Afghanistan-Untersuchungsausschuss: Die Fragen bleiben

Seit 18 Monaten analysiert ein Untersuchungsausschuss den Truppenabzug aus Afghanistan. Ab Donnerstag dürfte es im Gremium politischer werden.

In einem Transportflugzeug der Bundeswehr sitzen Menschen, die von aus Kabul gerettet wurden.

Eine Bundeswehrmaschine nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 17. August 2021 Foto: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa

BERLIN taz | Dann ist da doch eine Gedächtnislücke bei der ehemaligen deutschen Botschafterin in Washington. Sie könne sich nicht mehr daran erinnern, sagt Emily Haber, ob sie der Bundesregierung Handlungsempfehlungen bezüglich ihrer Afghanistan-Politik gegeben habe. Eben hatte die ehemalige Botschafterin minutiös dargelegt, weshalb sie Berlin in einem Kabelbericht am 6. August 2021 dringend darüber in Kenntnis setzen wollte, dass in den USA Planungen liefen: für den Fall, dass die afghanische Regierung dem Vormarsch der Taliban nicht standhalten würde.

Am Donnerstag beginnt für den Afghanistan-Untersuchungsausschuss im Bundestag das voraussichtlich letzte Jahr seiner Arbeit. Seit 18 Monaten befasst sich das Gremium mit dem Ereignis, das als Offenbarungseid westlicher Militärinterventionen gesehen wird: Mit dem chaotischen Truppenabzug aus Afghanistan besiegelten die Nato-Staaten den längsten Militäreinsatz der Allianz mit einem Debakel. Am 15. August 2021 hatten die Taliban Kabul eingenommen. Die apokalyptischen Bilder, wie die USA und ihre Alliierten das Diplomatenviertel Kabuls Hals über Kopf räumten, gingen um die Welt.

„Ich habe versucht zu übermitteln, wie die Amerikaner das Gesamtbild von Erreichbarkeit und Risiko bewerteten“, sagte Emily Haber im Zeugenstand des Untersuchungsausschusses. Die Anhörung der ehemaligen Diplomatin, die erst vor wenigen Monaten in den Ruhestand getreten ist, prägte die letzte Sitzung des Gremiums im Jahr 2023. Gleichzeitig war es das erste Mal, dass eine frühere Spitzendiplomatin im Ausschuss gehört wurde. Bis dahin vernommene Zeu­g*in­nen stammten meist aus den Beamtenapparaten der Ministerien.

Patenschaftsnetzwerk hat Kontakt zu 200 Ortskräften

Dabei zeichnete sich in den vergangenen Monaten auch schon das Denkmuster vieler deutscher Behörden in ihrer Afghanistan-Politik ab. Ministerien blieben streng ihrer eigenen Logik verhaftet und ignorierten den Taliban-Vormarsch im Frühjahr 2021 entweder oder wollten dessen mögliche Konsequenzen nicht wahrhaben. Besonders deutlich wurde das in der Frage der afghanischen Mit­ar­bei­te­r*in­nen deutscher Ministerien, den Ortskräften.

Mit­ar­bei­te­r*in­nen des Auswärtigen Amts unter Heiko Maas (SPD) und des Innenministeriums (BMI) unter Horst Seehofer (CSU) äußerten, dass es nun mal „entgegen der Regeln“ gewesen sei, vereinfachte Visa-Verfahren für afghanische Beschäftigte einzuführen, um ihnen so eine rechtzeitige Flucht nach Deutschland zu ermöglichen. Im Referat für Grenzpolizeiliche Angelegenheiten des BMI habe ein Beamter sogar wortwörtlich gesagt, dass die afghanischen Kol­le­g*in­nen nicht „in den Genuss einer einfachen Einreise“ nach Deutschland kommen sollen, wie die Zeit zuletzt unter Berufung auf interne Dokumente aus den Ministerien berichtete.

Der härteste Beweis für die Blockadehaltung des Innenministeriums waren aber die Abschiebungen nach Afghanistan 2021: Wohl auch mit Blick auf die Bundestagswahlen im September ließ Seehofer noch bis vier Tage vor dem Fall Kabuls Abschiebeflüge nach Afghanistan organisieren.

Auch das Entwicklungshilfeministerium war lange nicht an einem vereinfachten Ortskräfteverfahren interessiert. Beamte der Behörde hatten im Untersuchungsausschuss zu Protokoll gegeben, dass man die lokalen Beschäftigten in Afghanistan schlicht zu sehr gebraucht habe, um sich für ihre Ausreise nach Deutschland einzusetzen. So waren bei dem Fall Kabuls noch etwa 1.000 Ortskräfte in der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit des Entwicklungshilfeministeriums tätig.

In Deutschland ist das Ortskräfte-Patenschaftsnetzwerk aktuell noch mit etwa 200 ehemaligen lokalen Beschäftigten in Afghanistan in Kontakt. „Darunter sind auch mehr als 100 Menschen, die aufgrund bürokratischer Hürden weiterhin vom Ortskräfteverfahren ausgeschlossen sind“, erklärte der Vorsitzende der Organisation, Marcus Grotian, gegenüber der taz. Bei den ehemaligen afghanischen Kolleg*innen, die bereits in Deutschland lebten, gebe es auch viel zu tun. „Nach mehr als acht Jahren in Deutschland leben noch immer Menschen in Übergangswohnheimen, bekommen nur einjährige Verlängerungen ihrer Aufenthaltstitel und warten seit Jahren auf Familienzusammenführungen“, so Grotian.

Die ehemalige Botschafterin in den USA Haber sah in der Zusammenarbeit zwischen den USA und Deutschland in der Frage eines Abzugs aus Afghanistan „einen gewissen Disconnect“. Im Untersuchungsausschuss sagte die Diplomatin a.D., Joe Bidens Administration habe nach dessen Antritt als neuer US-Präsident zunächst alle Gesprächskanäle zu ausländischen Ver­tre­te­r*in­nen gekappt. Die Entscheidung zum Truppenabzug Ende April 2021 sei von deutscher Seite dann als unilateral wahrgenommen worden. „Berlin war fokussiert auf die Annahme, wie können wir in Afghanistan vor Ort Bedingungen setzen, und welche Bedingungen haben wir, um das sicherzustellen“, so Haber.

Als fatal wertete die Diplomatin das Abkommen, das die US-Regierung von Donald Trump mit den Taliban Ende Februar 2020 in Doha geschlossen hatte. Der Vertrag sollte einen Plan für den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan zeichnen, ursprünglich aber auch eine Basis für innerafghanische Friedensgespräche zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul schaffen. Doch Doha wurde der Afghanistan-Koalition vielmehr zur Grundlage, welche das Land künftig seinem eigenen Schicksal überließ.

Zu starker Fokus auf das Handeln der USA?

Afghanistan-Analyst und taz-Autor Thomas Ruttig bewertete die Zusagen der Taliban im Doha-Abkommen als „von den USA genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten“. Mit dem Vertrag sollten demnach Angriffe auf US-Truppen und ihre Verbündeten unterbunden werden, aber eben nicht auf die afghanischen Partnertruppen, die danach dem vollen Druck der Taliban ausgesetzt gewesen seien, „genauso wie die afghanische Zivilbevölkerung“.

„Ich habe das gewissermaßen auf dem Aussichtsturm beobachtet und hatte die Auffassung, dass man wichtige Dinge aus der Hand gibt“, sagte die ehemalige deutsche Botschafterin ­Haber mit Blick auf die Doha-Verhandlungen. Auf die Frage hin, als wie wahrscheinlich sie angesichts des Taliban-Vormarsches die von manchen gehegte Hoffnung gesehen habe, die USA mögen ihren Truppenabzug noch einmal überdenken, antwortete sie: „Ausgeschlossen.“

Die USA hätten die Entscheidung zum Rückzug aus Afghanistan spät getroffen, so ­Haber. „Die Folgen für die Sicherheit aus einem stornierten oder verschobenen Rückzug hat für die Amerikaner eine erhebliche Rolle gespielt.“

Thomas Röwekamp, Obmann für die Unionsfraktion in dem Ausschuss, wertete die Aussagen der Diplomatin als aufschlussreich. „Im Auswärtigen Amt hätte man früher und konkreter für den Ernstfall planen können und müssen, so wie die USA es bereits vor dem Sommer 2021 taten“, erklärte der Politiker nach der Befragung gegenüber der taz.

Der Vorsitzende des Afghanistan-Untersuchungsausschusses, der SPD-Politiker Ralf Stegner, sieht durch die Aussagen der Zeugin eine Annahme bestätigt. „Das aus Sicht der internationalen Gemeinschaft überaus schwach ausgehandelte Doha-Abkommen der Trump-Administration hat die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen stark begrenzt und einen konditionsbasierten Abzug aus Afghanistan de facto unmöglich gemacht“, erklärte er der taz.

Analyst Ruttig schrieb unlängst, dass die andauernde Analyse des Doha-Abkommens die Kritik auf die USA fokussiere, statt auf die Fehlleistungen der Bundesregierung. In dieser Hinsicht könnte es 2024 in dem Untersuchungsausschuss andere Erkenntnisse geben. Hat die Bundesregierung alle Hinweise über die sich verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan ignoriert? Oder hat Deutschland den sicherheitspolitischen Wert seiner Entwicklungshilfe überschätzt?

In der ersten Jahreshälfte soll es in dem Gremium um die Evakuierungsmission und das Ortskräfteverfahren gehen. Ab dem Sommer sollen dann im Ausschuss unter anderen auch Seehofer und Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel gehört werden.

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