Bremer Hannah-Arendt-Preis 2023: Keine Feier für Masha Gessen

Die Publizistin erhält den Preis, aber die Feier fällt aus. Sie hat den Krieg in Gaza mit der Liquidierung der Ghettos unter den Nazis gleichgesetzt.

Publizistin Masha Gessen spricht in ein Mikrofon

2019 erhielt Gessen den mit 20.000 Euro dotierten Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung Foto: Jan Woitas/dpa

BREMEN taz | Ausgeladen hat das Bremer Rathaus den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. Statt wie jedes Jahr im Rahmen eines Festakts mit Sektempfang und Bürgermeister-Grußwort wird die Auszeichnung an die amerikanisch-russische Intellektuelle Masha Gessen am Freitag zwar wohl in Bremen, aber in einem eher improvisierten Rahmen und ganz ohne Beteiligung der Preisgeberinnen stattfinden. Denn außer der Stadt hat sich auch die Böll-Stiftung aus der Veranstaltung zurückgezogen. Grund: der Krieg von Israel gegen die Hamas – und dessen mehr als problematische Einstufung durch Gessen.

Über die hatte sich der Bremer Ableger der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) empört und anlässlich eines langen Essays in der jüngsten Ausgabe des Magazins New Yorker die Aussetzung der Preisvergabe gefordert. In dem Text hatte die 1967 als Kind einer jüdischen Familie in Moskau geborene Autorin die Lage der Palästinenser mit jener der Juden im Ghetto im durch die Nazis besetzten Europa verglichen. Keinesfalls aus Versehen oder beiläufig: „as in the Jewish ghettoes of Occupied Europe“, so heißt es, und weiter, „there are no prison guards – Gaza is policed not by the occupiers but by a local force.“

Ad hoc übersetzt bedeutet das in etwa: „Wie in den jüdischen Ghettos im besetzten Europa gibt es keine Gefängniswärter – der Gazastreifen wird nicht von den Besatzern, sondern von lokalen Kräften bewacht.“ Es stehe Gessen frei, solche Auffassungen zu vertreten, heißt es in dem Brief der DIG. Sie sollte dafür aber „nicht mit einem Preis geehrt werden, mit dem der jüdischen Philosophin Hannah Arendt gedacht“ werde.

Genau besehen ist die Formulierung freilich kompliziert und alles andere als eindeutig. Die DIG nimmt sie in einem offenen Brief als ausschließliche Bezichtigung Israels wahr, und erinnert zu Recht daran, dass der Gazastreifen „seit 2005 von den Palästinensern selbst regiert“ werde und „seit der gewaltsamen Machtübernahme unter der diktatorischen Herrschaft der Hamas“ stehe. Möglich ist allerdings auch die Lesart von Gessens Text, nach der genau diese mit den „lokalen Kräften“ gemeint sind, die ja ausdrücklich von den Besatzern (occupiers) abgegrenzt werden.

Vereinssprecher hätte Diskussion gern im Rathaus geführt

Doch das sind philologische Feinheiten, angesichts der krasseren Formulierung Gessens, die sich anschließt und den Absatz beendet: Denn hier behauptet sie, allein mithilfe der historischen Gleichsetzung der Lage im Gazastreifen mit den Ghettos im besetzten Europa könne der richtige Begriff für das, was aktuell dort geschehe, gefunden werden: „The ghetto is being liquidated.“

Dieses rhetorische Spiel überzeugt denn auch Peter Rüdel nicht, den Sprecher des Vereins Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. „Ich halte diese Gleichsetzung für falsch und die Aussage für unmöglich.“ Allerdings sei es aus seiner Sicht weder denkbar noch gerechtfertigt, die Preisvergabe zu canceln. „Dieser Festakt ist eine Gelegenheit, um solche Kontroversen auszutragen. Was, wenn nicht das, ist politisches Denken.“

Hinzu kommt: Einen einmal zugesprochenen Preis abzuerkennen, ist bereits rechtlich unzulässig. Es käme einer Ent-Ehrung gleich – und würde die Meinungsfreiheit der Ju­ro­r*in­nen beschneiden. „Wir fühlen uns als Vorstand des Vereins an die Entscheidung der Jury gebunden“, sagt dementsprechend Rüdel. Besetzt ist die mit fünf international anerkannten Po­li­tik­wis­sen­schaftle­r*in­nen und dem ehemaligen Bremer taz-Redakteur Klaus Wolschner. Sie hatte, wie stets, im Sommer getagt und auch ihre Entscheidung nebst Begründung bekannt gegeben.

Vor allem sollte Gessens Engagement in der Schwulen- und Lesbenbewegung gewürdigt werden. Ebenso rühmte die Jury, dass Gessen „laufend über russische Oppositionsinitiativen und NGOs“ berichtet habe und sich gegen die „autokratische Erosion in den USA“ mit publizistischen Mitteln zur Wehr setze. Angesichts einer Gegenwart, die vom „kriegsbereiten Totalitarismus in Russland und von gravierenden Konflikten zwischen den großen Mächten geprägt ist, wird politisches Verstehen im Arendtschen Sinn geradezu erste Bürgerpflicht“, heißt es im Statement von August weiter.

Spezielle Konstellation im deutschen Diskurs

Die Kritik an der Preisvergabe spiegelt eine spezielle Konstellation im deutschen Diskurs wider: Die Palästina-Sympathisant*innen, hierzulande marginalisiert und durch Bundestags- und in Bremen einen Bürgerschaftsbeschluss für antisemitisch erklärt, prägen den politisch-philosophischen Diskurs insbesondere in den USA.

Aber auch die britische und die französische Linke neigt dazu, die islamistisch grundierte Gewaltpolitik der Hamas als Teil eines antikolonialen Befreiungskampfs zu deuten. Während Rüdel genau diesen Konflikt gern im Rahmen des Preises ausgetragen sähe, fordert der Politikwissenschaftler Lothar Probst, selbst ein Gründungsmitglied des Arendt-Preisvereins, diese Haltung nicht zu rühmen.

In einem Brief an Senat, Vereinsvorstand und Böll-Stiftung rügt er, dass die Jury Gessens mehrfach bekräftigten Antizionismus mindestens billigend in Kauf genommen haben muss. Auch Probst fordert, gemeinsam mit der ehemaligen Europaabgeordneten und Bremer Kultursenatorin Helga Trüpel (Grüne), die Absage der Preisverleihung.

„Natürlich ist das für die Veranstalter eine unangenehme Situation“, so Probst. Eine Absage wäre Wasser auf die Mühlen von Gessens Behauptung, „dass man in Deutschland Israel nicht kritisieren darf“. Die Alternative wäre, Gessen während des Festakts zu widersprechen. „Das müsste allerdings dann auch in einer Entschiedenheit geschehen, die zu einem Eklat führen würde“, so Probst.

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