Ausstellung zur weiblichen Rückbeuge: Das Höllentor zur Tiefenentspannung

Es gibt sie, die Kulturgeschichte der (weiblichen) Rückbeuge. Das Museum der Moderne in Salzburg zeichnet sie nach, mit verblüffend viel Material.

Drei Menschen machen Rückbeugene

Filmstill aus „Songs from the compost: mutating bodies“ von Eglé Budvytyté Foto: Eglé Budvytyté

Eine ohnmächtige Frau steht am Anfang der Ausstellung: Die Reproduktion von André Brouillets berühmtem Ölbild „Une leçon clinique à la Salpêtrière“ zeigt den Pariser Neurologen Jean-Martin Charcot, der einer Gruppe von Männern mit belehrender Geste am lebenden Objekt das Phänomen der Hysterie demonstriert.

Die hypnotisierte Patientin namens Blanche ist mit geschlossenen Augen und zurückgebeugtem Rücken in die Arme eines Assistenten gesunken und beglaubigt mit dieser als typisch angesehenen Haltung die damalige Auffassung vom Urbild der vermeintlichen Krankheit.

Das Gruppenbild ist riesenhafte 2,90 mal 4,30 Meter groß, von medizinhistorischer Bedeutung und war Ende des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet. Kuratorin Kerstin Stremmel hat es an den Anfang der Schau platziert: „Das Bild hing in vielen Praxen, es war sehr beliebt.

Und Freud hat es tatsächlich in der Berggasse in seinen Behandlungsräumen gehabt und mit ins Londoner Exil genommen. Es hat ihn immer begleitet. Freud hatte in Paris eine kurze, furiose Zeit bei Charcot verbracht und sehr genau alles beobachtet. Im Grunde war die Erfahrung bei Charcot der Auslöser für die Begründung der Psychoanalyse.“

Eine nackte Frau vor drei in schwarz gekleideten Frauen

Die weibliche Rückbeuge in einer Bewegungsstudie (1925/1930) von Rudolf Kopitz Foto: Fotosammlung des Bundes am Museum der ­Moderne Salzburg

Künstler besuchten Charcot

Nicht nur die Mediziner besuchten bei Charcot die legendären Dienstagsvorlesungen, wo der Neurologe die „Hysterikerinnen“ zu ihren zweifelhaften Performances brachte, auch Künstler wie Auguste Rodin kamen zu Charcot und ließen sich dort anregen. Auch die große Schauspielerin Sarah Bernhardt war unter den Gästen, in deren Theaterspiel Freud „die rituelle Vollkommenheit und das Prinzip der Wiederholbarkeit der hysterischen Darbietung“ wahrnahm.

Hoch oben am Mönchsberg im Salzburger Museum der Moderne füllt die große, bildermächtige und souverän konzipierte Themenschau „Arch of Hysteria: Zwischen Wahnsinn und Ekstase“ die gesamte dritte Etage mit einem Parforceritt durch die Kulturgeschichte und einem Fokus auf die Tanzmoderne.

Unter den Exponaten sind Werke von Auguste Rodin, Gustav Klimt, Max Ernst, Loui­se Bourgeois, Valie Export und Robert Longo, zahlreiche Fotos aus der großen Zeit der Tanzmoderne und eine Kunst- und Wunderkammer, die Objekte des Kunsthandwerks, der Populärkultur und dokumentarische Fotos neben große und kleine Kunstwerke stellt.

Die Idee, der Körperhaltung der Rückbeuge – etwas neutraler auch „arc de cercle“ genannt – durch die moderne Kulturgeschichte zu folgen, ist tatsächlich verblüffend ergiebig, denn sie eröffnet vielfältigste ästhetische, aber auch gesellschaftspolitische Perspektiven. Nämlich die auf Machtstrukturen und Geschlechterrollen.

„Arch of Hysteria. Zwischen Wahnsinn und Ekstase“: Museum der Moderne, Salzburg, bis 14. Januar

„Anita Berber in Wien“: Photoinstitut Bonartes, Wien, bis 17. November

Rückbeuge findet Eingang in den Ausdruckstanz

Zunächst untersucht die Schau die direkten Folgen von Charcots Dienstagsvorlesungen, etwa bei Rodin, der im regen Austausch mit Charcot stand und das Motiv des gebeugten Rückens in die Bildsprache der Gestalten seines „Höllentors“ übernahm. Sein in der Schau gezeigter „Torse d’Adele“ zeigt einen weiblichen Körper von den Knien aufwärts mit im Untergrund verschwindendem Kopf.

Im frühen 20. Jahrhundert wird die vorher passive, bestenfalls als hingebungsvoll interpretierte Rückbeuge ins höchst aktive Bewegungsrepertoire des Ausdruckstanzes übernommen.

Fotografien von Rudolf Jobst bannen die hoch dynamische Tanzsprache von Grete Wiesenthal ins Bild, zu sehen sind auch Helene von Taussigs hinreißende, abstrahierende Zeichnungen des performenden Tänzers Harald Kreutzberg sowie Fotos von Mary Wigman, Gret Palucca, Isidora Duncan und der Pariser Tänzerin Jan Avril, die tatsächlich eine Ex-Patientin von Charcot war und von Henri de Toulouse-Lautrec gemalt wurde.

Das Motiv der längst als ekstatische Expression gelesenen Körperhaltung setzt sich in seiner Widersprüchlichkeit bis in die Gegenwart fort: In den 1990er Jahren etwa zeichnet Robert Longo ekstatisch verrenkte Yuppies, die Salzburger Schau zeigt auch Fotos von Valie Exports Performances aus den 1970er Jahren, die mit verbogenen Frauenkörpern auf erzwungene gesellschaftliche Anpassung anspielen.

Arbeiten der Gegenwartskünstlerin Valerie Schmidt stellen Charcots diagnostische Aufzeichnungen der Hysterie mit einer Matratze nach, Denis Darzacqs Foto setzt überbordenden Supermarktregalen in die Rückbeuge schnellende, schwerelos wirkende Tän­ze­r*in­nen entgegen.

Pose im Yoga

Verwiesen wird auch auf eine populäre Praxis der Selbstermächtigung im Yoga, die Rückbeuge soll den Brustraum und das Herz öffnen und sogar Ängste überwinden helfen. Wer will, kann das in einem Mitmach-Video in der Ausstellung sogar selbst testen.

In Wien blättert eine kleine Schau im Photoinstitut Bonartes ein besonderes schillerndes Kapitel der Tanzmoderne auf und erinnert an die Berliner Avantgarde-Tänzerin Anita Berber, die gemeinsam mit ihrem sehr queer aufgemachten Tanzpartner Sebastian Droste im Jahr 1922 in Wien mit der Uraufführung von „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ einen Skandal auslöste. Entgrenzte Rückbeugen, wohin man sieht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.