Russlands Schattenarmee in der Ukraine: Ein Bein für Russland

4.000 russische Soldaten wurden in der Ukraine verwundet oder getötet – obwohl es offiziell keinen Krieg gab. Ein Treffen mit einem Invaliden.

Gesichtet nahe Simferopol: bewaffnete Männer, die wahrscheinlich russische Soldaten sind, in der Uniform der Namenlosen. Bild: reuters

MOSKAU taz | Als Blauhelm-Soldat von einem Konflikt zum nächsten eilen und so die Welt kennenlernen, davon habe sein Neffe geträumt, als er sich letztes Jahr entschloss, Berufssoldat zu werden, erzählt Sergei Koslow. Jetzt liegt der 21-jährige Nikolai in einem Moskauer Militärspital. Der Ukrainekrieg hat seine Träume von einer Karriere als Friedensemissär zunichtegemacht. „Ein Bein hat Nikolai verloren, er wird Invalide bleiben“, sagt sein Onkel. „Dafür gehört die Krim aber uns“, fügt er sarkastisch hinzu. Sergei Koslow bezeichnet sich als Dissident. Schon sein Vater und sein Großvater hätten dem Kreml nicht getraut.

Nur sein Bruder Wsewolod, Nikolais Vater, sei anders geraten. Sew, wie er ihn nennt, vertraut der russischen Führung. Der ehemalige Afghanistankämpfer arbeitet auf dem Gelände der Atomanlage Majak bei Osersk als Busfahrer. 1957 kam es in der geschlossenen Stadt im Ural zu einem Super-GAU, bei dem mehr Radioaktivität freigesetzt wurde als 1986 in Tschernobyl. „Wer dort arbeitet, wird selten älter als 50“, sagt Sergei, dessen Vater noch als Physiker am Bau der Atombombe in Osersk mitwirkte und früh an Krebs starb. „Im sowjetischen Kindergarten wurde uns eingeimpft, dass wir für den Staat Opfer zu bringen hätten“, sagt er. „Jetzt erzählen sie dir wieder dasselbe.“ Alles würde er tun, damit seine Kinder keinen Armeedienst leisten müssen.

Sergei Koslow lebt in Moskau, er ist Physiker wie sein Vater. Zurzeit arbeitet er als IT-Experte. Ab und zu telefoniert er mit seinem Bruder Sew. Im Frühjahr hatte Sew ihn eingeladen zu einer Siegesparade. Stolz war der Bruder, weil sein Sohn mit einem Orden für die „Rückkehr der Krim“ ausgezeichnet werden sollte.

Nikolai Koslow diente als Berufssoldat in einer Spezialeinheit im zentralrussischen Uljanowsk. Er war einer jener „grünen Männchen“ ohne Hoheitszeichen, die die Halbinsel Krim im März im Handumdrehen besetzten. Dutzende Fotos im Internet belegen das.

Ein „höfliches grünes Männchen“

Anfangs posierte Nikolai Koslow noch in der Uniform der Namenlosen. Später schlüpfte er in die Kluft der ukrainischen Miliz und trug die Uniform der Berkut-Spezialeinheiten des ukrainischen Innenministeriums, die Expräsident Janukowitsch eingesetzt hatte, um den Widerstand auf dem Kiewer Maidan zu brechen. Bislang ist es nur eine Vermutung, dass auch russische Soldaten an dem Einsatz beteiligt gewesen sein könnten.

Dass es sich bei den „höflichen grünen Männchen“ auf der Krim um reguläre russische Streitkräfte gehandelt hat, räumte der Kreml erst nach dem gelungenen Handstreich ein. Die Freude über den Erfolg der eigenen List und darüber, ungestraft davonzukommen, ließ den Kremlchef bei einem öffentlichen Auftritt im April leichtsinnig werden. Die Soldaten sollen als folkloristische Einlage, als Matrjoschkas in Tarnkleidung, gekommen sein.

Der nächste Anruf von Swewolod Koslow erfolgte dann Ende August. Sein Bruder solle den schwer verletzten Neffen in einem der Militärkliniken rund um Moskau suchen. Die Armee hatte den Angehörigen gar nicht mitgeteilt, dass Nikolai verletzt worden war. Das ist kein Zufall. Wenn Russland offiziell keinen Krieg führt, ist die Armee auch nicht zuständig.

„Die Amerikaner stehen vor der Tür“

Nikolai rief vom Handy eines verwundeten Kameraden seine Familie an. Er wusste nicht einmal, in welches Krankenhaus er verlegt worden war. „Wofür hat er nun das Bein verloren?“, fragte Sergei Koslow seinen Bruder. „Er verteidigt doch das Vaterland, die Amerikaner stehen an unseren Grenzen“, habe Sew ihm geantwortet. Erst Putin hätte „Russland von den Knien erhoben“ und den Menschen wieder zu essen gegeben. Sergei Koslow ist nicht zum Scherzen zumute, als er das erzählt. Es ist das Mantra, mit dem Millionen Russen Stärkung suchen.

Erst nach Tagen findet Sergei Koslow seinen Neffen. Davon, dass er in ukrainisches Kampfgebiet verlegt werden sollte, will der junge Mann vorher nichts gewusst haben. Offiziell sei der Marschbefehl von Uljanowsk nach Tschebarkul im Ural ausgestellt gewesen. Erst als die Soldaten Wegweiser nach Rostow am Don entdeckten, dämmerte es ihnen wohl. „Eine Einverständniserklärung hat Nikolai nicht unterschrieben“, sagt der Onkel. Die Kommandeure hätten die Papiere für die Soldaten selbst ausgefüllt, sagt sein Neffe.

„Es gibt Tickets nur in eine Richtung“, sagt Nikolai. Soldaten werden in Bataillonstärke über die Grenze in die Ukraine geschickt. Niemand rechnet mit ihrer Rückkehr. Panzer und Transporter würden daher gar nicht erst vollgetankt. Angeblich kehren nur Gefallene und Verletzte in die Heimat zurück.

„Grus-200“ steht für Zinksärge der Armee

Nikolai Koslow war zwei Wochen mit seiner Brigade in Feindesland unterwegs, bevor er das Bein verlor. Der Befehl lautete, berichtet er, auf alles zu schießen, was Uniform trägt. Auch auf die Gefahr hin, eigene Einheiten auszulöschen. Nach der Verwundung schleppte ein Kamerad den Schwerverletzten zwei Tage lang zu Fuß zurück über die Grenze. In Rostow wurde Nikolai behandelt, dann nach Moskau verlegt, die Spitäler im Süden des Landes waren überfüllt. Nikolai hatte sich selbst versorgt, als das Geschoss das Bein zerfetzte; er band den Stumpf ab und setzte sich die Spritze. In der Nähe von Mariupol muss das Unglück geschehen sein, von dort wurden am selben Tag schwere Gefechte gemeldet. Russische Einheiten unternahmen einen erneuten Vorstoß, eine Landverbindung zur Krim herzustellen.

Seit August häufen sich Hinweise auf russische Gefallene und Vermisste. Die Vorsitzende der St. Petersburger Soldatenmütter geht von mindestens 4.000 Toten, Vermissten und Verwundeten aus. „In jeder russischen Stadt ist der Tod angekommen“, sagt Ella Poljakowa. Auf ihrer Facebookseite sind mehr als 24.000 Personen registriert, die nach Angehörigen suchen oder bei der Suche helfen. Die Seite heißt „Grus-200 von der Ukraine nach Russland“ – „Grus-200“ steht für Lieferungen von Zinksärgen der russischen Armee.

Auch der oppositionelle Fernsehsender Doschd stellt Namenslisten Gefallener zusammen. Vor allem aber sind es Portale in der Provinz, die die Ankunft einer 200er-Lieferung inzwischen genau registrieren und das Bewusstsein dafür schärfen, dass Moskau Krieg führt. Auf der ukrainischen Website „Lostivan“ sind überdies Namen und Fotos von in der Ukraine kämpfenden russischen Soldaten aufgeführt.

Die Familien zum Schweigen gezwungen

In Europa kämen die Verantwortlichen nicht damit durch, die Leichen zu verstecken, sagt der bekannte Schriftsteller Wiktor Jerofejew. Aus russischer Sicht macht das die Schwäche Europas aus und steht für die wieder aufkeimende Gewissheit, dass Russland nicht dazugehört.

Tod ist nicht gleich Tod in der Ukraine. Im Osten wird er geleugnet und verheimlicht. Weiter westlich säumen Menschen die Straßen, wenn Gefallene in ihre Heimatdörfer überführt werden. Bilder, die das tiefere Wesen des Konfliktes erfassen.

Um die Lüge von der Nichteinmischung in den Ukrainekonflikt aufrechtzuerhalten, werden Soldaten vor dem Einsatz häufig aus der Armee entlassen. Auch als Tote kann ihnen das noch passieren. Die Begräbnisse finden in aller Abgeschiedenheit und oft nach Einbruch der Dunkelheit statt. Angehörige werden zum Schweigen gezwungen, wenn sie nicht den Anspruch auf die bescheidenen Hinterbliebenenleistungen verlieren wollen.

Angriffe auf Journalisten

Russlands Öffentlichkeit soll auf keinen Fall etwas erfahren von den negativen Seiten des Krieges. Zuerst behinderten Rolltrupps in der Stadt Pskow, nahe der Grenze zu Estland, die Journalisten bei der Berichterstattung und schlugen den Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija krankenhausreif. Danach wurden auch Korrespondenten des unabhängigen Senders Doschd und ein Team der britischen BBC überfallen, als sie zu dem Thema recherchierten.

Im russischen Staatsfernsehen rechtfertigt dagegen die Mutter eines Freiwilligen den Tod ihres Sohnes, der bewusst in den Krieg gezogen sei. Fürchte nicht den Tod, habe sie ihm mit auf den Weg gegeben, sagt die orthodoxe Gläubige. Der Moderator dankt ihr für die Erziehung zu patriotischem Opfergeist.

Nikolai Koslow hatte noch einen Tag vor seinem Kriegseinsatz geheiratet. Seine Frau ist im fünften Monat schwanger. Nikolai brauche noch einige Zeit, um zu verstehen, was passiert sei, sagt sein Onkel traurig. Noch glaube er, wie ein Held behandelt zu werden. Sergei Koslow sammelt in der wohlhabenderen Verwandtschaft bereits Geld für eine Prothese, die sein Neffe später bekommen soll.

Seltsame Pressekonferenz

„Nikolai ist ein echter Soldat“, hat sein Vater Wsewolod Koslow dem Radiosender Echo Moskwy gesagt. Was hätte er auch sonst sagen sollen. Eine Untersuchung des Vorfalls wird der Afghanistanveteran nicht verlangen. Er zweifelt auch daran, dass Nikolai in der Ukraine verwundet worden ist. Sein Sohn hätte an der Grenze zur Ukraine Friedensdienst geleistet, behauptet er später auf einer Pressekonferenz in Osersk. Einschlägige Stellen dürften sich um die Einsicht des Vaters bemüht haben.

Dem Sohn gehe es gut, sagte er da. Ob Nikolai Invalide bleiben werde, wisse er noch nicht. Für Wsewolod Koslow beginnt der Krieg erst jetzt, der innere Zwist zwischen Loyalität und Wahrheit.

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