Pro und Contra Brexit: Schaden die Briten sich selbst?

Am Mittwoch reicht Premierministerin Theresa May die Scheidung von der EU ein. Ob das den Wählern dient, ist umstritten.

knusprig-goldenes Fish & Chips-Gericht

Mit oder ohne EU – den Briten bleibt auf jeden Fall ihre Küche Foto: imago/robertharding

Ja, die Briten schaden sich selbst

Emotionen entscheiden in der Politik, nicht Fakten. Der Brexit ist widersinnig und nur möglich, weil die britischen Wähler an windige Illusionen glauben. Die Versprechen der Brexiteers lauteten: mehr Freiheit, mehr Geld, weniger Einwanderer. Nichts davon wird eintreten. Die normalen Briten werden keinesfalls reicher, sondern vielleicht sogar ärmer. Profitieren wird höchstens eine kleine Elite, die das Brexit-Chaos nutzt, um weitere Steuererleichterungen für die Reichen durchzusetzen.

Die Brexiteers haben stets mit Lügen operiert. Dazu gehörte die Legende, dass Großbritannien keine Demokratie mehr sei – sondern alles in Brüssel entschieden würde. Doch in Wahrheit konnten die Briten über alle wichtigen Gesetze selbst bestimmen. Die Steuer-, Lohn-, Bildungs- oder Gesundheitspolitik wurde in Westminster beschlossen, nicht im EU-Parlament.

Natürlich gibt es Verordnungen, die aus Brüssel kommen. Aber diese Vorgaben werden auch künftig in Großbritannien gelten – weil sie fast immer den Handel berühren. Handel kann ohne Regeln nicht funktionieren, und da die Europäer die wichtigsten Kunden der Briten sind, wird sich an der Grundstruktur nichts ändern: Die Briten müssen sich weiterhin mit den 27 anderen EU-Staaten einigen.

Mehr Freiheit, mehr Geld, weniger Einwanderer – nichts davon wird eintreten

Genauso absurd ist die Hoffnung vieler Briten, sie könnten Geld sparen, wenn sie die EU verlassen. Bisher zahlen die Briten etwa 11 Milliarden Euro netto in den Brüsseler Haushalt ein, und die Brexiteers würden diese Summe gern ins heimische Gesundheitssystem umleiten. Dies wird ein Traum bleiben.

Es ist nämlich nur fair, dass die Briten die ärmeren EU-Staaten unterstützen. Auch Deutschland ist ein großer Nettozahler. Denn vom europaweiten Handel profitieren vor allem die wettbewerbsfähigen Staaten, während die armen Länder tendenziell verlieren. Um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, zahlt sogar Norwegen in die EU-Kassen ein, obwohl es gar kein Mitglied ist. Dieses Schicksal dürfte auch auf die Briten warten.

Auch die Einwanderer waren bisher kein Problem für Großbritannien, sondern haben sogar mehr in die Sozialkassen eingezahlt, als sie von dort bekommen haben.

Der Brexit bekämpft Scheinprobleme, wird aber leider nicht folgenlos bleiben. Denn die britische Elite hat verstanden, dass sich eine einzigartige Chance auftut, um Steuersenkungen durchzudrücken. Typisch sind die Kampagnen von UKCity, einer Lobbytruppe, die die Londoner Banken vertritt: Man bestärkt das Volk in seinem Irrglauben, dass der Brexit die totale Wende sei – und verlangt Kompensationen für die angeblichen Schäden. Das britische Volk wird den Betrug gar nicht bemerken, denn es will ja partout nicht wahrnehmen, dass sich nach einem Brexit wenig ändert – und wird daher den Banken gern entgegenkommen. Nichts macht so blind wie Nationalismus. (Ulrike Herrmann)

Nein, die Briten schaden sich nicht selbst

„Take Back Control“ lautete die Parole, die beim britischen Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 den Befürwortern des EU-Austritts die Mehrheit bescherte. Es war ein ganz einfacher Appell an den demokratischen Urinstinkt: Politische Entscheidungen müssen demokratisch kontrolliert und revidiert werden können.

Auf EU-Ebene wird Politik zwischen Regierungen ausgedealt oder von der nicht gewählten Kommission ausgedacht, und die in EU-Verträgen festgehaltenen Richtungsentscheidungen sind nicht rückholbar. Besser, das entschieden die Briten, ist ein gewähltes Parlament mit der Möglichkeit der Kontrolle und Sanktionen durch das Wahlvolk. Dann obliegt es den Wählerinnen und Wählern allein, welche Politik sie in ihrem Land wollen und wem sie wofür eine parlamentarische Mehrheit erteilen.

Dieser demokratische Instinkt war und ist deshalb in Großbritannien mehrheitsfähig, weil er keine politische Richtungsentscheidung beinhaltete. Der Brexit war kein Wahlsieg für Nigel Farage, sondern der Erfolg eines breiten überparteilichen Bündnisses, geführt von einer deutschstämmigen Labour-Abgeordneten, das alle Bevölkerungsschichten und politischen Sensibilitäten ansprach.

Finanziell ist die EU der Verlierer des Brexit und Großbritannien der Gewinner. Sonst würde die EU ja nicht von der britischen Regierung gigantische Geldsummen als Ausgleich für den Austritt verlangen. Die spannende Frage ist aber nicht, wie hoch der Beitrag am Ende sein wird, mit dem sich London von Brüssel freikauft, sondern was Großbritannien mit der neu gewonnenen Entscheidungsfreiheit anstellt.

Den Brexit wählen hieß eben nicht, für oder auch gegen Steuersenkungen für britische Reiche zu stimmen. Es hieß auch nicht, die britischen Grenzen zu schließen oder sie offen zu halten. Es hieß, solche Entscheidungen ausschließlich Großbritannien selbst zu überlassen.

Die Leute wollen mehr mitreden, auf allen Ebenen. Demokraten sollten das begrüßen

Das Paradebeispiel ist die Migrationspolitik. Die Labour-Regierung von Tony Blair öffnete 2004 früher als jedes andere EU-Land den eigenen Arbeitsmarkt für Arbeitsmigranten aus den osteuropäischen Beitrittsländern. Dass sich Millionen auf den Weg machten, hatte sie nicht gedacht, wie Blair selbst später eingestand. Als die konservative Regierung Cameron dem ein Ende setzen wollte, durfte sie das nicht – wegen der EU. Auf den Folgen der vorherigen Fehlplanung – überlastete öffentliche Dienstleistungen in den Brennpunkten der Immigration und ein Erstarken des Rechtspopulismus – blieb sie aber sitzen. So wird jedes Regierungshandeln unmöglich.

Der Brexit war somit ein Warnsignal der britischen Wähler nicht nur an Brüssel, sondern auch an London. Die Leute wollen mehr mitreden, auf allen Ebenen. Das ist überaus heilsam sowohl für Großbritannien als auch für die EU. Der Brexit bedeutet: Wählen gehen kann etwas verändern. Demokraten sollten das begrüßen. (Dominic Johnson)

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.

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