Nachruf auf einen linken Intellektuellen: Für Christian Semler

Er war Studentenführer, maoistischer Parteigründer und der Elder Statesman der taz. Und jemand, der die Tugend der Freundlichkeit pflegte.

Christian Semler Bild: Detlev Schilke

Christian Semler hatte etwas Egalitäres an sich, nicht als Pose, sondern als Selbstverständlichkeit. Ob ein Fernsehteam anrückte, das ihn anlässlich eines 68-Jubiläums befragen wollte, oder ob ein verhuschter Praktikant ihn mit einfältigen Fragen behelligte – er widmete sich beiden stets mit dem gleichen zugewandten Interesse.

Ja, wahrscheinlicher war, dass er den medialen Wichtigkeitsinszenierern einen Korb gab und der ratlose Praktikant umso freundlicher mit Auskunft bedacht wurde, inklusive eines Exkurses über einige spektakuläre Päpste des Mittelalters oder die Politik der Kommunistischen Internationalen in den zwanziger Jahren.

In Gesprächen mit ihm wurde jeder stets, egal ob man gerade etwas über Shakespeare, Fragen des Völkerrechts oder polnische Innenpolitik wissen wollte, mit allen nötigen Informationen versorgt. Und meistens erfuhr man dazu noch etwas, von dem man bis dahin noch nichts ahnte. Einen Kurzvortrag über die Geschichte der Kartografie. Oder ein Nachsinnen darüber, warum er in den 50er Jahren, als sich seine fundamentale Skepsis gegenüber der Bundesrepublik ausbildete, das Neue, das diese Republik war, übersehen hatte.

Freundlich war er, und er schätzte die Freundlichkeit sehr. In einem Text über Brecht schrieb er einmal: „Freundlichkeit ist eine Haltung, sie ist lernbar. Freundlichkeit ist zuverlässiger als Liebe.“

Meist klüger als der Rest

Christian Semler war 24 Jahre bei der taz, seit dem Zeitenwendenjahr 1989. Er war in der Zeitung etwas Besonderes, nicht nur, weil er meist klüger als der Rest war. Bei Redaktionssitzungen wartete er oft, bis alle Argumente ausgetauscht und alle Feilschereien um Seiten ausgefochten waren, um der Debatte mit einer hintergründigen Idee einen anderen Drive zu geben. Den „Helmut Schmidt der taz“ nannten ihn manche mit gelassenem Spott. Die taz war sein sozialer Kosmos – und er verkörperte in diesem Kosmos die Geschichte der bundesdeutschen Linken, mit allen Wirrungen und lichten Momenten, Abgründigem und Grandiosem.

Christian Semler stammte aus der deutschen Elite. Seine Mutter war die Kabarettistin und Schauspielerin Ursula Herking, sein Vater Johannes Semler, Mitgründer der CSU und Aufsichtsratsvorsitzender bei BMW. Ihm standen in den 60ern alle Karrieretüren offen, aber er wählte ein vollkommen anderes Leben als linksradikaler Bohemien.

1967/68 war er eine Schlüsselfigur der Revolte. Der Schock, den 1968 für das bundesdeutsche Bürgertum bedeutete, war gerade von Leuten wie ihm verursacht: der akademischen Nachwuchselite, die entschlossen wegwarf, was den Eltern lieb und teuer war.

Nie mehr Vorsitzender

In den siebziger Jahren verbarrikadierte er sich in der KPD-AO, einer maoistischen Sekte. Es war ein Rätsel, wie der Antiautoritäre von 1968 scheinbar umstandslos zum Vorsitzenden einer autoritär-kleinbürgerlichen Truppe wurde. Und ebenso rätselhaft war es, wie vormalige Maoisten wie er sich nach 1980 wieder in das linksalternative Milieu einfädelten und die abgerissenen Freundschaften von 1968 vorsichtig wiederbelebten. Fast so, als wären die Siebziger nur ein seltsamer Traum gewesen. Eine Brücke auf dem Weg zurück in die bundesdeutsche Gesellschaft war Polen, der Aufstand der Solidarność, und die Dissidenten in Ungarn und der Tschechoslowakei.

Christian Semler war kein Renegat wie viele, die 68 und ihre Ausflüge ins totalitäre Denken aus ihrer Biografie radierten, indem sie zu besonders eifrigen Konservativen wurden. Er, der Ausgleichende, Sanfte, hätte in der taz in den von Fraktionskämpfen gekennzeichneten neunziger Jahren Chefredakteur werden können. Er wollte nicht. Nie mehr Vorsitzender. Das war seine leise und praktische Art von Vergangenheitsbearbeitung. Seine Kritik des kommunistischen Totalitarismus war scharf. Er, der Freundschaftsbegabte, hatte Vertraute in Osteuropa und kannte den Blick der dortigen Zivilgesellschaften auf den Realsozialismus.

Er war ein Linker. Seine politische Heimat waren die Friedensliebe, die Vision einer Bürgergesellschaft und die Kritik des Kapitalismus, die indes eingedenk des katastrophalen Scheiterns der Alternative vorgetragen wurde. Er hatte keine Scheu, dissidente Meinungen zu vertreten, wenn es ihm moralisch geboten schien. So wie Anfang der 90er, als er angesichts der Massaker in Bosnien eine militärische Intervention des Westens forderte.

Sein letzter Text ging um das Thema, das ihn am meisten umtrieb: die Nazizeit, die der wesentliche Grund seiner Opposition gegen die Bundesrepublik war. Er schrieb eine Rezension über eine Quellensammlung zum Holocaust. Die heimtückische Krankheit, die schon besiegt schien, war zurückgekehrt. Der Termin in der Notaufnahme drängte. Er schrieb den verabredeten Text fertig, dann ließ er sich ins Krankenhaus bringen.

Er war ein Freund. Sein Tod ist eine Zumutung, die wir nicht akzeptieren können.

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