EU-Kommissionspräsidentin in der Ukraine: Lob für einen Musterkandidaten

Die Ukraine erfülle die Voraussetzungen für EU-Beitrittsverhandlungen fast vollständig. Das lässt Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Kyjiw wissen.

Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj begrüßen sich unter einem blauen Regenschirm. Links im Bild ist eine ukrainische Fahne zu sehen.

Wird ausnahmsweise direkt am Bahnhof in Empfang genommen: Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj begrüßen sich

KYJIW/LONDON dpa/ap | Die Ukraine erfüllt die Voraussetzungen für EU-Beitrittsverhandlungen laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fast vollständig. „Sie haben bereits deutlich über 90 Prozent des Wegs hinter sich“, sagte von der Leyen am Samstag bei einem Besuch in Kyjiw in einer Rede vor dem ukrainischen Parlament Rada. Es seien bereits viel größere Fortschritte gemacht worden, als von einem Land im Krieg erwartet werden könnten.

„Sie führen einen existenziellen Krieg, und gleichzeitig sind Sie dabei, Ihr Land tiefgreifend zu reformieren“, sagte von der Leyen auch nach einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Ukraine habe viele Etappenziele erreicht. Von der Leyen nannte die Reform des Justizsystems, die Eindämmung des Einflusses der Oligarchen und die Bekämpfung der Geldwäsche. „Dies ist das Ergebnis harter Arbeit, und ich weiß, dass Sie dabei sind, die noch ausstehenden Reformen zu vollenden.“

Die Kommissionspräsidentin war am Samstagmorgen zu ihrem sechsten Besuch in der Ukraine seit dem russischen Angriff vor gut 20 Monaten eingetroffen. Am kommenden Mittwoch legt sie in Brüssel den Bericht zu den Reformfortschritten der Ukraine vor. Auf dieser Grundlage wollen dann im Dezember die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union entscheiden, ob die Beitrittsverhandlungen mit der Regierung in Kyjiw gestartet werden sollen. Die EU hatte die Ukraine schon im vergangenen Jahr wenige Monate nach der russischen Invasion zum Beitrittskandidaten gemacht.

Selenskyj spricht von „historischem Moment“

Selenskyj sagte mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen, der Besuch finde in einem „historischen Moment“ statt. „Diese Entscheidung wird nicht nur für die Ukraine, sondern auch für ganz Europa eine Schlüsselrolle in der Geschichte spielen.“ Der ukrainische Präsident hatte von der Leyen bereits am Bahnhof begrüßt, was bei solchen Besuchen eher ungewöhnlich ist. Gemeinsam zeichneten sie anschließend Mitarbeiter der Bahn mit Medaillen aus.

Schon auf dem Weg nach Kyjiw sagte die EU-Kommissionspräsidentin vor Journalisten, sie wolle der von Russland angegriffenen Ukraine versichern, „dass wir fest an ihrer Seite stehen“ und ihr „Ermutigung und Zuspruch“ bringen. Die Kommissionspräsidentin und frühere Bundesverteidigungsministerin wies aber auch auf die Gefahren der Reise hin. „Immer wenn ich die Ukraine fahre, ist da ein gewisses Gefühl der Anspannung natürlich, weil es Kriegsgebiet ist.“ Von der Leyen fuhr wie immer mit einem Sonderzug von Polen nach Kyjiw. Flüge über das Gebiet der Ukraine sind weiterhin nicht möglich.

Seit vergangenem Sommer EU-Beitrittskandidat

Den Beginn der Beitrittsverhandlungen müssen die 27 EU-Staaten einstimmig beschließen. Ein positives Votum soll es dann geben, wenn die Ukraine sieben Voraussetzungen erfüllt hat. Aus Kommissionskreisen hieß es zuletzt, dass die Ukraine sehr große Fortschritte gemacht habe, es aber vermutlich noch nicht möglich sein werde, alle sieben Voraussetzungen uneingeschränkt als erfüllt zu beurteilen. Voraussichtlich werde den EU-Staaten deswegen empfohlen, den Start der Beitrittsverhandlungen zu beschließen, den ersten Verhandlungstermin aber erst nach Erfüllung aller Reformauflagen festzulegen.

Damit würde die EU-Kommission auch all denjenigen EU-Staaten entgegenkommen, die der Ansicht sind, dass Fortschritte im EU-Beitrittsprozess komplett leistungsbezogen sein sollten. Sie argumentieren, dass es vor allem in den Beitrittskandidatenländern auf dem Westbalkan zu großer Frustration kommen könnte, wenn nun aus politischen Gründen von dem auf dem Reformfortschritten basierenden Ansatz abgewichen wird.

Ihnen gegenüber stehen vor allem mittel- und osteuropäische Staaten, die den Start der Verhandlungen als notwendige geopolitische Investition sehen und argumentieren, dass die Hoffnung auf einen EU-Beitritt auch ein Motivationsfaktor im Kampf gegen die russischen Angreifer sei.

Grundsätzlich sind viele in der EU der Ansicht, dass eine Aufnahme von großen Ländern wie der Ukraine nur dann zu einem Erfolg werden kann, wenn es zuvor interne Reformen gab. Die Entscheidungsprozesse im Bereich der Außenpolitik sind beispielsweise schon heute teilweise sehr schwerfällig, weil in der Regel das Einstimmigkeitsprinzip gilt.

Armeeoberbefehlshaber erntet Kritik für seine Worte

Unterdessen hat Selenskyj die Befürchtungen von Armeeoberbefehlshaber Walerij Saluschnyj zu einem möglichen festgefahrenen Krieg mit Russland zurückgewiesen. „Heute sind die Leute müde, alle werden müde, und es gibt verschiedene Meinungen. Das ist klar, doch gibt es keine Pattsituation“, sagte Selenskyj am Samstag. General Saluschnyj hatte in einem Beitrag für die britische Zeitschrift The Economist erklärt, dass die Ukraine in einem Stellungskrieg gefangen sei.

Wegen der russischen Luftüberlegenheit seien die Ukrainer zurückhaltender beim Einsatz ihrer Soldaten, sagte Selenskyj. Die im kommenden Jahr erwarteten F-16-Kampfjets und eine stärkere Flugabwehr würden die Situation zu ukrainischen Gunsten ändern, meinte der Präsident.

Der Vizechef von Selenskyjs Präsidentenbüro, Ihor Schowkwa, kritisierte indes die offene Kommentierung des Frontgeschehens durch Saluschnyj. „Ich würde anstelle der Militärs weniger für die Presse, die Öffentlichkeit kommentieren, was an der Front geschieht, geschehen kann, und welche Varianten es gibt“, sagte er im ukrainischen Nachrichtenfernsehen. Dies helfe nur dem Kriegsgegner Russland. Nach dem Erscheinen des Beitrags und eines Interviews mit Saluschnyj sei er zudem vom Kanzleichef eines westlichen Staates gefragt worden, ob die Ukraine militärisch tatsächlich in einer „Sackgasse“ stecke.

Die Ukraine wehrt sich seit mehr als 20 Monaten mit massiver westlicher Hilfe gegen die russische Invasion. Die große Gegenoffensive zur Befreiung ihrer von Russland besetzten Gebiete ist weit hinter den eigenen Zielen zurückgeblieben. Saluschnyj hatte in seinem Artikel Fehler bei der Planung eingeräumt. Der Westen müsse mit neuen Waffenlieferungen die Ukraine befähigen, diese Situation zu ändern. Zudem mahnte er eine stärkere Mobilmachung der Ukrainer an, um mit dem russischen Gegner bei den Reserven gleichzuziehen.

Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow informierte am Samstag im Portal X (vormals Twitter) über ein Telefonat mit seinem US-Kollegen Lloyd Austin, bei dem er mehr Munition für die Verteidiger des Landes erbeten habe. Zugleich dankte Umjerow den USA für die bisher geleistete Militärhilfe.

14 Verletzte bei Angriffen auf Städte der Region Cherson

Bei russischen Angriffen in der Ukraine sind am Freitag mindestens 14 Zivilisten verletzt worden. Das teilten ukrainische Behördenvertreter am Samstag mit. Der Gouverneur der Region Saporischschja, Jurij Malaschko, erklärte, neun Menschen seien bei einem russischen Raketenangriff auf das Dorf Saritschne verletzt worden. Insgesamt seien am Freitag 26 Städte und Siedlungen in der Region unter Beschuss geraten. In der Region Cherson wurden nach Angaben von Gouverneur Olexander Prokudin fünf Menschen verletzt. Er sprach von Angriffen mit Artillerie, Granatwerfern, Drohnen, Kampfflugzeugen und Panzern.

Nikopol, eine Stadt auf der dem Atomkraftwerk Saporischschja gegenüberliegenden Seite des Flusses Dnipro, der in Russland Dnjepr heißt, wurde nach Angaben des Regionalgouverneurs Serhij Lyssak ebenfalls von russischen Truppen beschossen. Opfer wurden den Angaben zufolge dort zunächst nicht gemeldet.

Moskau verliert Panzerfahrzeuge bei Schlacht um Awdijiwka

Russland hat nach Einschätzung britischer Militärexperten allein in den vergangenen drei Wochen etwa 200 gepanzerte Fahrzeuge im Kampf um die ostukrainische Stadt Awdijiwka verloren. Das geht aus dem täglichen Geheimdienstbericht des Verteidigungsministeriums in London zum Krieg in der Ukraine am Samstag hervor. Hintergrund dafür sei wohl eine Kombination relativer Effektivität ukrainischer Panzerabwehrraketen, Minen, Drohnen und Präzisionsartillerie, hieß es in der Mitteilung. Ähnlich wie die Ukrainer während ihrer Offensive im Sommer hätten sich die Russen daher auf Vorstöße durch Infanterie verlegt.

Wie bei früheren russischen Offensiven seien die Angriffe auf die Industriestadt äußert verlustreich. Es sei plausibel, dass Russlands im Kampf um Awdijiwka seit Anfang Oktober mehrere Tausend Verletzte und Tote zu beklagen habe. „Russlands Führung zeigt weiterhin den Willen, schwere Verluste an Personal für marginale territoriale Gewinne in Kauf zu nehmen“, so die Mitteilung weiter.

Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 täglich Informationen zum Kriegsverlauf. Moskau wirft London Desinformation vor.

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