Schulforscher über Bildungsgerechtigkeit: „Lehrpläne entrümpeln“

Das Startchancen-Programm für Bildung reicht laut dem früheren Hamburger Staatsrat Ulrich Vieluf nicht. Wichtig seien mehr Zeit und andere Lehrpläne.

Zwei erhobene Hände in einer Schulklasse

Die einen melden sich oft, andere sind bereits abgehängt: Kinder in einer vierten Klasse Foto: Bernd Weißbrod/dpa

taz: Herr Vieluf, helfen die 20 Milliarden des Startchancen-Programms des Bundes, die soziale Ungerechtigkeit unseres Bildungssystems zu bekämpfen?

Ulrich Vieluf: Es kann einen kleinen Beitrag leisten. Auf den ersten Blick scheint es viel Geld zu sein. Aber sehr optimistisch gerechnet sind es 100 Euro pro geförderten Schüler im Monat. Das wiederum ist wenig. Gut gemeint, aber am Ende zu wenig, um viel Gutes zu bewirken.

Es verpufft?

Ja. Das Geld muss klug eingesetzt werden. Das ist keine leichte Aufgabe. Es darf weder Gießkanne noch Verwaltungsmonstrum werden.

Aber das Programm hat das Ziel, Benachteiligung zu bekämpfen.

Das ist nicht neu, das Ziel haben ja viele Programme seit dem Pisa-Schock vor 20 Jahren verfolgt. Die seither ergriffenen Maßnahmen haben aber die soziale Schere nicht schließen können. Ich kenne Schulen, denen das gelingt. Aber eben nicht in der Fläche.

Was heißt soziale Schere?

Wir stellen Jahr für Jahr fest, dass Kinder aus benachteiligten Elternhäusern im Durchschnitt geringere Lernstände erreichen als jene aus bildungsnahen Elternhäusern. Das wäre kein Problem, würden sie nicht überproportional die Mindeststandards verfehlen. Zu viele junge Menschen aus benachteiligten Sozialmilieus verlassen die Schule ohne hinreichend anschlussfähige Kompetenzen.

Sie meinen, sie können keinen Beruf erlernen?

Sie sind oftmals mit den gestiegenen und weiter steigenden Anforderungen der Berufswelt überfordert. Es gibt immer weniger Arbeitsplätze für An- und Ungelernte. Und für immer mehr Berufe ist das Abitur Eintrittskarte.

Mit dem Startchancen-Programm wollen Bund und Länder deutschlandweit 4.000 Schulen mit benachteiligter Schülerschaft unterstützen.

Je zehn Milliarden Euro vom Bund und von den Ländern soll es über Jahre verteilt dafür geben. Die Länder dürfen aber ihren Anteil mit existierenden Programmen verrechnen.

40 Prozent sollen in Schulbau fließen, 30 Prozent in Unterrichtsentwicklung und Fortbildung, nur 30 Prozent für Personal, das Kinder unterstützt.

Hamburg würde jährlich 21,5 Millionen bekommen. Davon profitieren sollen bis zu 45.000 Schüler an 80 bis 90 Schulen. In Niedersachsen sind es 390 mit rund 98.000 Schülern. In Schleswig-Holstein sollen bis zu 140 Schulen mit jährlich 32 Millionen Euro unterstützt werden. Bremen soll jährlich 10,5 Millionen Euro erhalten.

Es gibt Friseur-Azubis, die in der Berufsschule scheitern.

Nicht nur Friseur-Azubis. Der Berufsschulunterricht stellt Anforderungen, die junge Menschen mit geringeren Bildungsvoraussetzungen oft nicht erfüllen können. Die müssen Lücken schließen, wofür oft die Zeit fehlt.

Es heißt, Hamburg sei bei Startchancen schon vorbildlich. Weil es bei Kita-Kindern den Sprachstand erhebt und vor der Schule gezielt fördert.

Das ist ein wichtiger Schlüssel für Lernerfolg. Die Entwicklungsunterschiede, die die Kinder bei der Einschulung mitbringen, sind extrem groß. Wir müssen viel mehr in frühkindliche Bildung investieren. Da liegt der Grundstein für Teilhabe. Es reicht bei Weitem nicht aus, was hier passiert.

Aber wieso hört man von 4. Klassen in Hamburg, wo trotz Sprachfrühförderung die Hälfte der Kinder nicht lesen kann?

Das liegt auch an der Pandemie. Die Kinder hatten über zwei Jahre nur unregelmäßig Gelegenheit, die Bildungssprache Deutsch zu erwerben. Ihnen fehlen, wie eine Schülerin es ausdrückte, die Wörter. Diese Kinder haben Mühe, einen Text zu verstehen, weil ihnen etliche Wörter unbekannt sind. Das ist eine der schwerwiegendsten Folgen der Coronazeit. Je jünger die Kinder, desto stärker sind sie betroffen. Das aufzuholen, schafft man nicht in wenigen Monaten, auch nicht in einem Schuljahr.

Was kann man tun? Die Viertklässler kommen jetzt auf die weiterführenden Schulen.

Ich wünschte mir, dass man den Kindern Nachlernzeit gewährt. Dass man sie vor Misserfolgserlebnissen schützt, indem man jedem einzelnen Kind ermöglicht, anschlussfähige Kompetenzen zu erwerben. Was wäre daran schlimm?

68, ist Schulforscher und kennt die Hamburger Schulgeschichte aus verschiedenen Rollen. Von 1990 bis 2000 war er Büroleiter von SPD-Schulsenatorin Rosie Raab, von 2008 bis 2010 Staatsrat unter der Grünen Schulsenatorin Christa Goetsch.

Ein Jahr mehr Grundschule?

Ja beispielsweise. Gerade in sozial benachteiligten Milieus wäre es gut, wenn wir bei Kindern, deren Kompetenzen noch nicht den Sekundarschul-Anforderungen entsprechen, sagen: Wir setzen die Lernprozesse in der Grundschule fort. Nur brauchen die Schulen dafür Räume und Personal. Wohl auch deshalb wurde diese Option gar nicht erst in den Blick genommen.

Aber auch in den 9. Klassen erreichen viele nicht die Mindeststandards im Lesen.

Die Sekundarstufe erbt die Rückstände aus der Grundschule. Viele Lehrkräfte klagen ja auch, dass die Kinder vor allem in Deutsch und Mathematik nicht die Kompetenzen mitbringen, die das Curriculum für die Jahrgangsstufe 5 voraussetzt und dass sie die Grundschularbeit fortsetzen müssen. Das ist vor allem in sozial benachteiligten Milieus Alltag. Doch lässt man die Lehrkräfte im Regen stehen. Sie leisten viel, aber am Ende reicht es oft nicht.

Was müsste da passieren?

Wir brauchen eine Curriculum-Revision, eine grundlegende Entrümpelung überfrachteter Bildungspläne. Wir müssen uns fragen: Was ist wirklich notwendig und was ist realistisch in der verfügbaren Zeit zu schaffen? Diese Diskussion wird nicht geführt. Hilfreich wäre eine sorgfältige Analyse, warum all die Maßnahmen der letzten 20 Jahren zur Überwindung sozialer Ungleichheit so wenig Erfolg hatten. Da würden unsere überambitionierten Curricula in einer Rangliste ganz oben stehen. Für deren Revision bräuchte man keine 20 Milliarden, deren Wirkung wäre aber ungleich höher.

Sollte man in Hamburg über eine neue Schul­struktur nachdenken?

Dass wir mit den Säulen Gymnasium und Stadtteilschule nicht den Stein der Weisen gefunden haben, ist ein offenes Geheimnis. Die Aufteilung der Schülerschaft nach Schulformen begünstigt soziale Ungleichheit. Da kann es keine Denkverbote geben.

Sie haben 2019 für die Linksfraktion ein neues Schulgesetz für Hamburg entworfen. Was sah das in dieser Hinsicht vor?

Der Entwurf sieht keine äußere Differenzierung nach Schulformen vor. Jede Schule legt die Schwerpunkte ihrer pädagogischen Arbeit auf Grundlage regionaler Schulentwicklungsplanung fest. Sie trägt die Verantwortung für alle aufgenommenen Schüler bis zum Erreichen des höchstmöglichen Abschlusses. Eltern entscheiden mit ihren Kindern, welches Schulprofil den individuellen Voraussetzungen am besten entspricht. Das schließt nicht aus, dass es weiterhin Schulen mit einem gymnasialen Profil gibt. Nur werden die Schüler nicht mehr abgeschult.

Wie kam der Entwurf an?

Die Diskussion fiel leider der Pandemie zum Opfer. Aber das geltende Hamburgische Schulgesetz ist in die Jahre gekommen. Es ist höchste Zeit, es im Blick auf seine Zukunftsfähigkeit neu zu fassen.

Sie waren 2010 Staatsrat, als Hamburg versuchte, die Grundschule auf sechs Jahre zu verlängern. Woran scheiterte das?

Es lag, wie wir wissen, an einem Volksentscheid, der es mit einem niedrigen Quorum ermöglichte, die Reform zu stoppen – mit 276.000 Stimmen bei 1,3 Millionen Wahlberechtigten. Aber wir konnten damals auch nicht überzeugend belegen, dass das längere gemeinsame Lernen einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung sozialer Ungleichheit leisten kann.

Ist die Lage heute anders?

Ja. Das wird die, die es nicht wollen, zwar immer noch nicht überzeugen. Aber wir führen die Diskussion heute auf einer empirisch gut fundierten Basis.

Nun fordern Hamburger Eltern an Gymnasien per Volksinitiative für ihre Kinder ein neuntes Jahr (G9). Da gibt es einen Konflikt mit den Stadtteilschulen, weil die G9 schon anbieten. Wie kann man das lösen?

Bevor junge Menschen das neunte Jahr beispielsweise durch Klassenwiederholung realisieren, wäre es ehrlicher, zu sagen: Wir sind offen dafür, Jugendlichen, die mehr Zeit brauchen, auch mehr Zeit zu geben. Die Diskussion sollte um Kinder und ihre Bildungserfolge gehen und nicht um Konkurrenzen zwischen Schulformen.

Sie würden Gymnasien G9 erlauben. Wäre das kombiniert damit, dass diese Verantwortung für ihre Schüler tragen?

Ja. Das ginge Hand in Hand.

Ist das politisch machbar?

Ich hoffe, dass wir den Diskurs um die bestmögliche Förderung ohne Tabus führen können. Es ist Zeit, die Schere im Kopf zu überwinden und all die Empirie zu nutzen, um kluge Antworten auf die Frage nach dem besten Weg zur Überwindung sozialer Ungleichheit zu finden.

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