Vorwürfe gegen UN-Hilfswerk: Eine dauerhafte Notlösung

Israel wirft UNRWA-Mitarbeitenden eine Beteiligung am Hamas-Massaker vor. Die Finanzierung ist jetzt eingefroren. Und jetzt?

Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt Menschen vor einem Holzschuppen mit der Aufschrift "UNRWA"

Schon lange dabei: Eine UNRWA-Lebensmittelausgabe im Gazastreifen, 1954 Foto: Photo12/afp

Was genau sind die Vorwürfe?

Israel hat unter anderem den USA ein Geheimdienstdossier präsentiert. US-Medien, denen das Dossier vorliegt, berichteten, dass zwölf UNRWA-Mitarbeitende in das Massaker vom 7. Oktober verwickelt gewesen sein sollen. Zwei sollen bei der Entführung von Israelis geholfen haben, zwei weitere an Orten gewesen sein, an denen Zi­vi­lis­t*in­nen erschossen wurden. Andere sollen etwa Waffen beschafft haben. Außerdem, heißt es, hätten etwa 10 Prozent der rund 13.000 UNRWA-Mitarbeitenden in Gaza Verbindungen zu militanten Gruppen.

Aber prüft Israel nicht die Mitarbeitendenlisten des ­UNRWA?

Das UNRWA – die Abkürzung steht für United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East – legt Israel regelmäßig die Namen vor. Nun aber will das israelische Militär in Gaza einen Computer mit einem Verzeichnis von Hamas-Mitgliedern gefunden haben. Das Verzeichnis sei mit der Liste der Mitarbeitenden abgeglichen worden. UNRWA-Chef Phi­lippe Lazzarini reagierte, indem er eine Untersuchung einleitete. Ohne auf das Ergebnis zu warten, wurden die Beschuldigten aber bereits entlassen.

Wie läuft diese Untersuchung ab?

Das UNRWA führt sie nicht selbst durch, sondern das UN-Büro für interne Aufsicht, das UN-Chef António Guterres untersteht. Die EU hat zusätzlich verlangt, dass das UNRWA einer Überprüfung durch Ex­per­t*in­nen zustimmt, die die EU ernennt. Sie sollen sich die internen Kontrollsysteme des ­UNRWA anschauen. Nachforschungen vor Ort sind aber kaum möglich, da Gaza in Schutt und Asche liegt.

Mittlerweile haben 17 Länder ihre Zahlungen an das ­UNRWA auf Eis gelegt. Ist das das Ende des Hilfswerks?

Nein. Das Mandat läuft noch bis Sommer 2026. Die Frage ist, ob künftig wirklich kein Geld mehr fließt. Zunächst kann das UNRWA laut dem Entwicklungsökonomen Markus Loewe noch für wenige Wochen weiterarbeiten, doch bald wäre die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln nicht mehr gewährleistet, das UNRWA könnte außerdem Gehälter nicht mehr bezahlen. Im Gazastreifen würde sich die humanitäre Katastrophe noch weiter zuspitzen. Die Bevölkerung dort ist komplett abhängig von Hilfsleistungen, den Löwenanteil davon bestreitet das UNRWA.

Wo ist das UNRWA sonst noch aktiv?

Das UNRWA ist eine der wichtigsten UN-Organisationen im arabischen Raum. Für Palästinageflüchtete bietet es Dienstleistungen, die anderswo der Staat übernimmt. Einsatzgebiet sind Jordanien, Syrien und Libanon sowie das Westjordanland und Gaza. Im Libanon etwa gehen libanesische Kinder auf staatliche Schulen, die Kinder von Palästinageflüchteten auf ­UNRWA-Schulen. Daneben bietet das ­UNRWA Gesundheitsversorgung und Hilfs- und Sozialdienste, vor allem in den über 50 Flüchtlingslagen der Region, die längst ärmliche Stadtteile sind.

Warum gibt es das UNRWA überhaupt?

Das Hilfswerk wurde 1949 kurz nach der Staatsgründung Israels durch eine Resolution der UN-Generalversammlung ins Leben gerufen. Seitdem wird das Mandat regelmäßig verlängert, da der Israel-Palästina-Konflikt ungelöst bleibt. Das UNRWA betont, dass es nicht das Mandat habe, den Konflikt zu lösen oder sich für eine Integration der Flüchtlinge in anderen Staaten einzusetzen. Das ist richtig, denn die Organisation wurde beauftragt, Dienstleistungen zu erbringen – und zwar, bis der Konflikt gelöst ist.

Gibt es schon länger Kritik am UNRWA?

Viel Aufmerksamkeit erregt seit Jahren die Debatte über Schulbücher. Die rund 700 UNRWA-Schulen nutzen Lehrbücher des jeweiligen Gastlandes, die Organisation erstellt keine eigenen Lehrpläne. Zuletzt hatte ein Bericht der israelischen NGO Impact-se, die die Inhalte von Schulbüchern untersucht, nahegelegt: Nicht nur in den of­fi­ziel­len Schulbüchern, sondern auch in UNRWA-Zusatzmaterialien würden antisemitische Botschaften und Aufrufe zu Gewalt gegen Is­rae­lis vermittelt. Das UNRWA gab an, dass das zitierte Zusatzmaterial nicht vom UNRWA autorisiert gewesen sei. Impact-se habe es von Internetseiten und Plattformen erhalten, die nicht zum UNRWA gehörten. Neben der Schulbuchdebatte hat Israel immer wieder Vorwürfe erhoben, dass UNRWA-Schulen in Gaza als Waffenlager dienten. Das UNRWA räumte auch ein, Waffen gefunden zu haben, und verurteilte dieses Vorhandensein. Waffen seien in den Einrichtungen verboten, allerdings könne sich das ­UNRWA keine Wachen an seinen Schulen leisten. Routinemäßige Inspektionen gebe es aber.

Wieso ist die Flüchtlingsfrage so zentral?

In Abwesenheit eines palästinensischen Staats ist das ­UNRWA für viele eine Art Symbol. Seine schiere Existenz hat dadurch eine politische Dimension, die der israelischen Regierung nicht gefällt. Das UNRWA ist die institutionelle Verankerung des von palästinensischer Seite hochgehaltenen Flüchtlingsnarrativs, basierend auf dem historischen Fakt, dass 1948 Hunderttausende Pa­läs­ti­nen­ser*in­nen vertrieben wurden oder flohen. Ein konkreter Kritikpunkt am ­UNRWA ist, dass es die Zahl der Geflüchteten aufblähe und so den Israel-Palästina-Konflikt verewige. 5,9 Millionen Menschen sind beim ­UNRWA mittlerweile registriert, und es werden immer mehr. Denn für das ­UNRWA gelten auch Nachkommen der Menschen, die vertrieben wurden, als Flüchtlinge.

Ist die Vererbung des Flüchtlingsstatus einzigartig?

UNRWA-Kritiker sagen Ja – was so allerdings nicht stimmt. Auch das UNHCR – das UN-Flüchtlingskommissariat – kennt die Einbeziehung der Nachkommen von Geflohenen. Das UNRWA verweist auf andere „langwierige Flüchtlingssituationen“ etwa im Kontext von Afghanistan oder Somalia. Es argumentiert, das eigentliche Problem sei nicht seine Flüchtlingsdefinition, sondern der ungelöste Konflikt. Unterschiede zu anderen Flüchtlingshilfswerken gibt es trotzdem: Zum Beispiel verlieren palästinensische Geflohene ihren Status nicht, wenn sie eine andere Staatsangehörigkeit annehmen, was die Zahl senken würde, da viele Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Jordanien auch Staats­bür­ge­r*in­nen sind. Syrien und Libanon dagegen weigern sich, Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen einzubürgern.

Wieso birgt die Flüchtlingszahl Zündstoff?

Brisanz erhält die Zahl dadurch, dass in der Resolution 194 der UN-Volllversammlung von 1948 von einem Rückkehrrecht (beziehungsweise einer Entschädigung) die Rede ist. Wer beim UNRWA registriert ist, so zumindest eine Lesart, darf also zurückkehren. Ein tatsächlicher Zuzug von Millionen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen ins heutige Israel wäre allerdings selbst im Falle einer Lösung des Konflikts unwahrscheinlich. Palästina würde für viele eher Sehnsuchtsort bleiben. Unabhängig davon wäre ein Massenzuzug kaum umsetzbar, ohne Israel als jüdischen Staat infrage zu stellen. Manche gehen deshalb so weit, das Festhalten am Rückkehrrecht als antisemitisch zu brandmarken, da ein Zuzug von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen zu einer arabischen Bevölkerungsmehrheit führen würde.

Wie könnte eine ­UNRWA-Reform aussehen?

Es könnte an einigen Stellschrauben gedreht werden: etwa strengere Kontrollen, eine bessere Überprüfung von Mitarbeitenden oder mehr Transparenz der Geldflüsse. Grundsätzlicher wäre eine neue Flüchtlingsdefinition, die das Hilfswerk seiner Arbeit zugrunde legte.

Will Israel das UNRWA reformieren oder abschaffen?

Israel stimmt in der UN-Generalversammlung schon lange gegen eine Verlängerung des Mandats, genauso wie sich die Regierungen unter dem rechten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu seit Langem für ein Ende des UNRWA aussprechen. Am Mittwoch untermauerte er diese Forderung: „Es ist Zeit, dass die internationale Gemeinschaft und die UN begreifen, dass die Mission des UNRWA beendet werden muss.“ Sicherheitskreise in Israel sehen dies oft anders. Ein israelischer Beamter, der anonym bleiben wollte, sagte der Times of Israel, dass ein Ende der Arbeit des UNRWA in Gaza eine „humanitäre Katastrophe hervorrufen“ könnte, die Israel zwingen würde, den Krieg zu beenden. Angesichts fehlender Alternativen wird außerdem mehr Radikalisierung befürchtet. Auch im Libanon warnen Be­ob­ach­te­r*in­nen vor mehr Militanz, sollten in den ohnehin angespannten Geflüchtetenlagern noch Dienstleistungen wegfallen.

Und wie könnte das ­UNRWA überhaupt aufgelöst werden?

Die UN-Generalversammlung könn­te das Mandat nicht mehr verlängern, was sie alle drei Jahre tun muss. Das ist aber unwahrscheinlich. Einen anderen Weg schlägt der israelische Journalist Adi Schwartz vor. Er argumentiert, dass nur eine Handvoll Länder – darunter die USA und Deutschland – freiwillig einen Hauptanteil des UNRWA-Budgets leisten. „Wenn diese Länder unilateral beschließen, die Finanzierung zu stoppen, hört das UNRWA auf zu existieren.“ Im Falle einer Auflösung würde zumindest ein Teil der Palästinaflüchtlinge automatisch Anspruch auf Schutz durch das UNHCR haben. Dennoch stellt sich die Frage, was mit den Menschen geschehen würde, die derzeit beim UNRWA registriert sind – etwa mit den mehr als einer halben Million Kindern, die auf UNRWA-Schulen gehen. Schwartz sieht das nicht als Problem. In Gaza, so sein Argument, müsste dann endlich die Hamas die Verantwortung für die Bevölkerung übernehmen.

Wie spricht man ­UNRWA eigentlich aus?

Ganz simpel in zwei Silben: Un-rua. U-N-R-W-A sagt niemand.

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