Energieversorgung in der Ukraine: Ein Land in Wintersorge

Die Ukraine bereitet sich auf den zweiten Winter unter russischen Angriffen vor. Wichtig ist vor allem der Schutz der kritischen Infrastruktur.

Elektriker reparieren Stromleitungen an Hochspannungsmasten in ländlicher Umgebung

Reparaturen nach russischen Beschuss an einem Stromkabel im ukrainischen Mykolajiw im März 2023 Foto: Stanislav Krupar/laif

LUZK taz | Am 10. Oktober 2022, vor bald einem Jahr, feuerte das russische Militär 100 Raketen auf Einrichtungen der kritischen Infrastruktur in der Ukraine ab. Es war der erste massive Angriff auf den Energiesektor des Landes, Millionen von Menschen blieben ohne Strom.

Es war außerdem der Auftakt einer ganzen Reihe von Bombardierungen: Stunden- oder tagelanger Stromausfall, Unterbrechung der Wasserversorgung, Wohnungen ohne Heizung und schlechte Mobilfunkverbindungen wurden zum Alltag im vergangenen Winter. Aber die Ukraine hat ihn überlebt. Doch nun steht schon der nächste vor der Tür.

Das Energieministerium geht davon aus, dass die Ukraine den Winter ohne Stromabschaltungen und -ausfälle überstehen wird – wenn es keine neuen schweren Anschläge gibt. Dennoch haben sie schon Pläne für den Fall einer schweren Beschädigung des ukrainischen Energieversorgungssystems entwickelt. Parallel hat sich das Zentrum für Energieforschung in der Hauptstadt Kyjiw dazu geäußert: Wenn die Temperaturen für mehrere Tage unter minus 10, minus 15 Grad Celsius fallen, werden wohl planmäßige Stromausfälle auftreten.

Der Bürgermeister von Lwiw, Andrij Sadowyj, arbeitet bereits an möglichen Lösungen für den Fall, dass die westukrainische Stadt ein oder zwei Monate lang ohne Strom auskommen muss. Der ukrainische Energieminister German Galuschtschenko meint: „Das Ziel der russischen Armee ist ein Stromausfall in der Ukraine.“

Beschuss der Energieversorgung hat wieder begonnen

Bereits im September stand der Energiesektor unter starkem Beschuss: Heizkraftwerke, Stromnetze und Stromverteiler wurden gezielt angegriffen, iranische Kamikaze-Drohnen eingesetzt. In der Nähe der ostukrainischen Millionenstadt Dnipro wurde beispielsweise ein Lagerhaus angegriffen und dadurch Kabel, Transformatoren, Geräte und Materialien, die Energietechniker für Reparaturarbeiten benötigen, zerstört.

Etwa 70 Prozent der im vergangenen Winter beschädigten Anlagen wurden im Sommer wiederhergestellt. Nach Einschätzung einer ehemaligen Beraterin des Energieministers, Lana Zerkal, wären die laufenden Vorbereitungen für den Winter in der Ukraine in einem Punktesystem mit drei von fünf Punkten zu bewerten. Vor dem russischen Angriffskrieg dauerte die Reparatursaison für die Einrichtungen der Energieversorgung von Mai bis September. Nun, so schätzen Experten, würden alle nötigen Reparaturen erst im Jahr 2029 abgeschlossen.

Wie viel Energie die Ukraine tatsächlich verbraucht, und wie viele Reserven sie hat, ist nicht genau bekannt. Eine realistische Prognose über die Funktionsfähigkeit des Energiesektors zu stellen, ist daher schwierig. Aus Sicherheitsgründen veröffentlichen die ukrainischen Behörden keine Angaben darüber, wie viel Leistungsfähigkeit dem Energiesektors durch die russischen Angriffe genommen wurde.

Mehr ukrainische Luftabwehr als im letzten Jahr

Im Vergleich zum vergangenen Winter verfügt die Ukraine heute über mehr Luftabwehrsysteme. Dadurch solle die Raketenabwehr im Winter deutlich besser funktionieren, so das ukrainische Militär.

Auch der Direktor der Vereinigung energieeffizienter Städte der Ukraine, Swjatoslaw Pawljuk, ist der festen Überzeugung, dass die Stabilität des Energiesystems in diesem Winter vor allem von einer Sache abhängen wird: der Fähigkeit der Ukraine, ihren Himmel zu schützen.

In diesem Winter soll die Ukraine neue Verteidigungsanlagen – zum Schutz gegen Granatsplitter, Raketen und Drohnen – einsetzen können. Dass ein vollständiger Schutz der Energieversorgung auch dadurch nicht gewährleistet werden kann, ist den Menschen aber bewusst. Deswegen raten die Energieversorger, sich auf mögliche Schäden und deren Folgen vorzubereiten.

Atomkraftwerke wieder hochgefahren

In der Zwischenzeit hat Energoatom – das Staatsunternehmen, das mit dem Betrieb aller ukrainischen Atomkraftwerke betraut ist – sieben von ihnen mit voller Kapazität in Betrieb genommen. Zwei weitere werden derzeit repariert, sollen aber im Winter auch wieder zur Verfügung stehen. Der größte Wärmekraftwerksbetreiber in der Ukraine, DTEK, plant derzeit, mit der gleichen Stromerzeugungskapazität wie im Jahr 2022 in den Winter zu gehen.

Ein weiteres Kernproblem ist die Höhe der Reserven: Ob die Ukraine etwa über die erforderliche Anzahl zusätzlicher Transformatoren verfügt, um die von der russischen Armee zerstörten zu ersetzen, bleibt unklar. Im Jahr 2022 sei die Stromversorgung dank der vorhandenen Ersatzgeräte relativ schnell wieder aufgenommen worden, sagt die ehemalige Abgeordnete Viktorija Vojtsitskaja. Die Reserven sind inzwischen aber aufgebraucht – und die Regierung hat zwar Dutzende von Transformatoren bestellt, aber bisher nur einige wenige Exemplare erhalten.

Die Menschen in der Ukraine hamstern dieser Tage Kerzen, Batterien und Powerbanks

Privathaushalte sollen vorsorgen

Die meisten Experten in der Ukraine sind jedoch überzeugt, dass es keinen Kollaps des Energiesystems geben wird: „Der Winter wird nicht einfach sein, aber wir werden ihn überstehen“, sagt etwa Ihor ­Polischtschuk, Bürgermeister von Luzk, einer Stadt im Westen der Ukrai­ne. Polischtschuk rät der Bevölkerung, sich auf Haushaltsebene vorzubereiten: Glühbirnen gegen energieeffiziente Lampen auszutauschen, Generatoren zu überprüfen und Ladestationen zu kaufen.

Bereits im Sommer wurden in Luzk 90 Prozent der lokalen Heizkessel mit Dieselgeneratoren versorgt – ebenso die Krankenhäuser, Pumpstationen und Kindergärten in der Stadt. In Schulen wurden Heizungsanlagen mit Öfen und Heizkanonen, einem mobilen Gerät zur Wärmeversorgung, gebaut. Das Kesselhaus des städtischen Krankenhauses kann nun im Falle eines Stromausfalls mit Festbrennstoffen, wie etwa Holz, betrieben werden.

Außerdem vertrauen die Behörden darauf, dass die Bevölkerung inzwischen gelernt hat, einerseits Strom zu sparen und andererseits unter den Bedingungen eines großflächigen Stromausfalls zu überleben. Die Menschen in der Ukraine hamstern dieser Tage Kerzen, Batterien und Powerbanks. Viele Nachbarn stellen auch ihre eigenen Versorgung sicher, indem sie etwa Autobatterien an Wechselrichter anschließen, und so den Strom verstärken. Sogar der Kühlschrank und andere Großgeräte könnten mit dieser Erfindung wieder funktio­nieren.

Aus dem Russischen Gemma Teres Arilla

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