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Eine Analyse von Rebecca Harms Der russische Atomterror

Keiner will über das atomare Großrisiko in der Ukraine reden, das mit der Sprengung des Kachowka-Staudamms noch einmal zugenommen hat – zu verstrickt sind viele und zu verkantet ist die europäische Atomdiskussion.

Hier zum Glück nur eine Schulung: Menschen in Strahlenschutzanzügen am Kernkraftwerk Saporischschja picture alliance/dpa/AP | Andriy Andriyenko

Von REBECCA HARMS und VIKTORIA VOYTSTITSKA

taz FUTURZWEI, 22.06.2023 | Die Sprengung des Kachowka-Staudamms mit seinem großen Wasserkraftwerk wird auch nach dem Ablaufen der Flut für die Gebiete im Süden der Ukraine verheerende Folgen haben. Den Stausee besonders hoch zu füllen, dann den Damm zu sprengen, in den besetzten Gebieten keine Hilfe zu leisten und Rettungsaktionen der Ukrainer und überflutete Städte unter Beschuss zu nehmen – das zeugt von der russischen Kriegsführung ohne Tabus.

Die Zerstörung des Staudamms hat auch Folgen für das Atomkraftwerk Saporischschja. Mit sechs Reaktoren ist es das größte in Europa. Während die Besetzung des Sperrgebietes von Tschornobyl aufgegeben wurde, als der russische Vormarsch auf Kyjiw scheiterte, wurde das AKW Saporischschja angegriffen und ist seit 16 Monaten besetzt. Tausende Einwohner der Stadt Enerhodar, die sich als menschliche Schutzschilde um das AKW versammelten, konnten dieses Kriegsverbrechen nicht stoppen.

Bombe auf Reaktordach

Die Situation war schon vor der Sprengung des Kachowka-Damms immer wieder kritisch. Bei Angriffen und bei der Eroberung wurden Gebäude auf dem Gelände getroffen. Auf einem Reaktordach wurde eine Bombe entdeckt. Laut Augenzeugen nutzt die russische Armee das AKW, um Ausrüstung zu lagern, soll sogar Verteidigungspositionen auf Reaktordächern eingerichtet und Teile der Anlagen vermint haben. Durch russische Angriffe auf das ukrainische Stromnetz wurde die Stromversorgung für Saporischschja bereits sieben Mal unterbrochen. Die Versorgung mit Kühlwasser erfolgte bisher aus einem Kühlwasserbecken, das aus dem Kachowka Stausee versorgt wurde. Im Notfall wäre es möglich, Wasser zur Kühlung direkt aus dem Dnipro zu pumpen. Dafür müsste aber das Flussufer mit Zustimmung der russischen Armee von Minen geräumt werden.

Die Internationale Atomenergie Organisation (IAEO) sah in einer ersten Reaktion auf die Sprengung des Staudamms kein akutes Risiko. Die Lage wurde jedoch als so riskant eingeschätzt, dass IAEO Chef Manuel Grossi erneut selber in die Ukraine und zum AKW Saporischschja reiste. Nach dem Besuch beteuerte er nun, dass die IAEA alles versuche, um einen Atomunfall zu verhindern. Entscheidende Fragen und Forderungen der ukrainischen Regierung und der Atomaufsicht blieben unerfüllt. Es ist nicht klar, ob die IAEA Zugang zu allen Teilen des AKW hatte, ob die IAEA die Stellungen der russischen Armee, die Waffenlager oder die Verminung von Anlagen des AKW und am Flussufer überprüft hat. Vor allem hat die IAEA wieder nicht erreicht, dass das AKW in ukrainische Verantwortung zurückgegeben wird und den Vorgaben der ukrainischen Atomaufsicht Folge geleistet wird. Obwohl die Versorgung mit Strom nicht kontinuierlich und mit Wasser nur auf Zeit gesichert ist, ist einer der Reaktoren noch nicht im Cold Shutdown, wie es von der Ukraine gefordert wird.

Schon vor der Zerstörung des Kachowka-Damms arbeitete das Personal des AKW unter ausserordentlichen Belastungen. Seit Beginn der russischen Besetzung entsprechen die Arbeitsbedingungen nicht den Mindestanforderungen für einen sicheren Betrieb. Drohungen und Zwangsmassnahmen einschliesslich Fällen von Haft und Folter durch die russischen Besatzer wurden immer wieder berichtet. Die IAEA scheint auch darauf keinen Einfluss zu haben.

Dauerhafte Stromversorgung nicht gewährleistet

Während das AKW Saporischschja schon vor der Flut in der öffentlichen Debatte immer wieder Thema war, gab es kaum Aufmerksamkeit für die anderen ukrainischen Atomkraftwerke unter den Bedingungen des Krieges. Die drei AKW Riwne, Chmelnytzkyj und Ukraine Süd bei Mykolajiw, mit ihren insgesamt neun Blöcken, waren und sind durch die andauernden russischen Luftangriffe direkt und indirekt gefährdet. Erst vor kurzem wurden russische Raketen unweit von Chmelnitzkyi abgefangen. Eine dauerhaft gesicherte Stromversorgung, Voraussetzung für den sicheren Betrieb von AKW, ist wegen der Zerstörung eines großen Teils des konventionellen Kraftwerksparks und der Leitungssysteme nicht gewährleistet. Nach einem der schweren flächendeckenden russischen Angriffe auf das Energiesystem waren sämtliche ukrainischen AKW ohne reguläre Versorgung.

Durch die gezielte Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur wachsen die Risiken beim Betrieb der AKW. Die Ukraine aber kann – das ist das zusätzliche Problem – nach der Zerstörung vieler konventioneller Kraftwerke und mit 50 Prozent Abhängigkeit von Atomstrom nicht auf die Reaktoren verzichten.

Atomkraftwerke sind wie vorinstallierte Bomben, eine Gabe für Terroristen, war ein Text des Atomexperten Mycle Schneider vor einigen Jahren überschrieben. In Zeiten, in denen eine Atommacht ein Nachbarland überfällt und dessen Atomanlagen in seine Kriegsführung einbezieht, gibt diese Zuspitzung neu zu denken. Nach 9/11 wurde in Frankreich am Cap La Hague rund um die nukleare Wiederaufarbeitungsanlage Flugabwehr eingerichtet. Heute muss der Ukraine alles an die Hand gegeben werden, um ihre AKW zu schützen. Es ist gut, dass die Zurückhaltung aufgegeben wurde, Luftabwehrsysteme an die Ukrainische Armee zu liefern, und inzwischen auch die Lieferung von F16 und anderen Kampfflugzeuge zumindest vorbereitet wird. Der Schutz des Luftraums über der Ukraine ist auch eine Maßnahme gegen die alltägliche atomare Bedrohung.

Keine Zukunftstechnologie

In Deutschland und anderen EU-Ländern wird viel Lobendes über Frankreichs Energiewirtschaft gesagt. Erstaunlich unterbelichtet bleiben dabei die vielen technischen Probleme der französischen AKW und die große Abhängigkeit von Russland. Auch deshalb gibt es bis heute keine Sanktionen gegen den russischen Atomkonzern Rosatom. Dabei ist das Unternehmen als Teil der Betriebsmannschaft an der Besetzung des AKW Saporischschja und damit an einem Kriegsverbrechen beteiligt.

„Atoms for Peace“, das Motto, unter dem die IAEO und Manuel Grossi für eine Zukunft der Atomkraft arbeiten, war immer Schönfärberei. Es wird von Russland, das im Board of Governors der IAEO wie selbstverständlich weiter seinen Platz hat, erneut als Lebenslüge der Organisation entlarvt. Russland erschwert systematisch den sicheren Betrieb, militarisiert die ukrainischen Atomkraftwerke und riskiert bewusst einen großen atomaren Unfall. Die neue Mission von Grossi kann darüber nicht hinwegtäuschen.

Die neue Debatte um die Atomkraft macht einen großen Bogen um die Situation in der Ukraine. Uns scheint es alles andere als ratsam, in einer Welt, die konfrontativer und unfriedlicher wird, ausgerechnet neu auf diese Hochrisikotechnologie zu setzen.

REBECCCA HARMS ist Ukraine- und Atomkraft-Expertin. Sie war viele Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments und Fraktionsvorsitzende der Grünen.

VIKTORIA VOYTSTITSKA ist ehemalige Abgeordnete des ukrainischen Parlaments Rada.