Besuch im Okkupationsmuseum Riga: Erstaunliche Parallelen

Lettland wurde 1940 sowjetisch besetzt, die Ostukraine 2022 russisch. Dazu findet unser Autor in einem lettischen Museum viele Gemeinsamkeiten.

Mann auf Fahrrad

Ein Mann fährt Fahrrad mit den Flaggen der Volksrepublik Luhansk und Russlands. Am 22. September 2022 fanden Scheinreferenden in der Ostukraine statt Foto: ap

Ich hatte die Gelegenheit, das Okkupationsmuseum in Lettland zu besuchen, das sich an historischem Ort in der lettischen Hauptstadt Riga befindet. Die Ausstellung in dem Museum zeigt sowohl die Okkupation durch Nazi-Deutschland als auch die sowjetische Besetzung Lettlands im 20. Jahrhundert. Ich möchte in meinem Artikel den Akzent vor allem auf die Annexion der Republik Lettland durch die Sowjetunion legen und diese damit vergleichen, was heute in meiner Heimatregion und anderen temporär besetzten Gegenden der Ukraine passiert.

Wladimir Putin nennt Russland nicht umsonst den Rechtsnachfolger der UdSSR, denn die damaligen Methoden der Annexion von Gebieten und die Politik der Russen und ihrer Handlanger ähneln auf unheimliche Weise dem, was heute in der Ukraine passiert.

Auch in den temporär besetzten Regionen des Gebietes Luhansk funktioniert nichts ohne Kollaborateure

Am 16. Juni 1940 stellten die Sowjets der Regierung von Lettland ein Ultimatum: Sie sollte abdanken und einem Regierungswechsel zustimmen. Kārlis Ulmanis, Ministerpräsident von Lettland, nahm das sowjetische Angebot an. Und schon am 17. Juni überquerte die Rote Armee die Grenze zu Lettland.

Auf den Bildern von diesem Tag, die im Museum ausgestellt sind, sieht man viele Schaulustige. Aber, so erzählt der Museumsmitarbeiter, waren viele der Neugierigen in Zivil gekleidete sowjetische Soldaten. Mit dieser Maskeraden taten die Russen so, als gäbe es eine breite Unterstützung der Okkupation durch die einheimische Bevölkerung.

Falsche Statisten

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Am 24. Februar 2022 begann der Großangriff auf die Ukraine. Es folgte die Besetzung ukrainischer Gebiete. Ein großer Teil des Gebietes Luhansk wurde in den ersten Wochen erobert. Die russische Armee und die Volksmilizen der sogenannten Volksrepublik Luhansk LNR marschierten am 2. März in meiner Heimatstadt Starobilsk ein.

Gleich danach kamen Propagandisten in die Stadt. Sie drehten Reportagen, in denen sie zeigten, was sich seit dem Beginn der Okkupation in der Stadt „verbessert“ hatte. Dafür holten sie sich „Schauspieler“ aus dem russischen Hinterland und aus bereits früher, vor 2022, besetzen ukrainischen Gebieten, die sie als Einheimische ausgaben. Deren Aufgabe war ziemlich simpel: die Besatzung rechtfertigen und zu zeigen, wie glücklich sie jetzt waren. Und das Wichtigste: ihre dankbaren Gesichter.

Starobilsk hat jedoch nur etwas mehr als 16.000 Einwohner und fast alle kennen sich mehr oder weniger vom Sehen. Darum war es für uns relativ leicht festzustellen, wer von diesen Menschen echte Starobilsker waren. Und wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die meisten dieser russischen Reportagen, die von der Okkupation handeln, frei erfunden sind.

Kollaboration mit den Besatzern

Kollaboration ist ein integraler Bestandteil jeder Okkupation. Die Besetzungen der Ukraine und Lettlands machen da keine Ausnahme. Durch die Führung im Rigaer Museum haben wir erfahren, dass der Kreml die „neue Regierung“ Lettlands lange vor der Annexion des Landes vorbereitet hatte. Und gleich nach dem Einmarsch der Roten Armee in Lettland begann die Moskauer Regierung dort politisch zu agieren.

An der Spitze der „Regierung“ standen Letten, die von den Sowjets angeworben worden waren: Schriftsteller, Wissenschaftler und andere lettische Intellektuelle.

Auch in den temporär besetzten Regionen des Gebietes Luhansk funktioniert nichts ohne Kollaborateure. Mit einem Unterschied: Während die Sowjets in Lettland um die Eliten des Landes geworben hatten, findet man heute bei uns in der Ukraine unter den Kollaborateuren häufig Menschen, die keinerlei Verwaltungserfahrung haben bzw. früher eher am Rand der Gesellschaft standen. In Starobilsk zum Beispiel weiß ich von einem Friseur, der dort Schulleiter wurde. Und ein einfacher junger Mann vom Land ohne pädagogische Ausbildung und Berufserfahrung leitet jetzt eine Schule in einem Nachbardorf. Wichtig für den Kreml ist dabei nur eins: Loyalität. Alles andere ist zweitrangig.

Wahlen und Volksabstimmungen unter der Besetzung

Eine weitere Möglichkeit, eine Besatzung zu legalisieren, sind fingierte Wahlen oder Volksentscheide. Im Museum in Riga lernt man, dass die sowjetische Regierung in Lettland so etwas veranlasste. Zur Wahl stand nur eine Partei – die Kommunistische Partei Lettlands. Ihr beeindruckendes Ergebnis: 98 Prozent aller Stimmen. Leider machten die Sowjets damals einen Fehler: Der internationalen Presse wurden dieses Ergebnis lange vor dem Ende der Wahl mitgeteilt.

Auch in der Ukraine haben die russischen Besatzer zur Legalisierung der Okkupation sogenannte Referenden über den Beitritt der temporär besetzten Gebiete zur Russischen Föderation durchgeführt. Im Gebiet Luhansk fand es vom 23. bis zum 27. September 2022 statt.

Durch Informationen aus dem Okkupationsgebiet weiß man, dass dort die Wahlbeteiligung ausgesprochen niedrig war. Deshalb besuchten die russischen Besatzer die „Wähler“ zu Hause. Aus sicheren Quellen ist bekannt, dass die Soldaten in einigen Fällen die Menschen sogar mit Waffen bedroht haben, damit sie für den „Anschluss“ stimmten. Insgesamt stimmten 98,42 Prozent der Menschen beim gefälschten Plebiszit für den Anschluss der LNR an Russland.

Die Sache mit den Pässen

Es gibt noch einen weiteren gemeinsamen Aspekt zwischen Lettland 1940 und der Ostukraine heute: Der Zwang zu neuen Pässen. Die Russen suchen nach Druckmitteln, um die Ukrainer zur Annahme von Pseudodokumenten zu bewegen. Ohne einen Pass der Russischen Föderation können Menschen in den okkupierten Gebieten zum Beispiel ihre Arbeitsstelle verlieren. Auch die Rentenzahlung kann ausgesetzt werden.

All das funktioniert nicht ohne Einschüchterung durch die Besatzer. Um den Prozess des Passumtausches zu beschleunigen, hat Putin eigens ein Gesetz unterzeichnet, das die Ausweisung der Ukrainer aus den temporär besetzten Gebieten gestattet. Ukrainer, die in den besetzten Gebieten leben und ihre ukrainische Staatsbürgerschaft behalten wollen, können dort bis zum 1. Juli 2024 bleiben. Danach dürfen die russischen Behörden sie ausweisen bzw. die Menschen müssen die besetzten Gebiete verlassen, ob sie wollen oder nicht.

Russland hat außerdem bekannt gegeben, dass alle Einwohner der besetzten Gebiete ab dem Alter von 14 Jahren verpflichtet sind, einen russischen Pass zu erhalten. Tun sie es nicht, müssen die Eltern Strafe zahlen. Bei weiterer Weigerung können sie das Sorgerecht für ihr Kind verlieren.

Der Repressionsapparat

Eines der krassesten Beispiele für die Gräuel des Kreml-Regimes ist sein Repressionsapparat. Die Sowjets deportierten seinerzeit Männer und Frauen aus Lettland in entlegene Regionen Russlands, in vielen Fällen endete das tödlich. Viele Menschen litten auch unter dem sowjetischen Geheimdienst NKWD, später KGB. Auch meine ukrainische Familie blieb von solchem Unglück nicht verschont. Es ging allerdings vergleichsweise gut aus. Mein Vater wurde von den Kämpfern der sogenannten LNR entführt und war drei Monate in russischer Gefangenschaft. Details hat er bis heute nicht erzählt, aber wenn ich mit ihm darüber spreche, sehe ich die Angst in seinem Blick.

Er erzählte, dass alle Gefangenen in einer Fabrik körperlich anstrengende Arbeit tun mussten. Das Essen war schlecht und nicht ausreichend. Mein Vater hat deshalb stark abgenommen, zwischen 15 und 20 Kilo. Sie wurden alle kahlgeschoren und mussten alle ihre Dokumente, Telefone und auch die Bankkarten abgeben. Nach der Haft bekam er zwar seine Papiere zurück, sein Telefon hat er nie wiedergesehen. Warum er inhaftiert wurde, weiß er bis heute nicht.

Yevhen Holoborodko (Pseudonym) ist Journalist aus der Ostukraine, lebt jetzt in Riga.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

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