Jurist über Behinderung und Teilhabe: „Nichts mehr im Gesetz verloren“

Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel fordert eine Abkehr vom Begriff „geistige Behinderung“. Den Ministern für Arbeit und Gesundheit gibt er Hausaufgaben.

Bundesbehindertenbeauftragter Jürgen Dusel in einem Treppenhaus.

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen Foto: Piotr Pietrus

taz: Herr Dusel, zucken Sie zusammen bei dem Begriff „geistige Behinderung“?

Jürgen Dusel: Ja. Die wirklich überwiegende Anzahl der Menschen, die so genannt werden, empfinden diesen Begriff als stigmatisierend, abwertend und diskriminierend. Sie sagen: „Wir möchten nicht so genannt werden. Unseren Geist kann man nicht behindern.“

Und was sagen wir jetzt stattdessen?

Für die Teilhabeempfehlungen, die ich unter anderem dem Gesundheitsminister und dem Arbeitsminister übergebe, verwenden wir den Begriff „Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen“ – das entspricht der englischsprachigen UN-­Behindertenrechtskonvention. Dieser Begriff ist auch nicht unproblematisch, weil es verschiedene Formen der Intelligenz gibt, zum Beispiel die emotionale oder soziale Intelligenz. Aber es ist ein Einstieg in die Debatte um einen neuen Begriff.

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Der Jurist hat selbst eine Sehbehinderung.

In diesen Teilhabeempfehlungen legen Sie den Fokus ausschließlich auf Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Warum und warum gerade jetzt?

Ein wichtiger Auslöser waren die Special Olympics, die wir im Sommer in Berlin hatten. Die haben aus meiner Sicht gezeigt, wie bunt und gut es ist, wenn Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen sichtbarer sind. Dazu kommt, dass gerade die Teilhabechancen dieser Menschen noch schlechter sind als von Menschen mit Behinderungen insgesamt.

Den Begriff „geistige Behinderung“ zu ersetzen, ist eine zentrale Forderung in den Empfehlungen. Ist das Aufgabe der Bundesminister?

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat jetzt gerade begonnen, das Behinderten-Gleichstellungsgesetz zu überarbeiten. Das ist eine gute Möglichkeit für eine nötige Diskussion. Der Begriff „geistige Behinderung“ ist von der Lebenshilfe als Elternorganisation in den 1960er Jahren eingeführt worden und war damals viel besser als die furchtbaren Begriffe, die man vorher hatte. Aber wenn 60 Jahre später eine Gruppe, die so bezeichnet wird, das nicht möchte, dann hat der Begriff nichts mehr in den Gesetzen oder im Sprachgebrauch verloren. Die Lebenshilfe Österreich zum Beispiel hat den Begriff „geistige Behinderung“ bereits aus ihrem Namen gestrichen.

Hängt die Abwertung, die Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen erfahren, nicht an viel mehr als einem Begriff?

In der Tat. Der medizinische Begriff von Behinderung wurde in den letzten Jahrzehnten von einem menschenrechtlichen abgelöst. Aber Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen werden immer noch viel zu oft als defizitäre Wesen betrachtet. Es wird viel zu viel über sie und nicht mit ihnen gesprochen.

Wie haben Sie diese Gruppe zu Wort kommen lassen?

Mein Job ist es, ein Bindeglied zwischen Bundesregierung und Zivilgesellschaft zu sein. Die Teilhabeempfehlungen sind ja nichts, was sich der Behindertenbeauftragte Dusel ausdenkt, sondern Teil eines Kommunikationsprozesses. Selbstvertretungsorganisationen wie „Mensch zuerst“ sind da unsere ersten Ansprech­partner. Ich ziehe persönlich so viel Energie aus diesen Begegnungen und sie zeigen mir, dass wir gut beraten sind, uns auf die Expertise dieser Menschen einzulassen. Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen haben eine ganze Menge zu sagen und können das auch sehr gut artikulieren, wenn sie die Zeit und die nötige Assistenz dafür haben.

Haben Sie ein Beispiel für solch eine Begegnung?

Für den Arbeitsbereich haben wir Bildungsfachkräfte eingeladen, das ist eines meiner Lieblingsprojekte. Das sind Menschen, die in der Regel keinen Hauptschulabschluss haben, vorher in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen gearbeitet haben und denen man immer gesagt hat, mehr schafft ihr sowieso nicht. Und jetzt arbeiten diese Menschen an der Hochschule Kiel oder Heidelberg und bilden zukünftige Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit Menschen mit Behinderungen aus.

In den Teilhabeempfehlungen nehmen Sie die Debatte um die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen auf. 2015 erteilten die Vereinten Natio­nen Deutschland eine fette Rüge, weil das noch immer für so viele Menschen der einzig mögliche Arbeitsplatz ist. Hat sich seitdem etwas verbessert?

Zur Zeit arbeiten ungefähr 270.000 Menschen in Werkstätten, diese Zahl hat sich in den letzten Jahren nur minimal verbessert. Gerade für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen ist die Werkstatt ein Automatismus: einmal Förderbereich, immer Förderbereich. Vielleicht 0,5 Prozent der Beschäftigten schaffen den Übergang aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dabei sind Werkstätten eigentlich Einrichtungen der Rehabilitation.

Warum glauben Sie, dass sich jetzt etwas ändern könnte?

Vor allem, weil wir einen massiven Arbeitskräftemangel haben, ist jetzt eine gute Gelegenheit, die Automatismen zu unterbrechen. Wir haben die Situation, dass Menschen nach der Schule direkt in den Bildungsbereich der Werkstätten kommen. Aber bildet der denn tatsächlich für den allgemeinen Arbeitsmarkt aus oder nicht eher für die Beschäftigung in der Werkstatt? Wir fordern, diesen Berufsbildungsbereich komplett aus den Werkstätten rauszunehmen.

Wer muss das machen?

Das wäre jetzt eine Aufgabe des Arbeits- und Sozialministeriums bei der Reform des Werkstattrechts.

Sie fordern auch einen Hochschulzugang für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen.

Ja, ich weiß, das geht für viele gar nicht zusammen. Aber da sollten wir mal in andere Länder schauen, wo Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen durchaus Zugang zur Hochschule haben, beispielsweise wenn es um Kunsthochschulen geht. Wir denken, wir könnten uns über die Begabungen dieser Menschen ein Urteil erlauben. Viele werden da richtig emotional, von wegen, jetzt sollen die auch noch studieren können. Aber da sage ich: Macht euch mal locker und lasst uns schauen, was möglich ist.

Sie haben Ihre Teilhabeempfehlungen auch an den Gesundheitsminister Karl Lauterbach adressiert. Was läuft schief im Gesundheitsbereich?

Mich hat es noch mal aufgerüttelt, als ich mir die Ergebnisse des Healthy-Athlets-Programms angeguckt habe. Da wurde der Gesundheitszustand auch der deutschen Athletinnen und Athleten bei den Special Olympics untersucht. Rund 50 Prozent hatten die falsche Sehhilfe, 30 Prozent zu kleine Schuhe, es gibt unentdeckte Diabetes, unentdeckten Bluthochdruck, große Mängel in der Zahngesundheit. Das kann doch nicht allen Ernstes unser Anspruch an ein modernes Gesundheitssystem sein!

Viele denken bei Barrierefreiheit vor allem an die Rampe vor der Arztpraxis …

Die ist auch wichtig. Aber wir brauchen auch Leichte Sprache in der Behandlung und vor allem mehr Zeit, die sich auch in der Vergütung widerspiegelt. In der Aus- und Weiterbildung müssen Ärztinnen und Ärzte mehr lernen über Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Gerade für erwachsene schwerstmehrfachbehinderte Menschen brauchen wir flächendeckend medizinische Zentren, und wir müssen dafür sorgen, dass Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen Zugang zu Prävention haben wie alle anderen auch.

Angesichts riesiger Reformvorhaben: Hat der Gesundheitsminister die Gruppe, über die wir grad sprechen, überhaupt auf dem Zettel?

Das Gesundheitsministerium muss nach dem Koalitionsvertrag einen Aktionsplan vorlegen für ein diverses, nachhaltiges, barrierefreies Gesundheitswesen. Das ist jetzt auch angelaufen. Natürlich kann auch der Gesundheitsminister keine 24 Stunden am Tag arbeiten, also ist das eine Frage der Priorisierung. Ich lege großen Wert darauf, dass da jetzt etwas passiert, und ich bin damit nicht alleine. Ich bin Teil des Drucks, der nötig ist, um den Staat daran zu erinnern, dass Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen bislang nicht die gleichen Rechte haben.

Teilhabeempfehlungen – das klingt auch ein bisschen nach Schublade. Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass die auch fruchten?

Ich habe 2019 die ersten Teilhabeempfehlungen abgegeben und stelle jetzt fest, dass sich manche in Gesetzen wiederfinden – Stichwort Assistenz im Krankenhaus oder Einführung einer vierten Stufe der Ausgleichsabgabe für beschäftigungspflichtige Unternehmen, die keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. Auch im Koalitionsvertrag ist in Sachen Teilhabe mehr verabredet worden als in der Legislatur davor. Jetzt geht es darum, auch zu liefern.

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