Prost Fahrzeit

Rastplatz Börde-Nord am Sonntag: Lkw-Fahrer müssen pausieren. Die Familie ist weit weg. Es gibt nichts zu tun. Viele trinken Alkohol. Und fahren dann weiter

Alex Popescu und ein weiterer rumänischer Lkw-Fahrer. Was sollen sie hier sonst tun außer trinken? Zwangspause übers Wochenende auf dem Rastplatz Börde Nord bei Magdeburg.

Von Jana Lapper (Text)
und Christian Thiel (Fotos)

Zwischen endlosen Lkw-Reihen auf der Raststätte Börde-Nord, gut 30 Kilometer von Magdeburg entfernt, ist an diesem Sonntag zunächst kein Mensch zu sehen. Nur das Dauerrauschen der Autobahn dringt auf den Parkplatz. Es ist einer der ersten Tage im Jahr, an denen der Himmel blau strahlt und die Sonne tatsächlich wärmt. Dann klingt von irgendwoher Popmusik. Der Weg führt zwischen zwei meterhohen Lkws entlang, zu einer offenen Fahrerkabine. Davor stehen zwei Männer, zwischen ihnen ein knappes Dutzend leerer Lidl-Bierflaschen. Gerade hatten sie noch miteinander auf Rumänisch geredet und gelacht. Jetzt fällt der Blick auf das Notizheft und die Kamera der Besucher. „Seid ihr von der Polizei?“, fragt der eine.

Alex Popescu sieht nicht gerade wie ein typischer Fernfahrer aus. Zwar trägt auch er die obligatorische Jogginghose, der man auf der Raststätte überall begegnet. Mit seinen olivegrünen Nike-Sneakern, Sidecut-Frisur und Rayban-Brille, die sich in der Sonne dunkel tönt, sticht er unter den anderen Fahrern aber hervor. Der 29-Jährige lacht viel und laut – seine Biere, die er bis zum Nachmittag schon getrunken hat, dürften ihren Anteil daran haben. Englisch hat er während seiner Zeit in Großbritannien gelernt, wo er zwei Jahre als Barkeeper gearbeitet hat.

Jetzt ist Popescu bei einer niederländischen Spedition angestellt, stolz holt er den Arbeitsvertrag aus der Kabine. Meist fährt er Zement durch ganz Europa, gerade ist er auf dem Weg nach Belgien. Er verdiene gut, sein rumänischer Bekannter, mit dem er an diesem Nachmittag Bier trinkt, bekommt nur halb so viel. Denn der fahre für eine rumänische Spedition.

Schlimm sei für Popescu aber, dass er nur alle vier Wochen zurück nach Bukarest zu seiner Frau und der anderthalbjährigen Tochter könne. „Sie wissen nicht, wo ich am Abend schlafe oder was ich esse“, sagt er. Aber er wolle ein guter Ehemann sein und arbeite für die Zukunft seiner Tochter. „Ich opfere mich selbst für meine Familie“, sagt Popescu und lächelt trotzdem. „Es ist ein hartes Leben, weißt du.“

Vor 30 Stunden hat er seinen Lkw auf dem Rastplatz geparkt. Er verbringt hier sein Wochenende. Am Sonntag gilt bis um 22.00 Uhr für alle größeren Lastwagen ein Fahrverbot. Hinzu kommt die Bestimmung des deutschen Fahrpersonalgesetzes, nach dem Fernfahrer jede Woche eine Ruhezeit von 45 Stunden einhalten müssen.

Weil sein Zuhause in Rumänien auf den wochenlangen Touren durch Europa in weite Ferne rückt, hält Popescu für diese Zeit fast immer auf Raststätten. Und diese Zeit fließt zäh dahin. Über zwei Tage Stillstand. Was bleibt den Fahrern zu tun, weit weg von ihrem Zuhause? Einige greifen zur Flasche. Polizeikontrollen bestätigen das immer wieder, so wie an einem Sonntag Ende Januar in Hessen. Auf mehreren Rastplätzen kontrollierten die Beamten 1.200 Lkw-Fahrer während ihrer sonntäglichen Ruhezeit. 190 davon hatten Alkohol getrunken – 79 so viel, dass sie auch nach dem Ende des Fahrverbots nicht weiterfahren durften. Bei einer Kontrolle letzte Woche in Niedersachsen ein ähnliches Bild: 20 Fahrer durften nicht weiterfahren, einer von ihnen wollte mit 3,02 Promille wieder in seinen Laster steigen. Die Beamten setzten Parkkrallen an oder nahmen die Schlüssel ab.

Sonst wären sie wohl trotz ihres Pegels wieder auf die Autobahn gefahren – für Autofahrer eine Horrorvorstellung. „Es ist ein physikalisches Gesetz“, sagt ein Sprecher des ADAC. „Schon die Masse von bis zu 40 Tonnen birgt ein Gefahrenpotenzial.“ Das zeigt sich in der Crashanlage: Fährt ein nur sieben Tonnen schwerer Lkw am Ende eines Staus auf zwei stehende Autos auf, bleibt nur noch ein Metallknäuel. 60 Prozent der tödlichen Unfälle mit Lkws geschehen auf diese Weise. Wegen Alkohol starben 2017 auf deutschen Straßen 231 Menschen – 7 davon durch Lkw-Fahrer.

Misst die Polizei bei ihren Kontrollen 0,5 Promille Alkohol im Blut, lege sie den Fahrern ans Herz, den Lastwagen doch noch ein wenig stehen zu lassen, sagt der Sprecher der Polizei Mittelhessen Jörg Reinemer. Seine Direktion hatte die Kontrolle im Januar durchgeführt. Verbieten könne sie die Weiterfahrt aber nicht. Für Lkw-Fahrer gilt die gleiche Promillegrenze wie für alle Autofahrer. „Fest steht, dass die Fahrer in den Pausen ja grundsätzlich Alkohol trinken dürfen. Nur sollte der Pegel zum Fahrtbeginn wieder abgebaut sein“, sagt Reinemer.

An diesem Sonntag ist entlang der A2 so gut wie jeder Rastplatz oder Autohof voll geparkt. In zentimetergenauen Abständen fädelt sich Lastwagen an Lastwagen. Ein Fahrer hat die Plane seines Lkws zur Seite gehängt und auf der leeren Ladefläche einen Campingkocher aufgestellt. In der Pfanne darauf brutzelt ein fettiges Stück Schweinebauch, der Geruch verteilt sich über den ganzen Platz. Der Koch kommt aus Litauen. Die Kennzeichen der anderen Fahrzeuge verraten, dass ihre Herkunft ähnlich oder noch weiter im Osten liegt – in Polen, Bulgarien, Rumänien oder der Ukraine.

„Meine Familie weiß nicht, wo ich am Abend schlafe oder was ich esse. Es ist ein hartes Leben.“

Alex Popescu, Lkw-Fahrer aus Rumänien

Hört man sich in der Branche um, sind sich viele einig: Alkohol ist vor allem bei Fahrern aus Osteuropa ein Problem. Das bestätigt auch Markus Wolters, Sprecher des Deutschen Speditions- und Logistikverbandes. „2,0 Promille ist unter osteuropäischen Fahrern keine Seltenheit“, sagt er. „Das zeigt auch eine gewisse Gewöhnung.“

Weiter zur Raststätte Buckautal an der A2 in Richtung Berlin. Auch hier ein Rastplatz wie jeder andere: eine Tankstelle, ein Burger King, ein Kinderspielplatz mit Plastikrutsche. Daneben ein Kiefernwäldchen. Direkt neben der Autobahn liegt der Parkplatz für Lkws. Zwischen den Fahrzeugen stolpert ein Mann herbei, er nennt sich Pep. Seine Fahne ist schon aus zwei Metern Entfernung zu riechen. Die glasigen Augen verraten, dass er heute nicht erst einen Drink hatte. Die großporige, ledrige Haut zeugt vom jahrelangen Alkoholkonsum.

Pep kommt aus Estland und fährt seit fünf Jahren mit dem Lastwagen durch Deutschland, so viel ist aus ihm herauszubekommen. Auf die Frage, wie er am Wochenende seine Zeit auf der Raststätte verbringt, tippt er sich an den Hals. „Trinken. Jeden Tag.“ Dann lacht er. Auf jede weitere Frage schüttelt er träge den Kopf, tippt sich mit den dicken, krummen Fingern, die von harter körperlicher Arbeit zeugen, gegen den Kopf. Er nuschelt: „Dumpf im Kopf.“ Seine Worte sind unverständlich, er könnte auch „dumm“ oder „stumpf“ gemeint haben. Ob dieser Mann wirklich weiß, wann er wieder fahrtüchtig ist?

Ein Sonntag auf drei Raststätten in Sachsen-Anhalt und Brandenburg zeigt: Die Fahrer trinken Alkohol. Die Polizei Mittelhessen hat bereits mit mehr Sonntagskontrollen auf Rastplätzen reagiert. Alex, Pep und die anderen Fahrer dieser Recherche geben an, selbst noch nie kontrolliert worden zu sein.

Wie also mit Alkohol und Lkw-Fahrern umgehen? Thomas Rackow vom Logistikverband Schleswig-Holstein fordert eine 0-Promille-Grenze. Die gilt bisher nur für den Transport von Gefahrgut. „Wir fahren mit 40 Tonnen durch die Gegend“, sagt Rackow. „Das ist ein ganz anderes Gefährdungspotenzial als bei Autofahrern.“ In einigen Ländern wie Kroatien oder Slowenien müssen Lkw-Fahrer absolut nüchtern sein. Manche Arbeitgeber regeln auch in Deutschland in ihren Arbeitsverträgen, dass Alkohol während der Arbeitszeit tabu ist.

Markus Wolters vom Deutschen Logistikverband ist gegen eine solche Verschärfung: „Warum soll die 0-Promille-Grenze nur für Lkw-Fahrer gelten? Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz.“ Ähnlich argumentiert er gegen Alkologs, also eine Wegfahrsperre, die sich erst löst, wenn der Fahrer nüchtern in das Gerät pustet. „Ein solche Regelung ist schief, wenn sie nicht für alle Verkehrsteilnehmer gilt.“

Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung wiederum spricht sich für eine ganz andere Lösung aus: Die Fahrer sollen nach spätestens vier Wochen in ihr Heimatland zurückkehren. Eine solche Heimkehrpflicht ist Teil des Mobilitätspaketes, das die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gerade diskutieren (siehe Text links).

Speisen im Restaurant? Viel zu teuer. Lkw-Fahrer machen sich ihr Essen selbst

Von einer solchen Regelung würden vor allem Fahrer aus Osteuropa profitieren. Die stellen auch deutsche Speditionen gerne an. Eine Internet-Suche ergibt zahlreiche Links zu Personalvermittlern, die osteuropäische Fahrer mit deutschen Arbeitgebern zusammenbringen. Denn hier herrscht akuter Personalmangel: Nach einer Studie des Kraftfahrtbundesamts gehen jährlich 67.000 Fahrer in Rente, doch nur 27.000 kommen nach. Nur noch wenige Deutsche wollen den harten Job machen, bei dem sie wochenlang unterwegs sind.

Viele Osteuropäer aber finden in ihrer Heimat keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit – und werden trotz der schlechten Bedingungen Fernfahrer. Hinzu kommt der Kostenfaktor: „Die osteuropäischen Fahrer, die wir treffen, bekommen zwischen 250 und 600 Euro Lohn“, schreibt Michael Wahl auf der Website des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Als Teil des gewerkschaftlichen Projektes „Faire Mobilität“ berät er vor allem polnischsprachige Fahrer auf deutschen Raststätten. Das Alkoholproblem, das laut der Fachzeitschrift Eurotransport ein „importiertes“ sein soll, ist also mitunter hausgemacht.

Auch der Lette Genadijs arbeitet für eine deutsche Spedition. Gerade ist er mit einer Ladung Metallteile auf dem Weg nach Schweden und macht wie Pep seinen Halt auf der Raststätte Buckautal. Am nächsten Morgen wird er weiter nach Rostock fahren. Er trägt den typischen Trucker-Stil: Jogginghose und Badelatschen mit Socken. Sein schütteres Haar ist grau, über seinen großen Bauch spannt sich ein blau gestreiftes T-Shirt. In der Schule habe er etwas Deutsch gelernt, erzählt er schüchtern. Bei der Frage nach seinem vollen Namen reißt er die Augen auf, wehrt mit der Hand ab und lächelt dann entschuldigend. Es ist ihm sichtlich unangenehm.

Seine Fahrerkabine zeigt er dann aber gerne. Beim Öffnen der Tür kommt einem muffiger Geruch entgegen. Auf dem Amaturenbrett steht ein Wasserkanister, etwas Geschirr, eine Küchenrolle. Auf der Liegefläche hinter dem Fahrersitz liegt eine zerknüllte Decke in Tigermuster. Ansonsten: keine Fotos, kein Namensschild in der Windschutzscheibe, kein Schnickschnack. Hier verbringt Genadijs seit fünf Jahren die meiste Zeit seines Lebens, mal hinter dem Lenkrad, mal auf der Liegefläche.

Wieder draußen erzählt er von seiner Frau und seinem Sohn. Wie alt der ist? Er malt mit dem Finger eine Zahl auf die staubige Lkw-Tür: 22. Das letzte Mal hat er die beiden vor 21 Tagen gesehen, die Zahl kennt er genau. Ende des Monats fährt er wieder zu ihnen nach Hause, nach Rēzekne im Osten Lettlands, das jetzt 1.346 Kilometer entfernt liegt. Er habe es aber noch gut getroffen, meint Genadijs und zeigt auf zwei Männer, die ein paar Meter weiter zusammenstehen. „Russen“, sagt er. „Fahren bis nach China.“

Markus Wolters vom Logistikverband denkt, dass hier der eigentliche Grund für das Alkoholproblem liegt: Wer monatelang unterwegs sei, lebe in sozialer Isolation. „Man kann den Fahrern nicht zumuten, dass sie ihre Kinder aus der Ferne aufwachsen sehen.“

„2,0 Promille ist unter osteuropäischen Fahrern keine Seltenheit. Das zeigt auch eine gewisse Gewöhnung“

Markus Wolters, Deutscher Speditions- und Logistikverband

Auch Popescu verbringt viel Zeit alleine. Er klettert die drei Sprossen zu seiner Fahrerkabine hoch, die wie nagelneu aussieht. Es riecht nach Vanille-Lufterfrischer. „Mein Haus ist sauber, also ist mein Lastwagen auch sauber“, sagt er über sein gut zwei Quadratmeter großes Reich. Auf der Liegefläche ist die Decke mit rosa Elefanten-Motiv ordentlich zusammengelegt, seine Schlafklamotten darauf ebenso säuberlich. Stolz zeigt er seinen herausfahrbaren Mini-Kühlschrank. Darin liegt eine Packung Fleischbällchen und selbst gemachte Pasta in einer durchsichtigen Dose. Sein Essen kauft er bei Lidl oder Aldi. In einem der Restaurants, wie sie auf jeder Raststätte stehen, hat er noch nie gegessen – „zu teuer und nicht gut.“

Kalte oder regnerische Tage verbringt er fast durchgehend in seiner Kabine. Dann schaut er auf seinem Laptop Filme, die er aus Rumänien mitbringt – oder er trinkt. Auch heute liegen in seinem durchsichtigen Müllbeutel, der am Beifahrersitz hängt, schon zwei leere Bierflaschen. Dass er am Wochenende Alkohol trinkt, ist für Popescu kein Problem. Es sei ja seine Freizeit. Und überhaupt: Was sollte er hier sonst tun?

Ein grüner Flixbus fährt auf dem Rastplatz vor. Einige Menschen steigen aus. Sie stellen sich in die Sonne, rauchen auf dem Bordstein sitzend eine Zigarette oder starren auf ihr Smartphone. Für sie ist es nur ein kurzer Halt, in wenigen Minuten geht die Fahrt weiter. Die Raststätte bleibt für sie ein Ort des Durchgangs. Popescu aber ist schon seit 30 Stunden hier. Weiterfahren darf er erst am nächsten Morgen.

Was bleibt einem zu tun, an so einem Ort? Einem Ort, der überall entlang der Autobahn gleich aussieht, auch wenn die Raststätte eine andere sein mag. Einem Ort, der zwar zum Halten, nicht aber zum Verweilen gemacht ist. Einem Ort, an dem Schilder und Piktogramme das Leben ordnen, nicht aber echter Austausch. Für den französischen Anthropologen Marc Augé wäre eine Raststätte ein Nicht-Ort. Er schreibt über sie: „Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“