Eine Junge mit Grubenlampe

Die Stollen in den Minen sind ungesichert, Unfälle kommen oft vor Foto: Francesca Borri

Minenarbeit in Afghanistan:Leben im Dunkeln

In Afghanistan hängt eine Region am Steinkohleabbau und wenigen Hilfsgütern. Sie wollen Investitionen statt Almosen. Und sie kritisieren die Sanktionen.

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Aus dara-i-suf, 26.6.2023, 18:45  Uhr

Unter dem Geröll ist zunächst nur ein Fetzen Stoff sichtbar, dann folgt ein Ellbogen, dann eine Schulter – die bewegt sich, Ali Joumah atmet noch. Seine Kollegen sind unbeeindruckt. Dass ein Stollen einstürzt, ist hier normal, in dieser Kohlemine in Dara-i-Suf in Afghanistan. Als Joumah sich aus dem Geröll wieder an die Luft gekämpft hat, ist seine Stirnlampe noch immer an. „Einen Moment, mir geht es gleich wieder gut“, sagt er. Erst seit letzter Woche arbeitet der Zwölfjährige in der Mine in Dara-i-Suf.

Auf der Landkarte ist es nicht weit, von Kabul nach Dara-i-Suf, etwa 260 Kilometer. Doch die Fahrt von der Hauptstadt dauert 19 Stunden – erst nach Norden, dann zurück nach Süden, mehr staubige und schlammige Pisten als Straßen. Sie winden sich durch die Bergtäler, zwischen über die Wege hineinragenden Felsen und Bachläufe. Es ist still, über den Straßen kreisen die Falken.

Über 400.000 Menschen leben in der Provinz Samangan, verteilt auf knapp 700 Gemeinden: In den meisten gibt es kein fließendes Wasser, keinen Strom, keinen Telefonempfang. Nur Kohle, Schaufeln und Äxte. Das letzte bisschen Hoffnung auf die Zukunft haben die internationalen Sanktionen gegen Afghanistan, eingeführt nach der Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021, zunichte gemacht. In den Minen arbeiten – neben Kindern – auch Universitätsabsolventen, aus ganz Afghanistan kommen sie nach Dara-i-Suf, für ein wenig Einkommen.

Nadir Shah ist 41 Jahre alt, sieht aber aus wie 61. Er ist eine Art Sprecher der Gemeinschaft in Dara-i-Suf. Die Prioritäten des Westens im Konflikt mit den Taliban versteht er nicht. „Dieser Kreuzzug für Frauenrechte macht keinen Sinn. Die Erlasse der Taliban sind hier irrelevant. Es gibt hier keine Parks, keine Sportstudios oder Büros, aus denen man Frauen verbannen könnte.“ Und: „Deswegen hungert ihr uns aus – damit Schulen wieder eröffnet werden, die es nicht gibt.“ Das erste, das wichtigste Recht, sagt er, sei das auf Leben.

Vor Hunger ohnmächtige Kinder

Shahs Bruder hat Pharmazie studiert, ist aber arbeitslos, genauso wie der dritte der Brüder, der kaum lesen und schreiben kann. „Unsere Priorität ist, dass hier eine Straße gebaut wird“, sagt der Pharmazeut. „Ohne Straßen keine Wirtschaft und ohne Wirtschaft keine Entwicklung“, sagt er. Kinder hier würden vor Hunger ohnmächtig. „Was sollen sie in der Schule lernen?“

Hayatullah Rahimi hat im Alter von sechs Jahren begonnen zu arbeiten. Mit 16 hat er bei einem Unfall ein Bein verloren, und später einen Arm, als sein gebrochener Ellenbogen falsch heilte. Sein verbliebenes Bein kann er nicht benutzten. Er humpelt auch nicht, dafür fehlen ihm die Krücken. Stattdessen zieht er sich über den Boden vorwärts. Zwei, drei Menschen würden hier jede Woche sterben, erzählt er: „Sie werden nicht einmal gezählt. Wenn du Afghane bist, bist du nicht mal eine Nummer.“ Die einzigen Toten, die hier je gezählt wurden, seien die Soldaten der Nato-Länder gewesen.

Ein anderer Minenarbeiter ist Farhad Balki, 28 Jahre alt, Absolvent eines Masterstudiengangs in internationalem Recht – wie viele seiner Kollegen hat er einen Universitätsabschluss. Die meisten von ihnen hatten andere Jobs, erzählen sie, vor der Machtübernahme durch die Taliban, vor den Sanktionen. Einer arbeitete als Ingenieur, ein anderer als Tierarzt.

Eine Junge mit schwarzem Gesicht sitzt auf einem Esel

Karges Land: Es gibt kaum fließend Wasser, Strom oder Straßen. Nur Kohle, Schaufeln und Äxte Foto: Francesca Borri

Einer erzählt: Er sei eigentlich Chirurg, habe aber seine Stelle verloren, als seine Station in einer Klinik dichtmachen musste. Der Grund, sagt er, sei die Blockade der Reserven der afghanischen Zentralbank durch die Vereinigten Staaten, die gleichzeitig auch das gesamte afghanische Bankensystem blockiert und den Zufluss von Geld aus dem Ausland in das von den Taliban beherrschte Land verhindern soll.

Sanktionen ohne Forderungen

Bei Ashraf Ghani, Afghanistans Präsident vor der Machtübernahme der Islamisten, und seinen korrupten Kumpels habe der Westen nicht einen Cent eingezogen, sagt Balkhi. Immer wieder werden Vorwürfe laut: Ghani habe, beim Fall von Kabul an die Taliban, das Land mit Millionenbeträgen im ein- bis dreistelligen Bereich im Gepäck verlassen.

„Aber das Schlimmste ist, dass diese Sanktionen zahnlos sind. Denn sie sind nicht mit einer konkreten Forderung verbunden. Sollten die Schulen wieder öffnen, würden die Amerikaner bestimmt sagen: Aber zuerst Neuwahlen, eine neue Regierung. Warum sollten die Taliban also einlenken?“, fragt Balkhi.

„Sanktionen zu verhängen, ist viel einfacher, als zu bombardieren. Aber Sanktionen sind eine Waffe, die nach den Genfer Konventionen verboten sein sollte, weil sie absichtlich gegen Zivilisten gerichtet ist“, sagt er. „Die Wahrheit ist, dass der Krieg hier nie ein Ende gefunden hat. Ihr seid nie gegangen.“

Manche Rechtsexperten ziehen eine Parallele zwischen dem Einsatz nuklearer Waffen und dem von Sanktionen. Wie die Folgen von Strahlenbelastung ziehen sich die Konsequenzen der Sanktionen auf die Zivilbevölkerung durch die künftigen Generationen.

Andere Probleme als Bärte

Laila Naim ist vielleicht 34 Jahre alt, oder doch 36 – sicher weiß sie es nicht, weil es hier keine Behörde gibt, die die Geburten der Bevölkerung registriert. Mit ihrem 8-jährigen Sohn steht sie da, er ist etwa so groß wie ein dreijähriges Kind. Um sie reihen sich andere Mütter, Schwestern, Tanten, neben ihnen Kinder, knochig, schwach und kränklich. Ihre Kritik richtet sie nicht nur an den Westen, sondern auch an die Taliban: „Haben sie zwanzig Jahre lang gekämpft, nur um dann die Bärte der Männer zu überprüfen“, den sich gläubige Muslime wachsen lassen sollen, fragt sie. „Es gibt so viel dringlichere Probleme.“

Die Vereinten Nationen (UN) versuchen, mit Naturalien zu helfen, im Rahmen eines Programms: „Essen für Arbeit“. Immer wieder verfahren die UN so, wenn den Menschen zwar geholfen werden soll, aber nicht dem Regime, unter dem sie leben. Die vor Ort vertretenen UN-Institutionen heuern lokale Arbeitskräfte an, und bezahlen sie mit Mehl, Reis, Öl. „Als wären wir Tiere, die nichts brauchen, außer einen Napf Essen“, sagt Ahmed Ari.

Er ist 31 Jahre alt, sein Job: Schlamm schaufeln, um eine ebene Fläche zu schaffen, das lokale Äquivalent zum Bau von Teerstraßen. „Sanktionen und Hilfe zur selben Zeit – was für eine Strategie ist das?“, fragt er. „Wir wollen Investitionen, keine Spenden. Wir wollen Geschäftsmöglichkeiten, keine Hilfsorganisationen.“

Ahmed Ari, 31 Jahre, Schlammschaufler

„Wir wollen Investitionen, keine Spenden. Wir wollen Geschäftsmöglichkeiten, keine Hilfsorganisationen. Als wären wir Tiere, die nichts brauchen, außer einen Napf Essen“

Doch auch ein „Bargeld für Arbeit“-Programm gibt es, betrieben von der UN-Behörde für Entwicklung, die UNDP. Ungelernte Arbeiter bekommen 400 Afghani – etwa vier US-Dollar – pro Woche, erfahrene Arbeiter 700. Eine 120 Meter lange Wand sollen sie bauen, neben einer Schlucht und einer Straße, um zu verhindern, dass bei starkem Regen die Straße – eher ein Weg aus Erde – überschwemmt wird. 120 Meter – mehr wird nicht gebraucht, denn bald darauf endet die Straße.

Keine Arbeit, außer in den Minen

Einer der Projektverantwortlichen erklärt: So könne Afghanistan endlich – Schritt für Schritt – unabhängig werden von Hilfszahlungen, die 75 Prozent der Regierungsausgaben ausmachen. Und: Die Menschen erhalten eine Art praktische Ausbildung. Erfahrene Arbeiter brechen Steine mit dem Hammer klein. Ungelernte Arbeiter laden diese dann in Karren. 37 Männer arbeiten hier, zehn Tage lang.

Sonst gibt es keine Arbeit in Dara-i-Suf, außer in den Minen. Manche von ihnen sehen auf den ersten Blick aus wie Hügel, doch von innen sind sie durchzogen von engen Gängen, gebaut ohne Stützen. In Dara-i-Suf führen alle Wege zur Kohle, und alle Wege unter die Erde.

Die Arbeit ist hart: nach unten steigen, nach oben klettern, in Sandalen und gelben Helmen, bei 40 Grad Hitze und minus 20 Grad Kälte. Zwischen den Minen leben die Arbeiter, in Unterständen aus Lehm und Stroh, alte sowjetische Fahnen dienen als Windschutz. In den Behausungen werden auch Esel zusammengepfercht, die den Minenarbeitern als Lastentiere dienen. Ein kleiner Junge, der von einem Esel herabsteigt, kennt das Wort „Schicht“ nicht – nur „Arbeit“.

Doch eine Überraschung hält Dar-i-Sufi bereit: Es gibt eine Schule – Jungen lernen auf der rechten, Mädchen auf der linken Seite. Von allen von den Taliban bisher erlassenen Dekreten, ist die Untersagung von weiterführender Bildung für Mädchen und Frauen das wohl kontroverseste. Viele Afghanen glauben: Das Verbot ist nicht aus der Ideologie der Taliban geboren, sondern aus Pragmatismus – dass Frauen und Mädchen wieder zur Schule oder auf die Universität gehen dürfen, sei ein gutes Druckmittel für Verhandlungen. Sogar die Töchter von Suhail Shaheen, Sprecher der Islamischen Emirats Afghanistan, besuchen in Katar das College.

Mädchen sitzen in einer Hälfte der Klasse, Jungen in der anderen Hälfte, dazwischen ein Lehrer

Mädchen links, Jungen rechts: Englischunterricht an der Dorfschule Foto: Francesca Borri

Marmelade statt Wasser
Sayed Zahir, Gouverneur von Dara-i-Suf

„Ich sage den Hilfsorganisationen: Wir brauchen Trinkwasser. Sie sagen, es gibt nur eine Förderung dafür, Witwen beizubringen, wie sie Biomarmelade herstellen“

Sayed Zahir, Gouverneur von Dara-i-Suf und Hazara – eine von den Taliban diskriminierte schiitische Minderheit Afghanistans – sagt: „Wer arm ist, hat keine Stimme. Man hat weder Zeit noch Energie dafür.“ Deswegen brauche man eigentlich die UN, die Zivilorganisationen. Stattdessen, moniert er, brächten diese nur vorgefertigte Projekte mit:

„Ich sage ihnen: Wir brauchen Trinkwasser. Sie sagen, es gibt nur eine Förderung dafür, Witwen beizubringen, wie sie Biomarmelade herstellen.“ In seiner Hand hält er einen Apfel, gespendet durch das World Food Programm, und fragt: „Was bringt mit das?“ Dara-i-Suf, sagt er, sei eine ideale Umgebung für Obstplantagen. „Ich brauche nur einen Baum. Sonst nichts.“

Aus dem Englischen von Lisa Schneider.

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