Historiker über Proteste in Israel: „Der Bewegung fehlt ein Programm“

Erneut demonstrierten in Israel Hunderttausende gegen die sogenannte Justizreform. Doch sie hätten darüber hinaus kein gemeinsames Ziel, sagt der israelische Historiker Adam Raz.

Demonstranten stehen auf dem Bürgersteig mit israelischen Flaggen.

Demonstrantinnen bei Protesten gegen die Regierung in Tel Aviv am 20. Juli Foto: Corinna Kern/reuters

wochentaz: Herr Raz, was hat sich in dieser Woche in Israel abgespielt?

Adam Raz: In ganz Israel waren in den vergangenen Tagen Hunderttausende auf der Straße. Sie haben wichtige Verkehrsverbindungen blockiert, Bahnhöfe besetzt. Es ist während der Demos zu Gewalt gekommen, Dutzende wurden verhaftet. Seit fast sieben Monaten wird an jedem Donnerstag und an jedem Schabbat demonstriert. Der Grund für die große Beteiligung am Protest in dieser Woche ist, dass die von Präsident Herzog angestoßenen Gespräche zwischen Regierung und Opposition zu keinem Ergebnis kamen. Demnächst soll über einen Teil der sogenannten Justizreform abgestimmt werden, die von den Demonstranten als Staatsstreich betrachtet wird. Sie befürchten, dass die Gewaltentrennung ausgehebelt werden soll.

Der Historiker

Adam Raz, 40, forscht auf dem Gebiet der Menschenrechte. Er befasst sich mit der politischen Geschichte des20. Jahrhunderts und mit marxistischem Denken.

Die Bücher

Drei seiner Bücher widmeten sich dem israelischen Nuklearprogramm. Sein Buch über Plünderungen von arabischem Besitz während des Unabhängigkeitskriegs hat in Israel eine Kontroverse ausgelöst. Jüngst widmete er sich der Figur des Demagogen. Dieser Tage erschien außerdem ein sozialistischer Noir-Roman. Er handeltvon einer Putzfrau, die in einer öffentli-chen Toilette arbeitet.

Hat die Masse der Protestierenden die Regierung beeindruckt?

Nein, sie hält an ihrem Vorhaben fest. Die Gewerkschaft der Ärzte hat deswegen zum Streik aufgerufen. Hunderte von Soldaten haben erklärt, sie würden nicht mehr zum freiwilligen Reservedienst antreten.

Haben sich neue gesellschaftliche Gruppen der Protestbewegung angeschlossen?

Vor allem demonstriert hier die Bourgeoisie, darunter die sehr gut verdienenden Angestellten der Hightechindustrie. Es gibt außerdem die Gruppe der demonstrierenden Soldaten – und es gibt den linken Block gegen die Besatzung. Dass diese Gruppen zusammen auf die Straße gehen, ist außergewöhnlich. Die Leute, die diese Bewegung koordinieren, sind keine Politiker. Die Straße gibt der Opposition den Takt vor. Deren Köpfe, Jair Lapid oder Benny Gantz, hinken hinterher.

Das Ziel ist die Verhinderung der Reform. Darüber hinaus gibt es keine Gemeinsamkeiten?

Ich und meine Freunde vom Block gegen die Besatzung und andere linke Organisationen sehen die Proteste der Hightechleute und der Soldaten kritisch, weil die Besatzung und der Militarismus der israelischen Gesellschaft ein wesentlicher Grund dafür sind, dass wir uns jetzt in dieser Situation befinden. Man kann die Politik von ultrarechten Exponenten der Regierung wie Itamar Ben-Gvir oder Bezalel ­Smotrich nicht verstehen, wenn man keinen Begriff davon hat, wie stark Besatzung und Siedlungsbau die israelische Gesellschaft prägen. Die protestierenden Soldaten wollen nicht darüber sprechen, was es bedeutet, über viele Jahrzehnte eine fremde Bevölkerung, die Palästinenser, zu kontrollieren. Die Demonstranten aus der Hightech­industrie wollen nicht über Armut und Ungleichheit sprechen. Das ist keine linke Protestbewegung.

Die kleine linke Partei Meretz hat es bei den letzten Wahlen nicht mehr ins Parlament geschafft, und Avoda, die einst stolze Arbeitspartei, die über viele Jahrzehnte in Israel den Ton angegeben hat, ist auf wenige Prozentpunkte geschrumpft.

Avoda ist auch keine linke Partei mehr. Die Frage ist in der Tat, was das Ziel dieser Bewegung sein soll. Wenn Netanjahu morgen zurücktritt und Börsenmakler wird, wird ein anderer Rechter oder gar Ultrarechter Ministerpräsident werden. Was dann? Die jetzigen Oppositionspolitiker Lapid, Gantz und Lieberman werden dann möglicherweise in einer anderen Koalition mit ultrarechten und religiösen Parteien zusammensitzen und wieder das tun, was sie schon die vergangenen Jahrzehnte getan haben: eine Mixtur aus neoliberaler Politik und Besatzung. Dann werden vielleicht wieder Leute wie Naftali Bennett in der Regierung sitzen, der früher ein radikaler Führer der Siedlungsbewegung war. Es gibt keinen großen Unterschied zwischen Bennett und Netanjahu. Was den Demonstrationen fehlt, ist also ein übergreifendes Programm, aber es ist nicht verblüffend, dass es dieses Programm nicht gibt.

Viele Beobachter meinen, Netanjahu, der stets den Zentristen gegeben hat, sei nur aus Angst vor einer Verurteilung wegen Korruption auf die Linie der Ultrarechten eingeschwenkt.

Ich glaube nicht, dass es Netanjahu nur darum geht, sich und seine Familie zu retten. Netanjahu hat bereits in den vergangenen Jahren das Ziel verfolgt, die Gewaltenteilung auszuhebeln und den Einfluss der Gerichte auf das Regierungshandeln einzuschränken. Seine Minister Smotrich und Ben-Gvir streben ein Großisrael an, das bis zum Jordan reicht. Ich denke nicht, dass sie eine klare Vorstellung davon haben, wie das gestaltet werden soll. Aber sie verfolgen seit vielen Jahren eine Graswurzelpolitik, die zum Ziel hat, Israel zu einem autokratischen, fundamentalistischen Staat zu machen. Deswegen soll die Regierung mehr Macht bekommen – und die Palästinenser sollen dafür bezahlen.

Haben sich arabische Israelis den Protesten angeschlossen? Sie machen immerhin 20 Prozent der Bevölkerung aus.

Die meisten arabischen Israelis gehören zum ärmeren Teil der Gesellschaft. Sie nehmen größtenteils nicht an den Demonstrationen teil. Die jungen Palästinenser innerhalb der israelischen Gesellschaft sind von diesem Staat entfremdet. Wenn man mit diesen Kindern und Jugendlichen spricht, versteht man, dass sie keine Zukunft für sich sehen, weil sie nicht das Gefühl haben, dass das ihr Staat ist.

Die Meinungsumfragen sagen, dass sich eine deutliche Mehrheit der Israelis, um die 60 Prozent, gegen die derzeitige Politik der Regierung ausspricht.

Am Ende haben wir auch hier in Israel das Problem, das die Demokratie immer schon begleitet: dass die Wähler oft nicht rational handeln. Um die 35 Prozent der Wähler wissen, wenn sie ihr Auto vor dem Wahllokal parken, noch nicht, wen sie wählen sollen. Oft wählen sie dann die Partei, die sie immer schon gewählt haben.

Manche junge Leute wandern heute aus Israel aus, weil ihnen die Politik zu rechts geworden ist und weil es ihnen unmöglich scheint, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Welche Rolle spielt die ökonomische Krise für die Proteste?

Der Leitzins ist im vergangenen Monat bereits fünfmal angehoben worden. In den vergangenen neun Monaten ist meine Miete um 2.000 Schekel erhöht worden, das sind 500 Euro! Israel ist unter den westlichen Staaten an vorletzter Stelle, wenn man sich den Index der Einkommensverteilung ansieht. Über ein Viertel der Israelis verdient nur den Mindestlohn, 5.500 ­Schekel. Die Demonstrationen werden aber vom ökonomisch stärkeren Teil der Gesellschaft getragen. Die Angestellten in der Hightechindustrie verdienen durchschnittlich um die 30.000 Schekel. Der Unterschied zwischen ihnen und den Menschen, die in Aschkelon oder Aschdod leben, ist sehr groß. Die entscheidende Frage ist heute, ob es dem Mitte-links-Lager gelingen kann, kulturell sehr verschiedene Teile der Bevölkerung, deren ökonomische Lagen sich zum Teil drastisch voneinander unterscheiden, zusammenzubringen – um grundsätzlich etwas zu ändern und die zwei Projekte, die den israelischen Staat in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben, zu beenden: das neoliberale Projekt der Privatisierung und das Projekt der Besatzung. Das aber wird derzeit überhaupt nicht diskutiert.

David Ben-Gurion musste einst einen Kompromiss schließen, unter anderem zwischen Säkularen und Religiösen, um den Staat gründen zu können.

Es war ein Kompromiss, und es ist immer noch ein Kompromiss. Israel war ein neues Projekt, ein neuer Staat. Menschen aus vielen verschiedenen Ländern kamen nach dem Holocaust hierher. Es war damals unmöglich, sich auf eine Verfassung zu einigen – eben weil das Land auf dem erwähnten Kompromiss basierte. Dabei ging es nicht nur um religiöse Fragen, sondern auch um ökonomische. Wenn man sich einen der damaligen Verfassungsentwürfe ansieht, den Jochanan Bader formuliert hatte, steht dort am Anfang, dass das ganze Land bis zum Jordan Israel gehören soll. Diesem Entwurf hätten die linken Arbeiterparteien Mapai und Mapam niemals zugestimmt. Im Bereich der Wirtschaft galt dasselbe: Da standen sich sozialistische und liberale Gesellschaftsentwürfe gegenüber.

Droht dieser historische Kompromiss nun aufgekündigt zu werden?

In den vergangenen Dekaden hat die Segregation zwischen verschiedenen Gruppen in der israelischen Gesellschaft stark zugenommen: zwischen Juden, die aus Europa und aus arabischen Ländern stammen, zwischen Säkularen und Religiösen, zwischen Leuten aus dem Kibbuz und Städtern, zwischen links und rechts. Ihnen ist nur gemein, dass sie sich gegenseitig misstrauisch beäugen. Das ist nicht leicht zu ändern und von ultrarechten Politikern sehr gut für deren eigene Zwecke zu nutzen. Sie verbreiten vollkommen verantwortungslos tagtäglich ihre Hassbotschaften.

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