Journalist über Protestbewegungen: „Es gelang, Regierungen zu stürzen“

Scheiterten Protestbewegungen der 10er-Jahre und wenn ja, woran? Der Frage ist Vincent Bevins in seinem Buch „If we Burn“ nachgegangen.

Ein Platz in der Nacht voller Lichter und Menschen

Massenproteste gegen die ägyptische Regierung 2011 auf dem Tahrirplatz in Kairo Foto: Mohamed Abd El Ghany/reuters

taz: Herr Bevins, in Ihrem neuen Buch „If We Burn“ schrei­ben Sie über die Massenproteste, die von 2010 bis 2020 viele Teile der Welt erfassten und tiefgreifenden Wandel einleiteten. Wodurch zeichneten diese sich aus?

Vincent Bevins: Das lässt sich am besten mit dem Tahrirplatz in Kairo erklären. 2011 konnte man dort viele Elemente beobachten, die ich als charakteristisch für diese Dekade betrachte: Horizontal organisierte, führerlose, vermeintlich spontane, digital koordinierte Massenproteste auf öffentlichen Plätzen. Die meisten Organisatoren hätten nie erwartet, dass der Protest tatsächlich eine Regierung aus dem Amt jagen würde. Der Ausbruch kam völlig überraschend und die einzige Klammer vieler Protestierender war die Opposition zum Diktator. Die Ereignisse in Ägypten inspirierten Bewegungen in anderen Ländern.

Hing der Ausbruch von Massenprotesten rund um die Welt auch mit den neuen digitalen Möglichkeiten durch das Internet zusammen?

In den Ländern, die ich für mein Buch analysiert habe, gelang es, Regierungen zu destabilisieren und in einigen Fällen sogar zu stürzen. Dafür gab es viele sich überschneidende Erklärungen. Die sozialen Medien sind definitiv eine Erklärung, warum in einigen Ländern revolutionäre Situationen entstanden. Es war einfach, Menschen auf die Straße zu bringen. Menschen, die sich vorher nicht kannten und politisch sehr unterschiedlich waren. Das kann am Anfang hilfreich sein, aber in revolutionären Situationen zu Problemen führen.

39, ist Journalist in São Paulo. Sein Buch „Die Jakarta Methode“ gewann mehrere Preise. Im Oktober 2023 erschien „If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution“ bei PublicAffairs.

Sie schreiben, die Resultate „waren anders als die Ziele der Bewegung“. In sieben von zehn von Ihnen untersuchten Ländern habe es große Rückschritte gegeben. Sie führten zu dem Gegenteil dessen, was sie anfänglich einforderten. Wie ist das Scheitern zu erklären?

Proteste hat es schon immer gegeben. Aber meist war es so: Menschen demonstrierten, und nichts passierte. Im Jahr 2003 gingen Millionen von Menschen rund um die Welt gegen den Irakkrieg auf die Straße. Die Welt schickte George W. Bush und seinen Verbündeten eine Nachricht, doch die ignorierten sie. Ab 2010 sehen wir aber Erfolge von Protesten, zumindest anfänglich. Es gelang, Regierungen zu stürzen oder zumindest stark zu schwächen. Revolutionäre Situationen brachen aus, ein Machtvakuum entstand. Aber diese Art der Proteste – horizontal, führerlos, wo sich die Teilnehmer nicht kennen und sie in vielen Punkten nicht übereinstimmen – ist nicht dafür gemacht, dieses Vakuum zu füllen. Das taten in vielen Fällen Menschen, die ganz andere Vorstellungen hatten, was mit dem Land geschehen sollte.

Viele dieser Proteste wurden von kleinen linken Gruppen organisiert, aber wurden im Laufe der Zeit so groß, dass sich ihr Charakter änderte.

Große Teile der antiautoritären Linken rund um die Welt waren bis 2010 fest davon überzeugt, dass Massenrevolten zwangsläufig Fortschritt bringen. Das Volk habe ein Interesse daran, die Eliten loszuwerden, dachten sie. Auf der Straße entstehe eine demokratische, progressive Linke. Was sie zu ihrem Horror feststellen mussten: Das Volk ist immer eine Zusammensetzung von Individuen. Und die Menschen, die bei ihren Revolten auf die Straße gingen, waren ganz anders, als sie dachten.

Haben Sie ein Beispiel?

In Brasilien plante die MPL, eine Gruppe Anarchisten, sehr genau, wie man so viel Druck auf der Straße aufbaut, um soziale Revolten auszulösen. Das gelang ihnen auch. Doch in der Mehrheit waren es keine Linken mehr, die demonstrierten. Es waren ganz unterschiedliche Menschen, darunter auch, was ich als Proto-Bolsonaristen (Anhänger des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro; d. Red.) bezeichnen würde. Die neuen Teilnehmer ignorierten die Regeln der Organisatoren und verdrängten die Linken von der Straße. Der Charakter der Proteste veränderte sich. Den Rechten wurde klar, dass auch sie Massenproteste organisieren können.

Der argentinische Historiker Pablo Stefanoni fragt in seinem Buch „¿La rebeldía se volvió de derecha?“ (Ist die Rebellion nach rechts abgedriftet?), ob die Rechte den Linken die Hegemonie auf der Straße abgenommen hat. Wie sehen Sie das?

Die Straße kann der Linken oder der Rechten gehören, das war schon immer so. Staatsstreichen in Lateinamerika sind oft Proteste vorausgegangen. Vor dem von den USA geschützten Putsch 1964 in Brasilien gab es Demonstrationen der Mittelschicht, ebenso 1973 in Chile. Auch in den 1930er Jahren gewann die Rechte den Kampf um die Straße. Aber zwischen 1989 und 2011 glaubten viele von uns der Erzählung, dass Fortschritt unausweichlich ist, wenn nur genug Menschen mit guten Absichten auf die Straßen ziehen. Dazu hat auch ein gewisser Techno-Optimismus beigetragen, also die Vorstellung, das Internet und die sozialen Medien machten die Welt demokratischer. Ich verstehe, warum so viele Menschen so dachten, ich tat das zum Teil auch. Aber das Internet hat die Regeln der Politik nicht verändert.

Sie schreiben, die Massenproteste seien wie Explosionen gewesen und hätten ein politisches Vakuum geschaffen. Das sei von verschiedenen Kräften gefüllt worden. In Ägypten vom Militär, in der Ukraine von Oligarchen, in der Türkei von Erdoğ an. Warum ist es progressiven Kräften nicht gelungen, dieses Vakuum zu füllen.

Wir müssen uns anschauen, wer am besten dafür ausgestattet ist, ein Machtvakuum zu füllen. In einigen Fällen sind es die nationalen Eliten, in anderen Fällen internationale imperialistische Akteure. Aber es stimmt nicht, dass nirgendwo progressive Kräfte das Machtvakuum füllten. In Chile 2019 profitierte Gabriel Boric, ehemaliger Studentenführer (und heutiger Präsident Chiles; d. Red.), von den Massenprotesten. Trotz einiger Differenzen stand er mehr oder weniger auf der Seite der Protestbewegung.

Sie zitieren in Ihrem Buch einen brasilianischen Aktivsten: „Wir hatten jedes Detail geplant, bis hin zu dem Moment, an dem wir Erfolg haben würden. Wir hatten absolut keinen Plan, was danach kommt.“ Welche Lehre können oder sollten Linke daraus ziehen?

Ich hörte solche Sätze von vielen Menschen, nicht nur in Brasilien. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens, wie ich schon sagte, glaubten viele Linke, dass Massenproteste automatisch positiven Wandel bringen. Zweitens glaubten viele nicht an ihren eigenen Erfolg. Die Protestbewegung in Ägypten hoffte, viele Menschen auf die Straße zu bekommen, auf eine starke Reaktion gegen Polizeigewalt. Aber sie waren nicht darauf vorbereitet, die Hauptstadt zu übernehmen. In Brasilien wollten sie die Erhöhung der Busfahrpreise rückgängig machen, aber sie rechneten nicht mit so einer massiven Explosion auf der Straße. Was wir davon lernen können: Man braucht nicht unbedingt einen strikten Plan, an den man sich dogmatisch halten muss. Es wird viele Unberechenbarkeiten im Laufe des Prozesses geben. Man braucht aber eine generelle Vorstellung davon, was man erreichen will und wie man dort hinkommt. Außerdem benötigt man demokratische Organisationen, die flexibel genug sind, um auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren zu können.

In Ihrem Buch zitieren Sie viele Aktivisten, die nach Massenprotesten dafür plädieren, zu klassischeren Modellen wie Parteien zurückzukehren. Könnte das eine Lösung für das Dilemma der Protestbewegungen sein?

Das habe ich bewusst offengelassen. Es ist ein journalistisches Buch, ich habe 225 Interviews geführt. Den Antworten, die ich am meisten gehört habe, gebe ich in den letzten Kapiteln mehr Gewicht. Es stimmt, viele der Interviewten sagten, es brauche irgendeine Art von Organisation. Einige kommen zurück zu revolutionären Parteien, andere zu Gewerkschaften, wieder andere zu sozialen Bewegungen. Das hängt stark vom Fokus der einzelnen Länder ab. In Brasilien ist zum Beispiel die Landlosenbewegung MST sehr stark und könnte so eine Rolle erfüllen. Das hängt damit zusammen, dass sie sehr flexibel ist und ihre Taktiken anpassen kann.

Wir erleben eine Intensivierung des Neoliberalismus, viele Konflikte und Kriege. Macht die aktuelle Lage der Welt eine neue Welle von Massenprotesten wahrscheinlicher?

Wir haben weiterhin sehr viele Gründe, um auf die Straße zu gehen. Massenproteste sind eine logische Reaktion auf Ungerechtigkeit. Aber ich glaube, dass Proteste alleine nicht ausreichen.

An Orten wie dem Gezipark in Istanbul wurden linke Utopien ausprobiert. Was ist davon übrig geblieben?

Antiautoritäre Aufstände ermöglichen Experimente und das Austesten neuer sozialer Beziehungen. Sie erlauben es uns, zu träumen, im positiven Sinne. Das kann sehr inspirierend sein und Menschen für den Protest motivieren. Orte wie der Gezipark sind bis heute eine Inspiration. Das könnte man als das Vermächtnis dieser Proteste bezeichnen. Was ich aber in meinem Buch ausdrücken will: Inspirierende, demokratische Experimente führen nicht zwangsläufig zu Veränderungen. Denn es wird eine Konterrevolution geben. Man muss den Menschen zeigen, wo man hin will und wie man das erreichen kann.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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