Das Foto eines Jungen ist auf eine Leinwand projeziert, Schattenhaft die Zuschauerköpfe von hinten

Foto: James Jackman/redux/laif

Hype um Wahre Verbrechen:True Crime trifft True Trauer

Auf der CrimeCon kommen jedes Jahr Tausende zusammen, um ihre Leidenschaft auszuleben. Was passiert, wenn Angehörige der Mordopfer dabei sind?

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Aus orlando, 26.11.2023, 13:23  Uhr

Als Stacy Chapin den großen Konferenzsaal der CrimeCon in Orlando, Florida, betritt, stößt sie einen Schrei aus. Fast 3.000 Menschen sind hier zusammengekommen, um der forensischen Analyse eines Collegeprofessors aus Alabama zu lauschen. Der Gegenstand: die brutale Ermordung von Chapins Sohn Ethan und drei seiner Collegefreunde vergangenes Jahr in Idaho.

Rasch zieht sich Stacy Chapin in eine Nische zurück und hört der Diskussion weiter zu. Während der Redner zunächst den Namen der Freundin ihres Sohns – auch sie ist eines der Mordopfer – falsch ausspricht und dann völlig danebenliegt bei der Landschaftsbeschreibung rund um den Tatort, murmelt sie leise vor sich hin. Die Zu­hö­re­r:in­nen sind ganz in den Bann gezogen von den Ausführungen des Mannes, Chapin hingegen beschließt, den Saal durch eine Nebentür wieder zu verlassen.

„Warum darf diese Person vor all diesen Leuten über mein Kind sprechen?“ flüstert sie auf dem Flur. Und fragt sich dann: „Sollte ich auf die Bühne gehen?“

Zehn Monate ist es an diesem Tag im September 2023 her, dass Stacy Chapin sich von heute auf morgen im Mittelpunkt der landesweiten Obsession für True Crime wiedergefunden hatte. Heerscharen von Podcast-­Hö­re­r:in­nen, In­ter­net-­Kom­men­ta­to­r:in­nen und Ama­teur­de­tek­ti­v:in­nen waren ganz vernarrt gewesen in das Rätsel um den Mord an Ethan Chapin und drei anderen Studierenden der Universität von Idaho, die eines Nachts in einem Haus in der Nähe des Campus erstochen worden waren. Seitdem ist seine Mutter unfreiwillige Berühmtheit in einer für sie unbekannten Welt und auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Begeisterung, die der Mord an ihrem Sohn bei einigen Menschen ausgelöst zu haben schien, für etwas Gutes zu nutzen.

Frau mit weißer Bluse und schwarzem Jackett

Stacy Chapin auf der CrimeCon. Vier Panels behandeln den Tod ihres Sohnes Foto: James Jackman/redux/laif

Chapin ist Gast der CrimeCon – einer Veranstaltung, auf der Teilnehmende nach Erwerb eines Tickets für 349 US-Dollar Blutspritzer messen, die Zeichnungen eines Serienmörders analysieren, ihren Hel­d:in­nen bei der Verbrechensbekämpfung zujubeln und die blutigen Details berüchtigter Vergewaltigungen und Morde in sich aufsaugen dürfen. Die jährlich stattfindende Konferenz, zu der in diesem Jahr 5.000 Menschen aus allen 50 Bundesstaaten angereist sind, profitiert vom steilen Wachstum des True-Crime-Genres: In den USA haben aktuell im Schnitt mehr als die Hälfte der 20 meistgehörten Pod­casts auf der Apple-Plattform einen True-Crime-Bezug.

Einige Be­su­che­r:in­nen beschreiben vor Ort ihre schiere Faszination für die Denkweise Krimineller; andere behaupten, sie empfänden tiefes Mitgefühl mit den Opfern und hielten es für verlockend, dass betroffene Familien durch die Anstrengungen der True-Crime-Community endlich Gerechtigkeit erfahren könnten – vorausgesetzt, jemand stelle die richtigen Fragen oder finde den fehlenden digitalen Hinweis. Angehörige einiger dieser Familien haben sich ebenfalls angemeldet, stellen Material zur Verfügung und erzählen ihre Geschichten. Überglücklich darüber, dass die Leute bereit sind, zuzuhören.

In der Ausstellungshalle buhlen verschiedene Unternehmen um Aufmerksamkeit. Eines bietet Kaffee der Marke True Crime an, während es einen Tisch weiter laut knallt: Be­su­che­r:in­nen testen dort Elektroschocker. Eine Tatortreinigungsfirma hat einen blutverschmierten Pappkarton aufgebaut; in der Fotobox gleich daneben kann man sich vor einem Hintergrund ablichten lassen, der mehrere durchnummerierte Mordverdächtige an der Wand einer Polizeiwache zeigt. Stacy Chapin zuckt zusammen und wendet sich ab, als auf einem Fernsehbildschirm Bilder des Mannes auftauchen, der beschuldigt wird, ihren Sohn getötet zu haben.

Auf der CrimeCon kommt das Publikum ganz nah dran an die Stars des Genres: Ein Youtuber macht Selfies mit Camil­le Vasquez, Anwältin des Schauspielers Johnny Depp im Prozess gegen dessen Ex-Frau Amber Heard. Daneben stehen Dutzende Schlange, um den ehemaligen „Cold Case“-Detective Paul Holes zu treffen. Und auf der Crime­Con-­Will­kom­mens­par­ty spielt Creigh­ton Waters – leitender Staatsanwalt im Prozess um den Mordfall gegen Anwalt Alex Murdaugh aus South Carolina – auf der Gitarre den Song „Brown-Eyed Girl“.

Stacy Chapin sei nie eine True-Crime-Anhängerin gewesen und verstehe, offen gesagt, auch nicht den Reiz, sagt sie. Die Berichterstattung und die öffentliche Diskussion über den Mord an ihrem Sohn habe sie im vergangenen Jahr weitgehend gemieden. Doch sei ihr in den ersten Tagen nach der Tat bewusst geworden, welche Macht diese Community habe und wie effektiv sie sich mobilisieren und organisieren könne – manchmal auf alarmierende Weise.

Sobald sich der Fall ihres Sohns über ein breites Netzwerk von Youtube-Kanälen, Tiktok-Persönlichkeiten und Face­book-­Grup­pen verbreitet hatte, seien die True-Crime-Spürnasen vollends gefesselt gewesen von diesem Rätsel aus Idaho. Denn dem Mörder war es gelungen, unbemerkt in die Nacht zu entschwinden, nachdem er vier Menschen auf zwei Etagen eines Miets­hauses erstochen hatte. Da es keine Verdächtigen gab und die Polizei um Hinweise bat, machten sich Tausende von Onlinedetektiven an die Arbeit.

Sie luden Karten der Nachbarschaft und Grundrisse des Wohnhauses von Chapins Sohn hoch, sie analysierten Fotos des Gebäudes, darunter eines, von dem einige glaubten, es zeige Blut an den Außenmauern. Sie durchforsteten alle Interaktionen auf sozialen Medien und nahmen Frame für Frame das Video eines Twitch-Livestreams aus­ein­ander, in dem zwei der Opfer Stunden vor ihrer Ermordung an einem Imbisswagen zu sehen waren. Im Anschluss stellten sie eine Reihe von Theo­rien auf: dass ein Ex-Freund das Verbrechen begangen hatte, oder ein Mitbewohner der Opfer, oder ein Nachbar, der zum Fall Interviews gegeben hatte, oder ein Mann in einem Kapuzenpulli, der im Hintergrund des Twitch-Videos aufgetaucht war.

Ein Modellkopf wird angefertigt

Möchtegern-Detektiv:innen bei der Arbeit Foto: James Jackman/redux/laif

Einige der „Verdächtigen“ – es waren überwiegend trauernde Collegestudierende, deren einzige echte Verbindung zur Tat ihre Freundschaft mit den Opfern war – wurden über Nacht zu angeblichen Verbrechern. Stacy Chapin erinnert sich an ihre Wut, als sie erfuhr, dass darüber spekuliert wurde, ob ihr Sohn die Gräueltat als Teil eines perfiden Selbstmordplans begangen haben könnte.

Selbst nachdem ein echter Verdächtiger verhaftet worden war – Bryan K., ein Doktorand der Kriminologie an einer nahegelegenen Universität – arbeiteten die Möchtegerndetektive weiter an alternativen Theorien. Die Staatsanwaltschaft hatte da längst DNA-Beweise und Handy-Ortungsdaten vorgelegt, die den Mann mit dem Verbrechen in Verbindung brachten.

Für Stacy Chapin und einen Großteil der Universitätsgemeinde in der Kleinstadt Moscow, Idaho, hatte der Mord eine Welle des Schocks und der Trauer ausgelöst.

Nun hofft sie, dass ihre Anwesenheit auf der CrimeCon die Menschen daran erinnert, wie es ihr als Mutter ergangen ist. Außerdem hat sie sich vorgenommen, mit anderen Opferfamilien in Kontakt zu treten, die sich wie sie selbst nach Gemeinschaft sehnen. Und sie hofft auf Unterstützung für eine Stiftung, die zu Ehren ihres Sohns Collegestipendien vergeben soll.

Stacy Chapin hat es noch nicht mal geschafft, ihren Ausweis für die Konferenz abzuholen, da kommt eine Frau auf sie zu und umarmt sie unter Tränen. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Im Grunde ein Detektiv“, dankt Chapin für deren Güte und bekundet ihr Beileid für den Tod Ethans.

Die CrimeCon organisiert auch Treffen für Angehörige von Verbrechensopfern. Chapin besucht eines davon und lernt dort die Familie von Gabby Petito kennen. 2021 war die junge Frau bei einem Roadtrip quer durch die USA von ihrem Verlobten getötet worden. True-­Crime-­Lieb­ha­be­r:in­nen hatten bei dem Fall tatsächlich glänzen können: Nachdem die Familie auf sozialen Medien um Hilfe gebeten hatte, waren Tausende Hinweise eingegangen, die schlussendlich zum Fund der Leiche geführt hatten.

Alles in allem, resümiert Chapin gegen Ende der Konferenz, habe sie auf dem Kongress mit vielen Menschen gesprochen, die ihr Hilfe angeboten und ihr Buch gekauft hätten. „The Boy Who Wore Blue“ ist ein Kinderbuch über Ethan, das sie kurz nach seinem Tod schrieb. Um die Geschichte ihres Sohns zu erzählen, habe sie sich in den letzten Tagen auch immer wieder unter die Jour­na­lis­t:in­nen gemischt. Vier Sitzungen auf der Konferenz waren, wenn auch nur zum Teil, der Diskussion über den Fall aus Idaho gewidmet.

Als Chapin die Vorlesung zur forensischen Analyse des Professors aus Alabama verlässt, findet sie Zuflucht in einer privaten Lounge. Dort sitzt der Gründer der CrimeCon, Kevin Balfe. Chapin erklärt ihm, wie nervenaufreibend es für sie gewesen sei, jemanden Unbekanntes, der offensichtlich nicht einmal alle Details kenne, vor so einem großen Publikum über die Morde sprechen zu hören. „Da sind so viele Leute drin“, erzählt sie ihm. „Das schockt mich.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der Vortrag sei einer der größten Attraktionen der Konferenz, entgegnet ihr Balfe. Und versichert, viel Zeit damit verbracht zu haben, herauszufinden, wer dieses erst so kürzlich begangene Verbrechen, das auch noch so viele Menschen brennend interessiere, präsentieren könne. Eine gerichtlich verordnete Nachrichtensperre hätte verhindert, das übliche Panel aus Staats­an­wäl­t:in­nen, Er­mitt­le­r:in­nen und Familienmitgliedern zusammenzustellen.

Balfe erklärt, Joseph Scott Morgan, Forensikprofessor an der Universität von Jacksonville und Host des True-Crime-Podcasts „Body Bags“, ausgewählt zu haben, weil er überzeugt sei, dass dieser nicht in Sensationslust verfalle. Und dann gibt der CrimeCon-Gründer zu, sich schon länger gefragt zu haben, was passieren würde, wenn Chapin einfach in diese Sitzung platze. „Ich wünschte, ich hätte Sie vorab angerufen und gesagt: Gehen Sie da nicht rein“, sagt er.

Chapin räumt ein, dass ihre Anwesenheit auf der CrimeCon sicherlich einiges verkompliziere. Nach wie vor ist sie unschlüssig: Sollte sie zurück in den Saal und auf die Bühne gehen?

Sie geht wieder hinein. Auf der Bühne beantwortet der Professor gerade Fragen aus dem Publikum. Kann die am Tatort gefundene Messerscheide mit der DNA des Verdächtigen im Prozess berücksichtigt werden?

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt stellt sich Chapin in eine der Schlangen vor den Mikrofonen im Publikum und wartet, dass sie an die Reihe kommt. Dann bittet der Professor um ihre Frage. „Mein Name ist Stacy Chapin, und ich bin Ethans Mutter“, beginnt sie. Die Menge staunt, dann brandet Applaus auf. Einige erheben sich, um Fotos zu machen.

Chapin spricht nur kurz, ihre Stimme zittert. Sie wolle, dass das Publikum wisse, dass all die positiven Dinge, die über die Opfer bisher gesagt worden seien, der Wahrheit entsprächen. „Vergessen Sie diese Kinder nicht“, sagt sie. „Sie waren wunderbare, wunderbare Kinder, in der Blüte ihres Lebens.“ Als sie geht, wird sie von Menschen umringt, die sie umarmen, ihr über den Rücken streichen und erzählen, warum ihnen der Mordfall Ethan Chapin so viel bedeute.

Der Moment, sagt sie danach, sei empowernd gewesen. Sie hoffe, dass er bei den Leuten nachhalle, insbesondere wenn sie die nächste Folge ihres liebsten True-Crime-Podcasts konsumierten. „Auf einer gewissen Ebene ist es natürlich reine Unterhaltung“, sagt Chapin. „Aber dahinter steckt ein echtes Gesicht. Hinter diesen Geschichten stehen echte Menschen. Vergessen Sie das nie.“

Der Text ist zuerst in der New York Times vom 8. Oktober 2023 er­schienen. Übersetzung aus dem Englischen von Leonie Gubela

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