Literatursoziologin über das Schreiben: „Eine hoch soziale Tätigkeit“

Wer warum Au­to­r:in wird und warum nicht mal Carl Spitzwegs „Armer Poet“ ganz alleine dichtet: Die Soziologin Carolin Amlinger über das Schreiben.

Eine Frau betrachtet das Kunstwerk "Der arme Poet" von Carl Spitzweg in der Staatsgalerie in Stuttgart, Oktober 2012

Auch seine Dachkammer ist Teil des gesellschaftlichen Hauses: „Der arme Poet“ von Carl Spitzweg Foto: Jan-Philipp Strobel/dpa

taz: Frau Amlinger, haben sie immer gewusst, dass sie schreiben wollen – oder es zumindest mal tun würden?

Carolin Amlinger: Die Autor:innen, mit denen ich gesprochen habe, waren sich tatsächlich immer darüber im Klaren, dass sie schreiben wollen und schreiben werden. Bei mir, glaube ich, war das etwas kontingenter: Ich habe schon immer viel Gegenwartsliteratur gelesen hat und ich habe mich als Soziologin schon früh dafür interessiert, was „under the cover“ passiert, hinter dem Buchrücken. Literatur war für mich nie nur eine ästhetische Eigenwelt, sondern gleichzeitig ein soziales Universum, das nach eigenen Gesetzen funktioniert. Aber zum Schreiben fühlte ich mich nicht unbedingt wie viele Au­to­r:in­nen berufen, sondern mein Beruf brachte mich – ganz pragmatisch – zum Schreiben.

Ich frage, weil die etwaige Berufenheit Schreibender so prominent und so weit vorne in Ihrem Buch auftritt – was den Verdacht nährt: Das wird wohl über den geschilderten Einzelfall hinaus Gültigkeit haben.

Das hat sich tatsächlich durch nahezu alle Gespräche gezogen: Sätze wie „Ich muss schreiben“ oder „ich kann nicht anders als schreiben“ sind mir immer wieder begegnet. Also etwas, das dem nüchternen Erwerbssinn eines Berufes auf den ersten Blick entgegensteht. Schreiben ist für Au­to­r:in­nen immer noch eine leidenschaftliche Hingabe an die Tätigkeit, auch gegen äußere Hindernisse. Vermutlich gerade weil es schwer ist, vom Schreiben zu leben.

Zu den verbreitetsten Bildern vom Schreiben – oder den Schreibenden – dürfte das Alleinsein zählen: als Eigenschaft, vielleicht sogar Bedingung dafür, schreiben können. Ich las, dass Carl Spitzwegs Bild (bzw. Bilder) „Der arme Poet“ seit Beginn des 21. Jahrhunderts in Umfragen immer wieder das beliebteste oder eines der beliebtesten Bilder der Deutschen ist. Sich diesem von solchen Mythen und solcher Heroik umrankten Phänomen soziologisch anzunähern, ausgerechnet: Das kann doch gar nicht ergiebig sein. Oder gerade doch?

geboren 1984, Literatursoziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Basel. Ihr Buch „Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit“ ist 2021 bei Suhrkamp erschienen (800 S., 32 Euro; E-Book 31,99 Euro).

Der soziologische Blick kann gerade die Illusion von Autonomie entlarven. Selbst der Poet Spitzwegs ist nur auf dem Gemälde isoliert von der Gesellschaft. In seiner Dachkammer bewohnt er das gesellschaftliche Haus, wenn auch ein randständiges Zimmer. Sein literarisches Werk gilt nur, indem es anerkannt wird durch legitimierte Institutionen wie beispielsweise Literaturpreise oder auch Verlage, die das Werk veröffentlichen. Das heißt: Was uns als autonom erscheint, ist eigentlich eine hoch soziale Tätigkeit.

Die Rolle des Verlags hat sich ja in kurzer Zeit stark verändert, es ist heute leichter denn je, selbst (s)ein Buch herauszubringen.

Es ist ein wenig widersprüchlicher. Auf der einen Seite können wir heute theoretisch alle Au­to­r:in­nen sein, indem wir unser Buch selbst veröffentlichen. Auf der anderen Seite nimmt parallel aber auch die Professionalisierung zu. Wir können etwa literarisches Schreiben studieren, und viele tun dies auch. Das Perfide ist allerdings, dass gerade die Verberuflichung suggeriert, Schreiben sei ein Beruf wie jeder andere – aber das ist es nicht.

Inwiefern?

Schreiben ermöglicht in einem klassischen berufssoziologischen Sinn keinen langfristigen Erwerb. Die Autor:innen, mit denen ich gesprochen habe, können nicht oder kaum von ihren Honoraren leben. Preise und Auszeichnungen, Formen öffentlicher Förderung also, die die volatilen Marktdynamiken abfedern soll, werden als kontingent und potenziell auch als ungerecht wahrgenommen. Also, wir haben auf der einen Seite die Entwicklung, dass theoretisch alle schreiben können, aber de facto können nur wenige davon ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Und nun tritt auch noch Künstliche Intelligenz hinzu mit dem Versprechen, kalkulierbare Markterfolge liefern zu können. Hat das bei den von Ihnen Befragten eine Rolle gespielt, oder sahen die ihre Konkurrenz eher noch woanders?

Damals, also vor über fünf Jahren, wurde die Konkurrenz noch stärker bei Selfpublishern verortet. Mir sind teilweise alte Stereotype wieder begegnet, die von männlichen Schriftstellern bereits im 19. Jahrhundert geäußert wurden, wie der Vorwurf des geschäftsschädigenden Dilettantismus von „schreibenden Hausfrauen“. Ihren Werken wurde Literarizität abgesprochen, und alte, verstaubte, geradezu ständische Modelle von Autorschaft schimmerten manchmal zwischen den Zeilen durch. Viele Autor:innen, mit denen ich gesprochen habe, waren gegenüber digitalisiertem Schreiben eher skeptisch eingestellt.

Warum genau?

Weil sie – durchaus zu Recht – Sorge hatten um ihr Berufsmodell von freier Autorschaft, das gebunden ist an Werkherrschaft, also an das geistige Eigentum. Da drohen durchaus berufliche Standards unterminiert zu werden. Ich habe aber den Eindruck, dass ein Großteil der Au­to­r:in­nen einen durchaus pragmatischen Umgang mit KI hat: Sie wird als Werkzeug benutzt, das die eigene Kreativität befördert. Das Spannende ist doch eher, ob wir, die Leser:innen, einen autorlosen Text lesen würden. Oder brauchen wir Autorschaft als eine notwendige Fiktion, die zur Literatur gehört?

Ich glaube, ich kenne niemanden, der nicht in den Laden geht und fragt nach dem … bei Ihnen ist das Beispiel „der neue Kehlmann“. Das wäre also ein interessantes Experiment: Ein Verlag bringt Texte, von denen er überzeugt ist, unter Geheimhaltung der Au­to­r:in­nen­schaft auf den Markt – das dürfte eine ziemliche Pleite werden.

Das hätte ich auch gedacht. Aber ich habe meine Studierenden gefragt, ob sie einen KI-generierten Text lesen würden. Und zu meiner Verwunderung hatte die Mehrheit damit gar kein Problem – solange ihre Erwartungen an den Text erfüllt werden.

Lesung: Do, 29. 6., 19 Uhr, Wolfenbüttel, Gartensaal im Lessinghaus.

Platzreservierung: kulturprg@hab.de, 05331/808203

Sie haben die Krise erwähnt: Der Buchmarkt – oder besser: auch der Buchmarkt – wird gerne als in der Krise befindlich beschrieben. Ganz vorne steht bei Ihnen der Satz: „Das Ende der Buchkultur ist nicht zu befürchten.“ Kann ihre Forschung, können deren Ergebnisse, kann also Ihr Buch irgendwem Beruhigung stiften, der zum Beispiel davon lebt, Bücher zu schreiben; oder davon, dass andere sie geschrieben haben?

Ich kann insofern beruhigen, als dass die Krisensymptome, mit denen wir heute zu kämpfen haben – die tendenzielle Überproduktion von Titeln oder die Konzentration des Verlagswesens – allesamt zum modernen Buchmarkt dazugehören. Diese Entwicklungen gab es schon immer, und wird es immer wieder geben. Gleichzeitig gibt es aber auch Anlass zur Beunruhigung: Gerade in Zeiten, in denen wir tatsächlich mit einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Mediums Buch zu kämpfen haben, ist es wahrscheinlicher, dass die Krisen, die latent im Buchmarkt schlummern, nochmal stärker in Erscheinung treten.

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