Öffentlicher Nahverkehr im Libanon: Geordnetes Chaos

Staatlichen ÖPNV gibt es im Libanon kaum. Busse und Taxis werden privat betrieben. Wegen der Wirtschaftskrise steigen mehr Menschen ein.

Eine Frau blickt aus einem geöffneten Fenster in einem Bus

Fenster auf im vollen Bus: Passagierin in Jieh, etwa 20 Kilometer südlich von Beirut Foto: Pierre Gleizes/Rea/laif

BEIRUT taz | Der Busfahrer ist kurz angebunden: „10.000 mehr“, sagt er, als ich ihm einen 50.000-Lira-Schein hinhalte. „Kostet das Ticket nicht 30.000?“, frage ich. „Nein“, sagt der Fahrer und zeigt auf die gegenüberliegende Straßenseite, „die Nummer 5 nimmt 30.000“.

Die Busnummer 2, in die ich am Beiruter Knotenpunkt Sassine einsteige, fährt ab dort die gleiche Strecke wie die 5. Dennoch kostet das Ticket umgerechnet nicht 30, sondern 60 Cent. Den Preis bestimmen die Eigentümer. Denn obwohl das Beiruter Bussystem Nummern für bestimmte Linien und Routen hat und die Busse am Sassineplatz sogar eine Haltestelle, ist der Nahverkehr im Libanon keineswegs einheitlich geregelt, sondern folgt einem informellen System.

„Im Libanon haben wir ein sogenanntes geteiltes Mobilitätssystem“, erklärt Chadi Faraj, Mitgründer und Vorsitzender der Organisation „Riders Rights“. Die Initiative setzt sich für behindertengerechten Nahverkehr, Sicherheitsvorkehrungen und die Rechte von Pas­sa­gie­r*in­nen ein.

Chadi Faraj, Riders Rights

„Die staatlichen Busse nenne ich unsichtbare Busse, weil man sie nie zu Gesicht bekommt“

Um die steht es oft nicht so gut: Üblicherweise teilen sich Fahrgäste einen alten Mitsubishi-Bus oder einen Minivan, in dem 14 Menschen Platz haben. In den Vans gibt es Doppelsitze und eine Reihe aus Klappsitzen neben der Schiebetür, damit die Leute ein- und aussteigen können. „Der Nahverkehr wird hauptsächlich von Privatpersonen oder Familien betrieben, die auf den Linien fahren und die den Bus oder die Kleinbusse besitzen oder mieten“, erklärt Faraj. Der Staat unterhalte zwar ein paar Busse, „ich nenne sie aber unsichtbare Busse, weil man sie nie zu Gesicht bekommt.“

Die Dunkelziffer an Bussen, Vans und Taxis ist riesig

Der Staat reguliert das System nur, indem er Kennzeichen für die Fahrzeuge ausgibt: Plaketten in roter Farbe, die öffentlichen Transport wie Sammeltaxis, Minivans oder Busse markieren. Laut Faraj gibt es 4.000 lizenzierte Minivans und 1.000 Busse. Das Innenministerium gehe aber davon aus, dass es zusätzlich noch 30.000 irreguläre Taxis, 8.000 unlizenzierte Minivans und 1.000 nichtregistrierte Busse gibt.

Das informelle Nahverkehrssystem ist historisch gewachsen. „Nach dem Bürgerkrieg, in den 90er-Jahren, hat der Staat wieder einige Buslinien und Stationen gegründet. Doch das ist gescheitert, weil es viel Korruption gab“, erzählt Chadi Faraj. Zum Beispiel habe ein Unternehmen die Busse betrieben, das dem ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri gehörte. Als die Linien nicht mehr profitabel waren, machte man dicht.

Volle Radwege trügen: Klima- und menschenfreundliche Mobilität ist längst nicht normal. In Deutschland etwa ist der Anteil des Verkehrs an den CO2-Emissionen in den letzten 30 Jahren von 13 auf fast 20 Prozent gestiegen – zu viel Gütertransporte auf der Straße, zu viel Individualverkehr. Doch es gibt spannende neue Konzepte für Räder, Busse, Bahnen und Schiffe mit E-Mobilität und neuen Formen des Teilens. Oder auch mehr Verantwortung für Umweltschädigung. Hier stellen taz-Autor:innen Ideen vor, die bereits ausprobiert werden.

„Gleichzeitig haben Einzelpersonen angefangen, Linien zu betreuen und neue Routen anzufahren.“ Das System habe sich dann anhand der Nachfrage und der Bedürfnisse der Menschen entwickelt – „und auf der Grundlage der Politik von Staat und Regierung, die nicht weiter in das System investiert haben“. Daher gebe es zum Beispiel keine Buslinie Nummer 1 mehr. „Es gibt Monopole bei jeder Buslinie. Jede Linie ist selbst organisiert durch ein Familienunternehmen oder einen Vertrag zwischen Individuen und Betreibern“, sagt Faraj.

Der alte, weiße Mitsubishi-Bus der Nummer 2 hat rote Sternensticker an der Seitenwand. Eine goldene runde Medaille mit Bommel hängt an Rückspiegel, darauf steht: Allah. Beim Anfahren heult der Motor laut auf, dann röhrt er vor sich hin, der Sitz vibriert merklich. Schiebefenster und Schiebetür sind aufgezogen, damit bei der Hitze etwas Fahrtluft hineinzieht. Der Lederbezug der Sitze löst sich an einigen Stellen. An den Fenstern kleben rote Sticker: Rauchen verboten. Doch der Fahrer fährt mit Zigarette im Mund und verkauft rauchend Tickets beim Einstieg. Es gibt keine Busspuren und nur feste Anfangs- und Endhaltestellen. Das geordnete Chaos spiegele den Libanon als Land wider, meint Mobilitätsexperte Faraj.

Wer den Nahverkehr nutzt, gilt als arm

Eine Frau winkt den Bus heran, er hält an einer Kreuzung an. Autos hupen, weil das den Verkehr aufhält. Im Bus sitzen ein älterer Herr, eine etwa 40-jährige Frau in Jeans und Birkenstocksandalen, eine junge Frau mit schwarzem Jutebeutel, ein Mann mit Kopfhörern. Außerdem ein Angestellter einer lokalen Fluggesellschaft – er trägt noch sein Arbeitsoutfit.

„Der Nahverkehr ist mit einem großen Stigma behaftet. Vor der Wirtschaftskrise war er für Menschen gedacht, die sich kein Auto leisten oder keinen Kredit aufnehmen konnten, um ein Auto zu kaufen“, erklärt Faraj. Die Bustickets kosten umgerechnet zwischen 30 und 60 Cent. Ein Platz im Sammeltaxi hingegen kostet mindestens 1,50 Euro.

Die Differenz ist erheblich – in einer Zeit, in der die Menschen eine Wirtschaftskrise durchleben und viele noch immer in der extrem schwachen Landeswährung verdienen. Faraj berichtet: „Seit Beginn der Krise im Jahr 2019 sind die Lebenshaltungskosten stark gestiegen und die Transportkosten wurden verdoppelt, da die Subventionen für Diesel gestrichen wurden. Wir wissen nicht, ob wir eine Mittelschicht haben, aber alle, denen die steigenden Lebenshaltungskosten und die Transportkosten zur Last gefallen sind, nutzen das Nahverkehrssystem.“ Darunter seien viele Regierungsangestellte.

Der Fahrer hupt zwei Frauen an, die am Seitenrand stehen und fragt sie so, ob sie mitfahren wollen – sie wollen. Eine von ihnen ist Hala Kabani. Sie trägt eine Sommerhose mit Blumenmuster, blondierte Haare und leuchtend grünen Kajalstift auf den Augenlidern. Es ist ungewöhnlich, Frauen wie sie im Bus zu sehen. Vor allem Erwachsene, die sich zur Mittel- oder Oberschicht zählen, meiden die Busse. Es gibt das Vorurteil, sie seien schmutzig und nicht sicher. „Doch, es ist sicher. Und ja, es ist schmutzig“, sagt Hala, „aber damit kommen wir schon zurecht.“

Sie komme aus Beirut, lebe aber seit mehr als 40 Jahren in den USA und sei gerade in Beirut zu Besuch. „Auch in den USA und Europa nutzen wir öffentliche Transportmittel, selbst dort sind sie etwas schmutzig.“ Während sie redet, ruckelt der Bus über ein paar Schlaglöcher und Hubbel in der Straße, die Bremse quietscht. „Wenn wir in Eile sind, nehmen wir das Taxi, wenn wir Zeit haben, nehmen wir den Bus.“ Der Hauptgrund sei, dass der Bus günstig und praktisch sei. „Hala!“, ruft ihre Freundin, als der Bus an einer Kreuzung zu Verdun anhält, einem Viertel, das fürs Shopping bekannt ist. Dann sprintet Hala aus dem Bus.

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