„Wir brauchen Visionen“

Der Fotograf John Kolya Reichart zeigt die vielen Gesichter der Gen Z. Wie wirken sich Klimakrise, Corona und Kriege auf junge Volljährige aus? Wovon träumen sie? Und was fürchten sie?

Interview Nora Belghaus

wochentaz: Herr Reichart, Sie haben 18-Jährige mit der Kamera porträtiert und zu ihrem Leben befragt. Wie kamen Sie auf die Idee?

John Kolya Reichart: Ich hatte zuvor ein Fotoprojekt in der Eisenacher Straße in Berlin gemacht, für das ich 100 Menschen zwischen 1 und 100 Jahren porträtiert habe. Bei den Gesprächen fand ich die Perspektive der jungen Erwachsenen besonders spannend – diese Umbruchphase, in der einerseits noch so eine kindliche Nai­vi­tät durchscheint, aber andererseits auch schon ganz viel da ist an Reife und Weitblick. So kam ich auf die Idee, eine Fotoarbeit mit der Fragestellung zu machen: Was bewegt die junge Generation in diesen Zeiten in unserem Land? Wie blicken sie auf die Welt?

Sie meinen, in Zeiten der „Zeitenwende“?

Ja, genau. Vor vier, fünf Jahren habe ich selbst noch anders auf diese Welt geschaut. Ich glaube, dass wir damals mehr Antworten als Fragen hatten und sich dieses Verhältnis umgekehrt hat. Ich bin mit so einem Vertrauen in die Welt aufgewachsen, die Verunsicherung trifft mich heute als Erwachsener, mit Anfang 40. Wie muss es der Generation damit gehen, die gerade erwachsen wird?

Und welche Antwort haben Sie auf diese Frage gefunden?

John Kolya Reichart, Jahrgang 1982, arbeitet als Regisseur und Fotograf in Berlin. Ausgebildet wurde er an der Filmakademie in Ludwigsburg.

Ich habe beobachtet, dass da insgesamt doch wenig Naivität war. Und auch wenig Zuversicht, wenn es in den Gesprächen um die Zukunft ging – ihre eigene oder die der Welt als Ganzes. Das Thema war oft mit Angst besetzt. Es war niemand dabei, der oder die gesagt hätte: Ich habe richtig Bock, in diese Welt zu gehen. Bestenfalls fielen so Aussagen wie: Das ist alles ganz schön schwierig, aber ich glaube schon auch, dass wir daran wachsen können.

Kürzlich ging die neue Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“ durch die Presse. Gen Z, also alle 14- bis 29-Jährigen, seien unzufriedener mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen als in früheren Befragungen. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Ja, die Unzufriedenheit hat sich in der pessimistischen oder ängstlichen Haltung gegenüber der Zukunft in den Interviews schon widergespiegelt. Ich denke, das hat viel mit der global angespannten Situation zu tun. Die Coronakrise, dann die Kriege, der Klimawandel sowieso, diese Umstände müssen sie in ihrem jungen erwachsenen Leben sehr prägen.

Ein weiteres Ergebnis der Studie besagt, die Angehörigen der Gen Z seien der AfD zugewandter. Teilen Sie diese Beobachtung aus Ihrem Projekt?

Im Jahr 2023 startete John Kolya Reichart mit dem Museum für Werte in Berlin das Projekt „achtzehn“, für das er 35 damals 18-Jährige aus allen Bundesländern jeweils zweimal interviewt und fotografiert hat. Die Orte für die Treffen wählten sie selbst aus. Beim ersten Treffen ging es um die Frage, was sie in der Vergangenheit geprägt hat, die dabei entstandenen Bilder sind Schwarz-Weiß. Beim zweiten Treffen sprachen die jungen Erwachsenen über die Zukunft, die Bilder sind in Farbe. Die Ausstellung wird am 20. Juni im Berliner Zeiss-Großplanetarium eröffnet und läuft bis zum 1. August 2024.

Nein, eine Zugewandtheit gegenüber der AfD habe ich in keinem Fall bemerkt. Ich habe zwar nicht explizit politische Einstellungen oder Parteipräferenzen abgefragt, aber ich hatte bei niemandem das Gefühl, dass er oder sie rechte oder rechtsextreme Einstellungen gehabt hätte, weder in West- noch in Ostdeutschland. Ihr Grad der Reflektiertheit und eine Zugewandtheit zur AfD gehen für mich auch nicht zusammen. Da haben mich die Ergebnisse der Studie wirklich überrascht.

Wer sind die jungen Menschen, die Sie getroffen haben? Wie haben Sie sie gefunden?

Ich habe in allen Bundesländern alle möglichen Stellen und Institutionen angeschrieben – Sportvereine, Jugendzentren, Schulen. Und ich habe teilweise auf Reisen auf der Straße junge Menschen angesprochen. Mir war es wichtig, keine Spre­che­r:in­nen ihrer Generation zu casten, also Jugendliche, die bereits eine Stimme haben, sondern vor allem denen Raum zu geben, die nicht so sichtbar sind.

Was war der größte Unterschied zu Ihrer Jugend?

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden: 08 00 111 01 11 oder 08 00 111 02 22

Das hohe Maß an Reflexion, die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken und offen über Gefühle zu sprechen. Das hat mich beeindruckt. Einer zum Beispiel ist ohne Vater aufgewachsen und konnte sehr klar ausdrücken, wie ihn das geprägt hat. Eine andere leidet unter Anorexie und Depressionen und hat frei darüber gesprochen. Ein anderer hat in der Pubertät angefangen, Drogen zu konsumieren, und erklärte mir, inwiefern das für ihn mit seiner Rolle als „Goldjunge der Familie“ zusammenhängt. Das zog sich wirklich durch, unabhängig vom Schulabschluss oder familiären Hintergrund.

Was brauchen junge Menschen?

Ich denke, es ist wichtig, dass nicht nur über sie gesprochen wird, sondern mit ihnen. Dass ihnen zugehört wird, ihre Einstellungen und Bedürfnisse sichtbar werden. Und ich finde, dass es unserer Gesellschaft an einer übergeordneten Vision fehlt, einer Vorstellung davon, wie wir in Zukunft leben wollen. Ohne diese Vision verharren wir in dem statischen Gedanken: So wie es ist, kann es nicht weitergehen. Das macht es jungen Menschen besonders schwer, eine positive, handlungsorientierte Perspektive gegenüber ihrer Zukunft zu entwickeln. Sie brauchen etwas, woran sie glauben und woran sie sich orientieren und festhalten können, etwas, das über die nächsten paar Monate hinausgeht.