Wie Hamburg lernt, sich queer zu lesen

Schwule, Lesben, Transpersonen haben die Stadt schon immer mitgeprägt. Ihr verdrängtes Wirken und seine verwischten Spuren macht Hamburgs erster „Queer History Month“ nun sichtbar

Erworben haben wir die Fähigkeit, die sexuelle Fantasie im St. Georg vom Meister des Mödlinger Altars nicht zu sehen. Kann man aber auch wieder verlernen Foto: Hamburger Kunsthalle

Von Alexander Teske

Simon Schultz führt durch die Kunsthalle und bleibt vor einer Darstellung des Heiligen Georg stehen: „Dies ist eine homoerotische Ikone“, sagt er über das 1520 entstandene Werk vom Meister des Döbelner Hochaltars. Das sorgt für Erstaunen bei den 30 Teilnehmenden der Führung „We are not just a trend: Kunst war schon immer auch queer“. Was genau ist wohl mit den ­sexuellen Auflösungsfantasien gemeint, von denen Schultz spricht?

Eindeutiger ist der „Halbakt vor Feigenkaktus“ von Anita Ree. Ein Selbstporträt, bei dem die Künstlerin dem Betrachter ihre nackte Brust präsentiert. Ree malte bevorzugt Frauen und war unverheiratet. 1933 ­suizidierte sich die Jüdin, nachdem sie von Nationalsozialisten als entartet angegriffen wurde. Die Motivation, an der Führung im Rahmen von Hamburgs erstem „Queer History Month“ teilzunehmen, ist unterschiedlich. Das Vorwissen auch: „Ich habe null Ahnung von Kunst und war noch nie in der Kunsthalle, aber mich interessiert das Thema“, so eine Teilnehmerin. Eine andere: „Ich bin Kunstlehrerin und möchte einen anderen Blick für die Bilder bekommen.“ Und eine weitere: „Ich habe queere Themen in der Familie, deswegen bin ich hier.“

Vieles bleibt noch immer aus der Dauerausstellung verbannt. Oft muss Schultz ein Tablet mit Bildern aus dem Depot der Kunsthalle kreisen lassen. Zu sehen sind zwei nackte Frauen beim Oralsex oder die beiden Künstler Friedrich Carl Gröger und Heinrich Jakob Aldenrath 1815 mit ihrer Pflegetochter Lina, „einer damals höchst ungewöhnlichen Patchworkfamilie“.

Der Rundgang endet vor „Doll Boy“ von David Hockney. Ein offen schwul lebender Künstler, der mit diesem Bild eine Liebeserklärung an den Popsänger Cliff Richard macht. Damals, 1961, als das Werk entstand, wurde Homosexualität auch in Großbritannien noch strafrechtlich verfolgt. Über 90 Minuten richtet Kunstvermittler Schultz so einen aktuellen Blick auf einzelne Kunstwerke und sucht nach dem queeren Selbstausdruck.

Die Führung war eine der ersten Veranstaltungen des „Queer History Month“ in Hamburg, also eines historischen LGBTIQ*-Monats. Noch bis zum 1. Juni gibt es ein breit gefächertes Programm – vom Vortrag des queeren Schulaufklärungsprojekts „soorum“ über das Thema „Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Unterricht“ über die Führung zu Orten lesbischen Lebens der Stadt bis zur Diskussion über gendergerechtes Bestatten auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Und auch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme beteiligt sich.

Dort wird am 18. Mai mit einem Rundgang an die Inhaftierung und Ermordung von Homosexuellen und Transpersonen im Nationalsozialismus erinnert. „Sie hatten wie die sogenannten Berufsverbrecher einen grünen Winkel auf der Häftlingsuniform. Zusätzlich war aber noch die Nummer 175, also der Paragraf, nach dem sie verurteilt worden waren, aufgedruckt. Später hat man extra den rosa Winkel eingeführt“, sagt Tonya Karnatz von der Gedenkstätte.

Nach dem Krieg wurde darüber geschwiegen. Erst in den letzten Jahrzehnten änderte sich das. Es gab Gedenkveranstaltungen, initiiert von schwulen Gruppen. 1985 wurde in Neuengamme der erste Gedenkstein für queere NS-Opfer an einer KZ-Gedenkstätte eingeweiht. Wie viele queere Häftlinge in Neuengamme inhaftiert waren, kann nur geschätzt werden: „Wir gehen von 400 Häftlingen aus, von denen die Hälfte nicht überlebt hat“, sagt Karnatz. „Leider sind viele Unterlagen dazu verloren gegangen oder vernichtet worden.“

„Leider durften wir den QR-Code nicht öffentlich anbringen“

Anna Norpoth, Körber-Stiftung, über die Hürden, die Hamburg einem digitalen, queeren Denkmal bereitet

Auch das Programm eCommemoration der Körber-Stiftung macht beim „Queer History Month“ in Hamburg mit. „Es gibt in Deutschland mehr Denkmäler auf denen Männer auf Pferden sitzen als Denkmäler für Frauen“, sagt Anna Norpoth. „Das wollen wir ändern.“ Deswegen entstand im Rahmen der weltweiten #makeusvisible-Kampagne ein digitales Denkmal für Frauenrechtlerin Lida Gustava Heymann. Fast ein Jahr lang wurde mit dem New Yorker Künstlerinnenkollektiv Arora, dem Entwicklerstudio Scavengar und der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg am digitalen Kunstwerk getüftelt. Jetzt kann man Audios, Fotos und die Texttafel auf dem Platz vor dem Rathaus aufrufen, allerdings nur mit einem iOS-Endgerät. Am 13. Mai wird die begleitete Vorführung dieses Denkmals in progress wiederholt. Die erste am vergangenen Montag hatte bereits zahlreiche Anregungungen zur Weiterentwicklung erbracht. Die sind willkommen: „Wir wollten ein interaktives Kunstwerk schaffen“, so Norpoth.

Der Zugang erfolgt über einen QR-Code, der beispielsweise in angrenzenden Geschäften ausliegt. „Leider durften wir den QR-Code nicht öffentlich anbringen“, so Norpoth. Die Unterstützung für die Kampagne sei in anderen Städten wie München größer gewesen. Norpoth: „Offiziell durften wir auch nicht am Tag des offenen Denkmals teilnehmen.“ Schließlich sei das Kunstwerk kein richtiges Denkmal.

Programm auf queerhistoryhamburg.de, nächster Termin: queer-historische Stadtführung, 9. 5., 14.30 Uhr, Colonnaden, Online-Anmeldung erforderlich