Aktionstag gegen Gewalt an Frauen: Die dunkle Seite des Tahrir

Regelmäßig umringen Männergruppen auf dem Tahrirplatz Frauen und vergewaltigen sie. Freiwillige organisieren sich nun um die Überfallenen zu befreien.

Frauen protestieren gegen sexualisierte Gewalt auf dem Tahrirplatz. Bild: ap

KAIRO taz | Die ägyptische Frauenrechtlerin Mariam Kirollos hat Wichtigeres zu tun, als am Freitag wieder auf dem Tahrirplatz demonstrieren zu gehen. Sie findet auch, dass zwei Jahre nach dem Sturz Mubaraks die Proteste mit der Forderung, die Revolution fortzusetzen, richtig sind. Aber die 22-jährige Ägypterin sitzt im Krisenstab der Operation gegen sexuelle Belästigung (OpAntiSH) an der Hotline und hofft, dass es nicht klingelt. Wobei sie sich da nicht sicher ist.

„Wenn das Telefon nicht läutet, dann bin ich einerseits froh, dass es heute keinen Notfall gibt, andererseits fürchte ich, dass manche der sexuellen Übergriffe auf Frauen nicht gemeldet werden“, sagt Mariam Kirollos, die beruflich für eine internationale Menschenrechtsorganisation recherchiert.

Mariam bekämpft die dunkle Seite des Tahrirplatzes. Die sexuellen Angriffe auf Frauen haben dort in den vergangenen Monaten zugenommen. Die Angriffe laufen stets nach dem gleichen Muster ab. Eine Frau wird von einem Mob von Männern umringt. Oft sind sie mit Messern und Knüppeln bewaffnet. Sie reißen der Frau die Kleider vom Leib, begrapschen sie, stecken ihr Hände und Gegenstände in die Körperöffnungen, vergewaltigen sie.

„Streikt! Tanzt! Steht auf!“ Unter diesem Motto ruft ein Bündnis von Aktivistinnen am heutigen 14. Februar weltweit Frauen dazu auf, „der Welt zu zeigen, dass wir der Gewalt gegen eine Milliarde Frauen und Mädchen ein Ende setzen wollen“, wie es auf der Webseite der Aktion heißt.

„Jede 3. Frau weltweit war bereits Opfer von Gewalt, wurde geschlagen, zu sexuellem Kontakt gezwungen, vergewaltigt oder in anderer Form misshandelt“, erklärt das Netzwerk. „Jede 3. Frau, das sind eine Milliarde Frauen.“

„One Billion Rising“ ist eine Aktion des Frauennetzwerks V-Day, das vor genau 15 Jahren, am Valentinstag 1998, von der US-Feministin Eve Ensler gegründet wurde. In Deutschland sind für den heutigen Aktionstag mehr als 195 Veranstaltungen angekündigt. (dj)

Inzwischen existieren YouTube-Videos von den Vorfällen, aus weiter Entfernung von einem Balkon aus mit Zoom gefilmt. Die Angst steht den Frauen ins Gesicht geschrieben. Sie wirken, als hätten sie aufgegeben, wie sie fast regungslos in einem Meer von Männern dahingetrieben werden.

Geplante Angriffe?

Manche Frauen berichten später, dass sie bereit waren, zu sterben. Auf den Videos ist nicht auszumachen, wer die Frau angreift und wer versucht, sie aus dieser Lage zu retten. Oft dauert es über eine Stunde, bis andere Demonstranten es schließlich schaffen, die Frauen zu befreien. Die Polizei bleibt dem Platz seit dem Sturz Mubaraks fern.

Am Jahrestag der Revolution, dem 25. Januar, wurden mindestens 20 Frauen auf diese Art angegriffen. Unklar ist, ob die Übergriffe organisiert sind und als politische Waffe eingesetzt werden und wenn ja, wer dahintersteckt. Vieles deutet auf geplante Angriffe hin, um den Protesten auf dem Tahrir das Rückgrat zu brechen und Frauen abzuschrecken, dort teilzunehmen. Manche spekulieren, dass die Männer von Vertretern des alten Mubarak-Systems bezahlt werden, andere deuten auf die regierenden Muslimbrüder, die den Vorwurf weit von sich weisen. Handfeste Beweise gibt es für die Vorwürfe nicht.

Möglich ist auch, dass die Angriffe spontan geschehen. Vielleicht ist es eine Mischung aus beidem, denn die Angriffe wären nicht so erfolgreich, könnten die Angreifer nicht darauf zählen, dass Männer spontan mitmachen, andere als Schaulustige teilnehmen und die Reihen schließen, so dass kaum jemand durchbrechen kann, der die Frauen befreien will.

Die Übergriffe zeigen ein gesellschaftliches Problem. Sexuelle Belästigung gehört für Frauen in Ägypten zum Alltag. In einer Studie gaben 83 Prozent der ägyptischen Frauen an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. „Das Problem hat sich verschärft, weil es die Ägypter jahrelang verleugnet haben“, sagt Mariam Kirollos. Den Frauen war es peinlich, darüber zu sprechen. Für die Männer war es ein Kavaliersdelikt.

Die Scham überwunden

Die Aggression gegen Frauen hat sich über die Jahre verschärft, da Millionen wirtschaftlich und sexuell frustrierte junge Männer in Ägypten leben, die es sich nicht leisten können zu heiraten und die Frauen nur als Sexobjekte ansehen. „Wenn man ein Problem verleugnet und nicht zugibt, dass es existiert, kann man es nicht lösen“, sagt Mariam Kirollos. Doch sie ist zuversichtlich, dass sich das Land ändert. Denn die Angriffe gegen Frauen werden zwar brutaler, doch mehr Menschen sprechen offen über das Thema.

Tatsächlich überwinden neuerdings ägyptische Frauen ihr Trauma und ihre Scham und erzählen im Fernsehen von ihrer Erfahrung. Wie Jasmin, die auf dem Tahrir von einem Mob überfallen wurde. Der Moderator der privaten Fernsehstation An-Nahar hört sichtlich geschockt und schweigend zu. „Sie haben mit Messern meine Kleidung aufgeschlitzt und haben mich dabei verletzt. Die Hände der Männer waren überall. Sie kamen von allen vier Seiten. Ich habe versucht, meine Hose festzuhalten“, erzählt Jasmin, um dann aus einer Plastiktüte ihre zerschlitzte Hose auszupacken und hochzuhalten und im Detail zu erzählen, was mit ihr geschehen ist.

Die Frauen entwickeln ein neues Selbstbewusstsein, unterstützt vom Aufbruch der jüngeren Generation nach dem Sturz Mubaraks. In den vergangenen Wochen haben sich mehrere Gruppen gegründet, um die Angriffe auf Frauen zu bekämpfen. Mariam Kirollos ist eine von Hunderten Freiwilligen, die sich des Themas angenommen haben.

In weißen T-Shirts mit dem Aufdruck „Gegen sexuelle Belästigung“ verteilen junge Frauen und Männer freitags auf dem Tahrir Flugblätter. „Meine Aufgabe ist es, auf das Problem aufmerksam zu machen und den Leuten zu sagen, wie sie sich in solchen Fällen verhalten und wo sie anrufen können“, sagt Jurastudentin Sarah Hamdy.

Safe-House für die Überfallenen

Andere Freiwillige der „Operation gegen sexuelle Belästigung“ haben sich zu einer Art schnellen Eingreiftruppe formiert, deren Aufgabe es ist, die Frauen zu schützen und notfalls auch mit Gewalt zu befreien. „Hier geht es nicht um sexuelle Belästigung, das ist Krieg“, sagt Mohammed al-Khateeb, einer der Aktivisten im Fernsehen.

Die Angreifer seien bewaffnet. Oft dauert es eine Ewigkeit, bis er und seine Mitstreiter sich bis zu der Frau durchgeschlagen haben und einen Schutzring um sie bilden, um sie vom Platz zu führen.

Auch Heba Gamal ist ein Teil des organisierten Widerstandes gegen die sexuellen Übergriffe. An diesem Freitag ist sie in einem sogenannten Safe-House mit Blick auf den Tahrir auf Bereitschaft. „Hier bringen sie die Frauen her, nachdem sie befreit wurden“, sagt Heba und führt durch ein kleines ruhiges Zimmer mit einem Bett.

„Wir versuchen sie zu beruhigen und schauen, was sie brauchen und wohin sie möchten“, erzählt sie. „Wir stellen nicht viele Fragen, was mit ihr passiert ist, und berühren sie möglichst wenig, denn das wollen die traumatisierten Frauen nicht.“ Manche Frauen müssten ins Krankenhaus gebracht werden, andere wollen schnell nach Haus.

„Nur noch hemmungslos geweint“

Während Heba am Ende der selbstorganisierten Hilfskette auf Bereitschaft ist, wacht Mariam Kirollos weiterhin am Telefon. „Oft ist es schwer zu ertragen“, sagt sie. Auch am 25. Januar, als es besonders viele furchtbare Übergriffe gab, saß sie am Telefon. „Es war frustrierend und niederschmetternd“, erinnert sie sich. Die Hotline ist für Notfälle vorgesehen, alle anderen Anrufe würgt sie deswegen ab.

Aber dann, um Mitternacht, rief ein alter Mann an und sagte einfach nur danke. „Wir und unsere Arbeit seien der Grund, warum er beschlossen hat, doch mit seiner Tochter zum Tahrirplatz zu gehen“, sagt Mariam Kirollos. Da schaffte sich der Druck des Tages und die Freude über diesen Zuspruch freien Lauf. „Ich habe am Telefon einfach nur hemmungslos geweint“, erzählt sie.

Mariam Kirollos und den anderen AktivistInnen geht es darum, dass sich die Frauen nicht abschrecken lassen, auf dem Tahrir für ihre Rechte zu kämpfen. Denn genau das sei das Ziel die Angreifer. Dass Premier Hischam Kandil nun den Nationalen Frauenrat aufgerufen hat, einen Gesetzesentwurf zu verfassen, der sexuelle Belästigung strafbar macht, beeindruckt Mariam Kirollos nicht. Der Nationale Frauenrat habe schon Gesetze zum Verbot der Genitalverstümmelung geschrieben, dennoch sei die Praxis weit verbreitet.

Doch die Basisarbeit verändere das gesellschaftliche Bewusstsein. Seit der Revolution habe es mehr Frauendemonstrationen gegeben, als in der gesamten ägyptischen Geschichte zusammen, sagt Kirollos. Eine Demonstration mit mehreren tausend Frauen, mit und ohne Kopftuch, jung und alt, zieht am Dienstag durch die Kairoer Innenstadt, um gegen die sexuellen Übergriffe zu protestieren. Lautstark verkünden sie ihre Botschaft: „Niemand vertreibt uns vom Tahrir! Wir bleiben auf dem Platz!“

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