Braunkohleterrain Garzweiler die große Demonstration stattfand am damals berühmtesten Dorf Deutschlands: Lützerath. An die 40.000 Menschen liefen am 14. Januar 2023 bis vor die hermetisch abgeriegelte Festung. Dort hatte drei Tage vorher die Räumung mit fast 4.000 Polizeikräften begonnen.

Nach tagelangem Dauerregen war es eine der matschigsten Demonstrationen der jüngeren deutschen Geschichte. Hunderte, auch Polizeibeamte, waren auf den Feldern immer wieder im tiefen Schlamm stecken geblieben, manche hatten zwischenzeitlich ihre Schuhe verloren. Po­li­zis­t*in­nen fielen um und krabbelten wie Maikäfer umher. Es war ein groteskes Chaos.

Als einige hundert Kohlegegner*innen, laut Polizei 5.000, den letzten halben Kilometer nach Lützerath durchzubrechen versuchten, wurden die Maikäfer rabiat: Wasserwerfer, Reiterstaffeln, Gummiknüppelgewalt. Erfolgreich. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) diagnostizierte damals „linksradikale Umsturzpläne“, heute spricht er von „radikalen Klimachaoten“.

Eine 30-köpfige Ermittlungskommission der Polizei Aachen zog jetzt Bilanz: 600 Straftaten seien von 467 mutmaßlichen TäterInnen begangen worden, ein Viertel davon sei aufgeklärt – also drei Viertel nicht. Bislang gab es genau einen rechtskräftigen Strafbefehl.

Polizei ermittelt gegen Schlammmönch

Auch der „Schlammmönch von Lützerath“ (Rheinische Post) sei endlich identifiziert, so die Polizei. Der Mann in der Franziskanerkutte schien wie mit Gottes Hilfe über dem Schlamm zu schweben, statt einzubrechen und hatte dabei, so der Tatvorwurf der RP, „feststeckende Polizisten absichtlich umgeworfen und verhöhnt“. Man kann sich das, empört oder belustigt, auf Youtube angucken. Dort ging das Video viral.

Vielleicht aber war es wirklich ein Gottesmann auf Rettungsmission der Schöpfung. Oder eine als Mönch verkleidete Nonne? Jetzt läuft ein Rechtshilfeersuchen mit Frankreich, wo der angebliche Mönch angeblich lebt.

Nach anderen möglichen Straftätern sucht die Polizei seit dem Sommer auch mit Fahndungsbildern: „Wer kennt diesen Mann?“, heißt es da. Zu sehen sind Menschen, oft sehr grobkörnig, manche mit Pudelmütze oder gleich vermummt. Bis Anfang Januar kamen immer neue Fotos – zwölf insgesamt; die örtlichen Medien veröffentlichten pflichtschuldig. Vorwurf: „Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Landfriedensbruch“. Mutmaßlich identifiziert wurden zwei der zwölf, teilt die Polizei jetzt mit.

Kaum Verfahren gegen die Polizei

Und die vielfache, unverhältnismäßige Polizeigewalt? 32 Strafverfahren gegen Polizeibeamte habe es gegeben, mehrheitlich wegen Körperverletzung im Amt. 21 dieser Verfahren hat die Staatsanwaltschaft schon eingestellt. Zwei Fälle sind gerichtsanhängig.

Am 15. Januar waren die letzten der gut 500 BesetzerInnen vertrieben, zwei junge Männer hatten sich in einem Tunnelsystem vergraben und hielten noch zwei Tage länger durch, bis sie gegen freies Geleit aufgaben. Am 19. Januar war das letzte Haus abgerissen, der letzte Baum gerodet. Bagger frei.

Wenige Wochen später war Lützerath verschwunden, im Frühjahr auch das Kundgebungsgelände von 14. Januar, wo unter anderen die berühmte Klimaaktivistin Greta Thunberg gesprochen hatte. Die benachbarte Straße samt allen Bäumen und sieben Windkraftanlagen verschwand im Sommer im Schredder, beim Altmetallhändler, in Schreinereien oder in der Tiefe.

Kraterlandschaft

Kohle holt RWE hier nicht mehr raus, es geht ausschließlich um Abraum, um die teils senkrechten Tagebaukanten ringsherum in den nächsten Jahren abzuflachen. Dieser Abraum ist einer der besten Mutterböden Deutschlands.

Das verbrannte Innere der riesigen Braunkohlegruben schwebt längst zu Millionen Tonnen CO2 und Feinstaub klimameuchelnd durch die Atmosphäre. Seenlandschaften sollen entstehen, bis 2070 oder 2100. Und drumherum? Vieles steht als Absichtserklärung der NRW-Regierung in der Leitentscheidung vom September: Gewerbegebiete vor allem, neuer Straßenasphalt. Anrainergemeinden beklagen überall, dass es für sie zu wenige lokale Handlungsmöglichkeiten gebe. Von klimaschützenden Projekten wie Radfernwegen oder Biotopverbünde, etwa die Vernetzung der Restwälder, ganz zu schweigen.

Sechs Siedlungen sollen entgegen früheren Plänen nicht abgegraben werden, aber einer (Manheim neben dem Hambi) steht noch auf der Vernichtungsliste. Die letzten Bewohner kämpfen gegen die Enteignung. Hier wird massenhaft Kies gefördert, mit dem Kohle-Bergrecht.

Es gibt weiter Proteste

Die geretteten Orte sollen zu „Zukunftsdörfern“ werden. Nur, wie kann man die teils heruntergerockten Weiler wiederbeleben? Abriss, Neubesiedlung? Alles Neuland. Unklar ist vor allem, was mit denen wird, die ihre Häuser zurückkaufen wollen. Sie werden zunächst in Listen erfasst. Und dann? Die Federführung der Landesregierung hat CDU-Bauministerin Ina Scharrenbach. Das ist dieselbe Frau, die 2018 für die rechtswidrige Räumung des Hambacher Walds den fehlenden Brandschutz der Baumhäuser als Vorwand erfunden hatte.

Die Kohlegräber von RWE Power konzentrieren sich mit den Milliardengewinnen aus Kohleverbrennung derweil auf ihren Umstieg auf Erneuerbare. Und auf die lukrative Vermarktung der Grundstücke in den weitgehend leeren Siedlungen und den Ländereien drumherum.

Ein bisschen lebt auch Lützi weiter. BesetzerInnen haben vereinzelt Stofftiere gerettet, die zu Hunderten als Wächter an der Kante saßen. Oder den überlebensgroßen Pappmaschee-Ministerpräsidenten, der gleich am ersten Räumungstag kopfüber im Unrat landete: „Laschet bleibt jeck wie eh und je.“ Oder das gelbe Straßenschild „Weg der Radikalisierung“.

Widerstand gegen RWE

Die Mahnwache am Ortsrand von Lützerath, fast drei Jahre lang Koordinationsstelle des Widerstands, ist umgezogen nach Wanlo, vier Kilometer nördlich. „Der physische Ort ist nicht mehr da“, heißt es in ihrer Erklärung, „aber was Lützerath ausmacht, sind WIR. Und wir leisten weiterhin Widerstand gegen RWE.“ Immer Samstagnachmittag gibt es Austausch bei Kaffee und Kuchen. Eine Forderung der Unermütlichen: „die Einstufung von Ökozid als Straftat“.

Vergangene Woche ist direkt neben der neuen Mahnwache nachts der alte Fiat Punto einer Aktivistin ausgebrannt. Die Polizei ermittelt wegen des Verdachts auf Brandstiftung.

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Eine Person sitzt auf einem Ausguck. Sie trägt eine blaue Hose und hat eine goldene Wärmedecke um die Schultern geschlagen. Außerdem trägt sie eine weiße Maske und eine Mütze. Szenerie aus Lützerath

Wie lebt es sich im besetzten Weiler? Die taz-Autor*innen Aron Boks und Annika Reiß waren für die Kolumne Countdown Lützerath vor Ort. Zwischen Plenum, Lagerfeuer und Polizei

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