Kolumne Europa-Express: Viel Wind um nichts?
Beim Reisen innerhalb der EU spürt man sie kaum noch. Doch mittlerweile fühlen sich manche Übergänge wieder wie wirkliche Grenzen an.
„Na, da haben Sie heute aber noch ganz schön was vor sich“, sagt die Schaffnerin, als sie mein Ticket entgegennimmt. 1.200 Kilometer und drei Umstiege trennen mich auf meiner Reise quer durch Europa noch vom nächsten Ziel: Lyon. Um 07.43 Uhr morgens bin ich dafür schon in die Regionalbahn von Görlitz nach Dresden gestiegen, Jacke und Schuhe nass vom Regen.
In Frankfurt am Main habe ich meinen letzten Zugwechsel, dann sitze ich zum ersten Mal in einem dieser berühmten TGV-Züge, von denen ich damals so oft im Französisch-Unterricht gelesen habe. Lautsprecheransagen in drei Sprachen, ich bin beeindruckt. Und froh, denn mein Französisch ist eingerostet.
Schnell nähern wir uns Straßburg. An mir vorbei ziehen Vororte, ein Fluss – und schon bin ich in Frankreich. Wirklich verändert hat sich auf den ersten Blick wenig, abgesehen von der Sprache auf den Reklametafeln.
Irgendwie erwarte ich, dass, wenn ich eine Landesgrenze überwinde, es auf der anderen Seite anders aussehen müsste. Müsste sich nicht die Landschaft schlagartig verändern? Die Häuser eine andere Bauweise haben und die Menschen andere Kleidung tragen? Da wird so viel Wind um diese Grenzen gemacht – und am Ende sieht es meistens dies- und jenseits ziemlich ähnlich aus.
Ich bin selbst in einer Grenzregion aufgewachsen: in Oberbayern, nur wenige Kilometer von Österreich entfernt. Na ja, Österreich und Deutschland, so viel Unterschied ist da nicht, könnte man sagen. Stimmt vielleicht auch.
Als Teenager war es meine liebste Wochenendbeschäftigung mit Freundinnen ins Shoppingcenter in Salzburg zu fahren. Dass da eine Grenze war (vor nicht allzu langer Zeit mit Personenkontrollen, denn Österreich ist erst 1994 der EU beigetreten), habe ich lange nicht wahrgenommen.
Vom 23. bis zum 26. Mai 2019 wählen die Bürger*innen der EU zum neunten Mal das Europäische Parlament. Im Vorfeld fährt Autorin Jana Lapper sieben Tage lang mit dem Zug durch sechs europäische Länder, um zu schauen, was die Menschen vor Ort tatsächlich bewegt.
Bis zum Jahr 2015, als über die Balkanroute viele Menschen flüchteten. Genau dort, wo ich mit meinen Freundinnen immer so frei verkehrte, bildeten sich plötzlich wieder lange Warteschlangen und Beamte kontrollierten Pässe. Bis heute sind sie dort. So schnell kann sich Selbstverständliches ändern.
Leser*innenkommentare
Marzipan
„Irgendwie erwarte ich, dass, wenn ich eine Landesgrenze überwinde, es auf der anderen Seite anders aussehen müsste. Müsste sich nicht die Landschaft schlagartig verändern? Die Häuser eine andere Bauweise haben und die Menschen andere Kleidung tragen? Da wird so viel Wind um diese Grenzen gemacht – und am Ende sieht es meistens dies- und jenseits ziemlich ähnlich aus.“
Dürfte eine Frage des Alters sein. Die Grenzen wurden ja deshalb durchlässig gemacht, weil Unterschiede im Wirtschaftsprozess stören, und nicht, damit Urlauber möglichst reibungslos das Land wechseln können. Diese Version wurde den dummen Lämmchen erzählt, die von den harten ökonomischen Interessen hätten verunsichert werden können. Nun macht der Kapitalismus nicht nur im Straßenbild mit den überall gleichen Ladenketten die Unterschiede platt.
Ich erinnere mich sehr wohl an eine Zeit, in der die Welt hinter der Grenze anders aussah, roch und schmeckte. Damals, als man selbst auf dem Weg nach Luxemburg noch kontrolliert wurde. Und Geldumtausch wie überhaupt fremde Währung erhöhte das Gefühl von Andersartigkeit, für das ich doch schließlich das eigene Land verließ.
Wenn Diversität intranational so positiv gesehen wird, warum findet man ihre Einebenung auf europäischer Ebene dann so uneingeschränkt begrüßenswert?