Roman über Islamismus: Grenzen des Verstehens

Ein Vater versucht nachvollziehen, warum seine Tochter Dschihadistin wurde. Sherko Fatahs Roman „Der große Wunsch“ ist wie ein Thriller erzählt.

Sherko Fatah

Der Autor Sherko Fatah Foto: Christian Charisius/dpa

Es ist schwer zu begreifen, welchen Weg die abwesende Hauptfigur dieses Romans einschlägt: Naima ist gerade 20 Jahre alt, sie führt ein freies Leben in Berlin, hat tolerante Eltern, ein ganzes Leben vor sich, wie man denken könnte. Doch sie verschwindet von einem auf den anderen Tag, soll sich dem IS in Syrien angeschlossen haben. Dort folgt sie den Gesetzen der Scharia, unterstützt ihre neuen Glaubensbrüder und -schwestern im Kampf gegen den Westen.

Der eigentliche und anwesende Protagonist des Romans „Der große Wunsch“ von Sherko Fatah ist Murat. Er ist der Vater von Naima. Murat reist von seiner Heimat Berlin aus ins türkisch-syrische Grenzgebiet, um seine Tochter zu finden. Er heuert Mittelsmänner an, die nach ihr suchen sollen. Von ihnen bekommt er Sprachnachrichten zugespielt, die von Naima stammen sollen. Auch sein alter Freund Aziz soll ihm helfen. Naimas Mutter Dorothee und er leben nicht mehr zusammen, doch das Verschwinden der Tochter bringt sie wieder näher zueinander.

„Der große Wunsch“ ist wie ein Thriller erzählt. Murat weiß nie, welche Informationen über Naima vertrauenswürdig sind, auch Aziz scheint nur die halbe Wahrheit zu sagen. Im Kern aber ist Sherko Fatahs jüngstes Werk eine Auseinandersetzung und Reflexion über die Ideologie des Islamismus. Murat sinniert auf seiner Reise, die ihn schließlich über die südosttürkische Stadt Şanlıurfa nach Rakka führt, darüber, was jemanden dazu bringen könnte, sich einer islamistischen Terrorgruppe anzuschließen. „Es gibt eine Wildnis, […] in der sich Glauben in etwas Blutrünstiges verwandelt“, denkt Murat einmal. Diese Wildnis ist Thema des Buchs.

Sherko Fatah: „Der große Wunsch“. Luchterhand Literaturverlag, München 2023:

384 Seiten,

25 Euro

Murat kann sich einer Antwort auf seine große Frage nur annähern. „All diese Migranten, die mit großen Träumen aufbrachen, Träumen, die heutzutage inspiriert wurden von all den Handybildern und -filmchen, von Gerüchten innerhalb ihrer vielköpfigen, weitverzweigten, oft schon weltweit zerstreuten Familien und Freundesfamilien, kamen nach Europa und fanden neben der sozialen Absicherung und Frieden auch funktionierende Staaten vor, in denen sie allerdings zumeist Außenseiter blieben“, denkt Murat in einer Passage und reflektiert kurz darauf über die Probleme der zweiten Einwanderergeneration. Und weiß natürlich, dass bloßer sozialer Ausschluss nicht erklären kann, wie man zum Dschihadisten werden kann.

Schwer zu ertragen

Um zu begreifen, studiert er auch die moralische Verkommenheit der Islamisten wie ein Investigativjournalist: „Es dauerte eine Weile, bis er bei den Hinrichtungen angekommen war. […] Diese langwierige Inszenierung war schwer zu ertragen. […] Die schließliche Tötung der Gefangenen, die bis dahin durch ihr Kauern am Boden, ihre gesenkten Blicke und ihre angsterfüllte Apathie bereits eine Entmenschlichung erfahren hatten, überstieg in ihrer Grausamkeit genau genommen nichts, was nicht längst in Filmen und Serien tagtäglich zu sehen war. Der Unterschied lag natürlich in der Wahrhaftigkeit dieser Bilder.“

Murat skizziert die völlige Verrohung, ist fassungslos, wie die Mordvideos zu Trophäen in sozialen Medien werden können. Inwieweit sind deren Mechanismen Teil des Problems?

Der Schriftsteller Sherko Fatah wurde als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen im damaligen Ostberlin geboren, er ist heute 59 Jahre alt. Mit den Regionen Türkei, Iran und Irak hat er sich bereits in mehreren Büchern befasst, auch die Genese von Gewalt ist ein wiederkehrendes Thema. In „Das dunkle Schiff“ (2008), das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, erzählte er die Geschichte eines jungen Irakers, der nach dem Mord an seinem Vater gezwungen wird, sich Dschihadisten anzuschließen.

„Der große Wunsch“ wurde selbstverständlich vor den aktuellen Ereignissen im Nahen Osten geschrieben. Durch sie ist der Roman von einer traurigen neuen Aktualität eingeholt worden. Das, was die Terroristen der Hamas am 7. Oktober taten, taten sie im Geiste und Sinne des IS, die Grausamkeit erinnerte an die Taten des IS in Syrien und im Irak. Ein Wiedererstarken der islamistischen Szene in Europa ist wieder wahrscheinlicher geworden – auch wenn der IS natürlich nie weg war. Über 1.150 Menschen sind laut Verfassungsschutz seit 2011 aus Deutschland nach Syrien gegangen, 27.480 Ge­fähr­de­r:in­nen zählte man im Land 2022.

Seinen Titel hat dieses Buch, weil der Name Murat so viel wie „Wunsch“ heißt. Der große Wunsch des Protagonisten ist es natürlich, dass seine Tochter zurückkehrt, und ebenso wünscht er sich, das Phänomen Islamismus im Westen zu verstehen. Was Letzteres angeht, muss Murat in Teilen scheitern. Aber es ist ein Scheitern der lehrreicheren Sorte.

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