Außenpolitische Ziele im Ukraine-Krieg: Ein Crashkurs in Geopolitik

Die EU muss sich an eine Welt gewöhnen, in der es wieder Krieg gibt. Dass wirtschaftliche Verflechtungen noch kein Garant für Frieden sind, lernte Deutschland auf die harte Tour.

Militärfahrzeuge an einem Grenzübergang

24. Februar 2022: Russische Militärfahrzeuge stoßen von der Krim vor Foto: Border Service of Ukraine via ap

BERLIN taz | Es ist ein Gedankenspiel, wie es vor zwei Jahren auch hätte kommen können: In den Wochen vor dem 24. Februar 2022 warnen die USA vor einem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine, machen aber zugleich klar, dass Kyjiw keine militärische Unterstützung aus Washington erwarten dürfe. Die USA sind zu der Zeit noch dabei, das Afghanistandesaster nach ihrem Abzug im Sommer 2021 aufzuarbeiten. Außerdem müsse man sich auf den pazifischen Raum und die chinesischen Drohungen gegen Taiwan konzentrieren, heißt es. Alles andere würde zu einem „Overstretch“, einer Überdehnung der eigenen Fähigkeiten, führen.

In Europa blickt man auch wegen der Ansage aus Washington mit großer Sorge auf den russischen Aufmarsch an der ukrainischen Grenze. Als der Angriff tatsächlich beginnt, sind sich Berlin und Paris schnell einig, dass die Ukraine verloren ist.

Der deutsche Finanzminister erklärt dem ukrainischen Botschafter am Tag des Angriffs: „Euch bleiben nur wenige Stunden.“ Großbritannien drängt zwar auf europäische Militärhilfe, kann in der EU aber nicht mehr mitreden. Weil viele Europäer die Lage in der Ukraine als aussichtslos einschätzen, entscheiden sich Berlin, Paris und die EU, auf Waffenlieferungen zu verzichten. Stattdessen verabschiedet man Sanktionen.

Russisches Gas fließt aber weiter, schließlich, so argumentieren vor allem Politiker aus Deutschland, müsse man Politik und Wirtschaft trennen. Im Herbst wird die Gasleitung Nord Stream 2 in Betrieb genommen. In Kyjiw wird eine russische Marionettenregierung installiert und über das Schicksal von Wolodimir Selenski herrscht Unklarheit.

Entschiedenheit Washingtons verschaffte der EU Zeit

So ist es zum Glück nicht gekommen. Wladimir Putins Plan eines Dreitagekriegs schlug fehl. Das ist zuallererst dem Mut und Geschick der Ukrai­ne­r:in­nen zu verdanken. Aber der Sturm auf Kyjiw misslang auch deswegen, weil US-Geheimdienste die ukrainische Armee in Echtzeit über russische Truppenbewegungen informierten. Und weil die USA und Großbritannien sehr schnell Tausende Panzerabwehrwaffen lieferten, mit denen der endlose Konvoi der russischen Armee auf Kyjiw zum Stoppen gebracht werden konnte.

Mit Joe Biden saß jemand im Oval Office, der die Ukraine gut kannte und der genau sah, dass bei einem Aggressor wie Wladimir Putin der Appetit auf mehr mit jedem Erfolg wächst. Die Entschiedenheit Washingtons kaufte den Europäern Zeit, sich an eine Welt zu gewöhnen, in der es wieder Krieg auf ihrem Kontinent gibt.

Für die EU und ihre Mitglieder waren die vergangenen zwei Jahre ein Crashkurs in Geopolitik. Vor allem Deutschland lernte auf die harte Tour, dass wirtschaftliche Verflechtungen allein noch kein Garant für Frieden sind, sondern dass sie in den Händen von Autokraten auch zu einer Waffe werden können. Und Europa lernte erneut, wie schwer es sich immer noch tut, außenpolitische Ziele mit Geschlossenheit zu formulieren und dauerhaft zu verfolgen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán führte eindrucksvoll vor, dass ihm das Schicksal der Ukrai­ne­r:in­nen völlig egal ist, solang er meint, mit einem Veto in Brüssel einen eigenen Vorteil herausschlagen zu können.

Der Krieg veränderte in der EU auch die Bedeutung der baltischen Staaten und Polens, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen und ihrer geografischen Nähe bereits lange vor dem 24. Februar 2022 vor der russischen Aggression gewarnt hatten – und die nach dem Überfall mit am entschiedensten Militärhilfe für das angegriffene Land leisteten. Man hört der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas oder dem litauischen Außenminister Gabrielius Landsbergis nun anders zu als zuvor.

Welche Macht haben Autokraten?

Nachdem die ukrainische Armee im Herbst 2022 Teile der von Russland besetzten Gebiete befreien konnte, reagierte Wladimir Putin, indem er auf einen längerfristigen Abnutzungsrieg umstellte. Die russische Armeeführung ließ Landstriche auf mehr als hundert Kilometer verminen, ihre Soldaten gruben sich ein und der Kreml stellte die russische Ökonomie ganz auf Kriegswirtschaft um. Die ukrainische Gegenoffensive im Sommer 2023 blieb dann weit hinter den Erwartungen zurück.

Mit zunehmender Kriegsdauer stellt sich deshalb die Frage: Haben Autokratien in bewaffneten Konflikten allein deshalb einen Vorteil, weil sie leichter die gesamte Wirtschaft einspannen können und in längeren Zeithorizonten planen als bis zum Ende der Legislaturperiode? In den USA hätte Joe Biden seinem Versprechen der Unterstützung, as long as it takes – so lange es braucht, wohl besser noch den Satz hinzugefügt: „Und so lange ich dafür eine Mehrheit im Kongress finde.“

Die Finanzierung der weiteren Ukraine-Militärhilfe ist nun Teil des polarisierten US-Präsidentschaftswahlkampfs und wird seit Monaten von Trump-hörigen Republikanern blockiert.Und in der Europäischen Union dringt erst langsam folgende Erkenntnis durch: Bis mindestens zur US-Wahl im kommenden November, womöglich aber noch weit darüber hinaus kommt es nun auf europäische Waffenlieferungen an, ob zumindest das Minimalziel erreicht wird, dass die Ukraine am Ende des Kriegs selbst über ihr Schicksal entscheiden kann und sich nicht einem russischen Diktatfrieden beugen muss.

Mit der Formulierung weiterführender Ziele allerdings tut sich Europa schwer. Der bulgarische Politologe und Politikberater Ivan Krastev gab kürzlich in einem Essay in der Süddeutschen Zeitung folgende Empfehlung: Weil sich in einem langen Krieg die Ziele beider Seiten immer wieder ändern könnten, sollte man die Vorstellung davon offenhalten, was ein Sieg sei. Festlegen sollte man aber unbedingt, was aus ukrainischer und auch westlicher Sicht nicht verhandelbar sei: die Entscheidung der Ukraine für Demokratie und Westorien­tierung.

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