taz-lab-Kolumne S(ch)ichtwechsel #4 Es kommt drauf an
Was ist Gerechtigkeit? Auf der Suche nach einer Antwort wirft unser Autor einen Blick in den Alltag der Strafjustiz.
In unserer taz-lab-Kolumne S(ch)ichtwechsel schreiben unsere Autor:innen wöchentlich über Klima und Klasse.
taz lab, 09.02.2022 | Unsere Kollegin Shayna Bhalla hat hier zuletzt plädiert, mehr Gerechtigkeit einzufordern. Eine einfache, aber kluge Forderung. Sie hat bei mir eine Frage aufgeworfen, die mich seit Beginn meiner juristischen Ausbildung beschäftigt – und auf die es keine einfache Antwort gibt: Was ist Gerechtigkeit?
Strafjustizgebäude, Hamburg, 9 Uhr. Angeklagt ist eine Frau, 45 Jahre alt, wegen Diebstahls von Lebensmitteln im Wert von etwa zehn Euro. Etliche Vorstrafen wegen Diebstählen, immer von geringwertigen Sachen. Empfänden Sie es als ungerecht, die Frau jetzt zu einer Geldstrafe zu verurteilen? Ja? Dann dürfte ja jeder stehlen, weil er kein Geld und viel Hunger hat. Und wenn die Frau jetzt zum dreißigsten Mal stiehlt, sollte sie dann ins Gefängnis? Oder meinen Sie, das wäre übertrieben – Knast für Brot und Wurst?
Möglicherweise haben Sie Ihr Urteil schon gesprochen. Ihr Sinn für Gerechtigkeit ist mit meinen billigen Fragen nicht zu erschüttern. Oder hadern Sie mit sich, sind sich unsicher? Das Gefühl dafür, was gerecht und was ungerecht ist, speist sich (auch) aus unseren sozialen Hintergründen.
Einfach gesprochen: Es geht darum, aus welchen Milieus wir kommen, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Urteilen wir als Personen, die selbst Hunger leiden mussten? Oder bilden wir unsere Meinung als satte Gutverdiener? Sind wir aufgrund unserer Erfahrungen empathisch oder emotional befangen, sind wir gefühlskalt oder professionell?
Juristen antworten oft wenn sie nach Rechtsrat gefragt werden mit: „Es kommt drauf an!“ Damit signalisieren sie, dass es um Details geht, dass es keine pauschale Antwort gibt. So auch hier: Zur Beantwortung der Frage, was Gerechtigkeit ist, kommt es nicht zuletzt auf die sozialen Aspekte an.
