EU-Beitritt der Westbalkanstaaten: Dit is Berlin

Erst hielt die EU sie jahrelang hin, nun will sie die Westbalkanländer schnell reinholen. Allerdings müssen zuvor alte Konflikte gelöst werden.

Scholz beim Westbalkan Gipfel

Olaf Scholz sitzt gegenüber von Albin Kurti bei einem Treffen am Montag beim Westbalkan-Gipfel in Tirana Foto: Michael Kappeler/dpa

TIRANA taz | Roter Teppich? Ach nee. Als Bundeskanzler Olaf Scholz am Ende der Stoffbahn ankam, die vor dem Amtssitz des albanischen Ministerpräsidenten ausgerollt war, überschritt er einfach die Absperrung -er wollte seinen Spaziergang auf dem blassroten Radweg fortsetzen. Der albanische Ministerpräsident pfiff seinen Gast zurück – „Mr. Scholz“. Der schlug einen 110-Grad- Haken, erklomm, eskortiert von Edi Rama, die rot beteppichten Stufen zu dessen Amtssitz.

Dit is Berlin? Na fast, Tirana. Albanien war erstmalig Gastgeber für das Gipfeltreffen des Berliner Prozesses, das Scholz am Montag besuchte. 2014 hatte Scholz' Vorgängerin Angela Merkel die regelmäßigen Treffen zwischen den Westbalkanländern und der EU ins Leben gerufen, um die Zusammenarbeit untereinander und ihre Integration in die Union zu fördern.

Scholz würde ihr Werk gern vollenden, doch der Prozess stockt. Die sechs Westbalkanländer Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien harren zum Teil seit fast zwei Jahrzehnten als Beitrittskandidaten im Wartesaal der EU aus. Die ursprüngliche EU-Begeisterung ist mittlerweile Frust gewichen.

Das liegt zum Teil an der Erweiterungsskepsis einzelner EU-Mitglieder, aber auch an schwelenden und neuen Spannungen zwischen den Beitrittskandidaten, etwa zwischen Kosovo und Serbien. Im September überfielen serbische Bewaffnete eine kosovarische Polizeistation, die nächste Eskalationsstufe der sich hochschaukelnden Animositäten zwischen Serbien und seiner ehemaligen Provinz.

Kosovo und Serbien sollen deeskalieren

Sowohl Scholz als auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ermahnten Kosovo und Serbien ihre Streitereien beizulegen. „Beide Länder müssen deeskalieren“, so Scholz. Es sei höchste Zeit, Konflikte zu überwinden, die schon viel zu lange dauerten und die Länder zurückhielten. „Es ist wichtig für Serbien und Kosovo, miteinander zu kooperieren“, betonte auch von der Leyen. Einen weiteren Großkonflikt, zumal im eigenen Hof, will die EU unbedingt verhindern. Ob die Schlichtungsversuche fruchten ist ungewiss: Serbiens Präsident Aleksandar Vucic war gar nicht erst angereist, sondern wurde durch die Ministerpräsidentin vertreten.

Als Bonbon und Vorgeschmack auf die vollwertige Mitgliedschaft stellte von der Leyen den Westbalkanländern in Tirana schrittweisen Zugang zum EU-Binnenmarkt in Aussicht, etwa für Waren- und Dienstleistungsverkehr, Energie, Strom und den bargeldlosen Zahlungsverkehr. Für eine vollständige Integration lägen die Volkswirtschaften der Beitrittskandidaten und der EU aber nach Ansicht der Kommissionspräsidentin noch zu weit auseinander. So betrage die Wirtschaftskraft der Westbalkanländer gerade mal 35 Prozent des EU-Durchschnitts.

Von der Leyen kündigte neue Finanzhilfen an, die das Potential hätten die Wirtschaftskraft zu verdoppeln. Sie fordert die Westbalkanstaaten im Gegenzug zu Reformen auf und dazu ihre Märkte gegenseitig und für die Nachbarländer zu öffnen.

Albaniens Ministerpräsident Rama hatte zuvor allerdings gleich in seiner Eröffnungsrede kritisiert, dass die EU bislang nicht alle Zusagen für Hilfen eingehalten habe.

Albaniens Ministerpräsident Rama hatte gleich in seiner Eröffnungsrede kritisiert, dass die EU nicht alle Zusagen für Hilfen eingehalten habe

Scholz pochte auch darauf, dass die EU die Fortschritte Nordmazedoniens belohnt. Das Land ist bereits seit 2005 Betrittskandidat, hatte auf Druck Griechenlands sogar seinen Namen geändert. Die offiziellen Beitrittsverhandlungen begannen erst im Juli 2022. Größter Blockierer ist in diesem Fall Bulgarien, das ein Bekenntnis zur bulgarischen Sprache von Nordmazedonien verlangt.

1,5 Milliarden Euro für eine Klimapartnerschaft

Am Ende des Treffens in Tirana lobte Scholz den Berlin Prozess als Erfolgsgeschichte. Er schränkte aber auch im Hinblick auf die Spannungen zwischen Serben und Kosovaren ein: „Wir müssen Rückschläge hinnehmen“. Deutschland will in den nächsten Jahren 1,5 Milliarden Euro für eine Klimapartnerschaft mit dem Westbalkan bereitstellen und so den Prozess weiter vorantreiben. „Die Zukunft des westlichen Balkans liegt in der EU. Dieses Versprechen gilt.“

Rama dankte Scholz für dessen „stille Kraft mit der dieser die Annäherung des Westbalkans an die EU vorantreibe und würdigte von der Leyens Vorstoß für einen neuen Wachstumsplan für den Westbalkan.

Die EU drückt aufs Tempo

Ausgerechnet der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hatte neuen Schwung in die stockenden Beitrittsgespräche gebracht. Denn Russland würde seinen Einfluss auf dem Balkan gern vergrößern und findet in Serbien und der bosnischen Republik Srpska willige Verbündete. Zudem möchte auch die Ukraine, am besten im Schnellverfahren, EU-Mitglied werden, was die Ungeduld im Warteraum erhöht.

Die EU hatte in den vergangenen Monaten ihre jahrelange Hinhaltetaktik geändert und drückt nun selbst aufs Tempo. Das seien jetzt entscheidende Momente, warb von der Leyen an die Beitrittskandidaten gerichtet. „Nur wenn sie zusammenarbeiten, werden die Westbalkanstaaten dort landen, wohin sie gehören: in die Mitte der Europäischen Union. Also, nutzt den Moment.“

Allerdings könnte sich das Zeitfenster auch schnell wieder schließen. Überschattet wurde das Treffen in Albanien, wo 60 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, von der Großkrise im Nahen Osten und dem drohenden Krieg zwischen Israel und der Hamas. Der zieht politische Energie und Aufmerksamkeit ab.

Mit Blick auf die drohende humanitäre Krise in Gaza kündigte von der Leyen die Verdreifachung der humanitären Finanzhilfe für die Palästinenser und die Einrichtung einer Luftbrücke über Ägypten an, um die Menschen in Gaza mit Hilfsgütern zu versorgen. Etwas früher als geplant reiste Scholz am Abend aus Tirana ab. Scholz reist am Dienstag nach Israel und anschließend nach Ägypten. Er werde Gespräche zur Sicherheitssituation führen und erörtern, wie verhindert werden könne, dass der Konflikt auf die Region übergreife, so Scholz. „Es geht darum, mit allen im Gespräch zu bleiben.“

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