Kommentar Ein Jahr Große Koalition: Diese verdammte Pflicht

Die Große Koalition ist keineswegs besser als ihr Ruf. Im Gegenteil, sie wirkt erschöpft, pfeift auf dem letzten Loch – und muss doch weitermachen.

Mehrere Menschen, darunter Angela Merkel, Andrea Nahles und Horst Seehofer stehen vor einer blauen Wand

Hier noch entspannt: CDU und SPD unterzeichneten den Koalitionsvertrag im März 2018 Foto: dpa

„Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Auf Wiedersehen.“ Mit diesem an politischer Verantwortungslosigkeit kaum zu überbietenden Gruß ließ FDP-Chef Christian Lindner im November 2017 die Möglichkeit einer Jamaika-Koalition im Bund platzen. Union, Liberale und Grüne hatten zu diesem Zeitpunkt Wochen der Sondierung hinter sich, das politische Gelände wirkte übersichtlich; trotz einiger Untiefen und Stromschnellen schien das Reiseziel Jamaika erreichbar. Aber dann kam Christian Lindner und schrottete die gesellschaftliche Hoffnung auf vier progressive Jahre für dieses Land und Europa.

An diesen nächtlichen Auftritt sollte man denken, wenn es um die Frage geht, wie erfolgreich die seit einem Jahr regierende Große Koalition ist. Nein, das war keine Liebesheirat. Dennoch muss festgestellt werden: Die Groko ist keineswegs „Besser als ihr Ruf“, wie das der geschätzte Kollege Ulrich Schulte am Mittwoch geschrieben hat. Im Gegenteil, sie wirkt erschöpft und pfeift auf dem letzten Loch – und ist doch verdammt, weiterzumachen. Dank Lindners Liberalen.

Die Bilanz fällt arg mäßig aus für ein Team, das den Findungsprozess überspringen durfte. Denn genau genommen führen Union und SPD das Land nun schon seit mehr als fünf Jahren am Stück. Vor allem den SozialdemokratInnen bekommt das bekanntlich schlecht. Sie verschleißen Vorsitzenden um Vorsitzenden, Spitzenkandidaten und GeneralsekretärInnen – heute bilden Partei und Fraktion eine Verlierercombo, die sich verbissen an ihre schwindende Macht klammert. Die Wählerschaft dankt es ihnen mit Liebesentzug inklusive Verachtung für so viel politische Schmerzbefreitheit. Die Basis sehnt den Gang in die Opposition herbei.

Als Jamaika scheiterte, dürften die GenossInnen im Willy-Brandt-Haus einen heftigen Phantomschmerz verspürt haben. Gerade hatten sie, von der Last der Verantwortung befreit, die Regierung verlassen dürfen. Fraktionschefin Andrea Nahles hatte CDU und CSU in Aussicht gestellt, ab jetzt gebe es „in die Fresse“. Und Nochparteichef Martin Schulz hatte einen weiteren Gang in die Große Koalition kategorisch ausgeschlossen. Und dann? Rief wieder diese verdammte Pflicht. Verantwortungslosigkeit kann man also der SPD nicht vorwerfen, wenn es um ihre Regierungsbeteiligung geht. Selbstgenügsamkeit aber sehr wohl.

Vollmundige Versprechen im Koalitionsvertrag

„Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“, so lautet die programmatische Überschrift des Koalitionsvertrages. Nichts davon haben Union und SPD eingelöst. Statt das im Wahlkampf inbrünstig in Aussicht gestellte „Vertrauen“ zwischen Politik und Bürgerschaft zu reparieren, machten sich CDU und CSU flugs daran, aufeinander einzudreschen. Horst Seehofer, ausgestattet mit maximaler Machtfülle, wollte, statt zu arbeiten, Angela Merkel ausknocken. Merkel wiederum verlor ihren treuen Fraktionsvorsitzenden und räumte schließlich die Parteizentrale. Ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer ist seither bemüht, eine Art gesellschaftliches Reizklima herzustellen.

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Und die SPD? Wechselte zum x-ten Mal ihreN VorsitzendeN aus, winkte die Beförderung von Seehofers Vertrautem Hans-Georg Maaßen durch und ruderte anschließend er­schrocken zurück. Nun schicken die Sozis ihre beste Frau nach Brüssel, damit auch wirklich niemand mehr mitkriegt, wie gut Katarina Barley ar­beitet.

Wenn CDU, CSU und SPD doch mal einen Punkt aus dem Koalitionsvertrag abarbeiten, fangen sie an zu streiten. Klimapolitik? Nur, wenn deutsche AutofahrerInnen weiter bei Tempo 200 ihren Diesel ausfahren können. Grundrente? Ja, aber nur für jene, die bereit sind, darum zu betteln. Das alles, während rund um das Regierungsviertel RentnerInnen in Abfallbehältern nach Pfandflaschen wühlen. Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren? Daraus kann nur eine Schlussfolgerung gezogen werden: Endlich richtig regieren.

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1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

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