piwik no script img

Reise in die Kindheit Ist das Heimat?

Aron hat sein halbes Leben in einer Kleinstadt verbracht, erinnert sich aber kaum noch an die schönen Momente dort. Kann ein Besuch seines alten Elternhauses daran etwas ändern?

Aron besucht seit Jahren das Haus seiner Kindheit, um Heimatgefühle zu finden. Aber geht das? Janek Liebetruth

Von ARON BOKS

taz FUTURZWEI, 31.08.2023 | Auf dem Tisch steht ein Plastiktopf mit drei Pfund Fleisch, daneben ein Haufen Kartoffeln.

STIMME MEINER GENERATION​

Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Boks, 26, wird gefördert von der taz Panter Stiftung.

Er wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Fuentes, 28, ist taz Panter-Volontärin in der taz-Redaktion.

Sie wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und ist seit Oktober 2021 taz Panter Volontärin.

Ich bin zusammen mit meinem Freund Janek im Haus seiner Mutter, weil er und ich an einem Dokumentarfilm über sein Heimatdorf Benneckenstein im Harz arbeiten. Ich komme ursprünglich auch aus der Region. Paul, der Kameramann, wohnt wie wir inzwischen in Berlin, kommt aber aus Troisdorf bei Köln, ist zum ersten Mal hier, und Janek fand es eine gute Idee, ihm „unser“ Nationalgericht zu präsentieren: „Hackus und Knieste“.

„Gehacktes“ mit halbierten und in Kümmel und Salz gewälzten Backkartoffeln nebst Zwiebeln und Essig-Salz-Gurken. Janeks Mutter hat gekocht und deutet vor Paul abwechselnd auf den Fleischberg und die Kartoffeln.

„Das ist Hackus und das ist Knieste“, sagt sie und spricht dabei so liebevoll, als würde sie ihm zwei Freunde zum Spielen vorstellen.

Heimat als Gefühl

Beim Essen wird auch die Frage aufgetischt, die wir seit Tagen dutzenden Leuten stellen und um die ich mich seither herumgedrückt habe.

„Was ist Heimat für dich?“ Paul fragt mich das.


„Wernigerode“, antworte ich schnell. Dort bin ich geboren, meine Eltern leben dort und ich fahre da gern hin. Laut den Studien, die ich zu unserer Filmrecherche gelesen habe, verbinden die meisten jungen Menschen in Deutschland den Ort, aus dem sie stammen, mit Heimat.

„Aber du bist doch in Blankenburg und nicht in Wernigerode aufgewachsen“, grätscht Janek dazwischen.

Er kennt mich gut. Ich lebte zwischen 6 und 19 in Blankenburg. Das ist die Nachbarstadt von Wernigerode, die sich „Blütenstadt im Harz“ nennt.

Aber immer wenn ich den Namen höre, stoße ich zuerst auf die Bilder in meiner Erinnerungskiste, die zeigen, wie ich auf den Pausenflur geschickt werde, wie ich gelangweilt durch die Straßen laufe und schließlich am Bahnhof stehe, um mit dem nächsten Zug nach Berlin zu fahren. Aber die schönen Gedanken meiner meist sorgenfreien und fröhlichen Zeit dort scheinen wie versteckt, wie umgestellt in meinem Bewusstsein.

„Man kann Hackus und Knieste auch anders essen!“ sagt Janeks Mutter, als der mich fragt, wann ich eigentlich aufgehört habe, Veganer zu sein.

„Mit Blutwurst zum Beispiel!“ ergänzt seine Schwester.

„Oder man isst nur die Kartoffeln“, sagt Janek und die Diskussion über unser Nationalgericht und überhaupt Heimat endet mit seinem Vorschlag, dass Heimat auch einfach ein Gefühl sein kann.

Zustimmendes Nicken.

Und eigentlich gibt es doch nichts Besseres, um der ausgrenzenden Fascho-Logik von Heimat etwas entgegenzusetzen. Aber kann ein Ort, an dem ich geprägt wurde und sicher ganz viel gefühlt habe, einfach nicht mehr Heimat sein?

Suche nach Kindheit

Als meine Eltern vor Jahren nach Wernigerode gezogen sind, war ich schon in Berlin.

In Blankenburg liegt meine ganze Kindheit und Jugend, aber selbst diesem fremden Gericht fühle ich mich heimatverbundener, denke ich. Gut, bisher habe ich mich in meinem Nachdenken über Blankenburg auch nur auf das Negative gestürzt und meine einzige Annäherung bestand im Versuch, gegen eine Wand meiner alten Schule zu pissen. Vielleicht muss ich mich auf der Suche nach Heimat jetzt bewusst auf die positiven Momente konzentrieren, denke ich und buche noch während des Essens ein Zimmer in einer Pension in Blankenburg.

Zack. Schneller Schnitt. Schon bin ich dort und beim zweiten Bier nach dem Einchecken. Inzwischen konnte ich die Nummer des jetzigen Besitzers meines früheren Elternhauses ausfindig machen und ihn dazu überreden, dass ich morgen zum ersten Mal seit Jahren mein altes Kinderzimmer ansehen kann.

„Hey, ich bin in der Stadt!“ schreibe ich jetzt den einzigen zwei Leuten, die aus meinem Abiturjahrgang noch hier leben.

„Sorry, leider verplant.“

Am nächsten Morgen habe ich eine Textnachricht.

„Meine Partnerin ist absolut gegen Ihren Besuch, wir müssen doch passen“, schreibt der Hausbesitzer. Ich hätte ihm vielleicht nicht so mystisch erklären sollen, dass ich Journalist bin und über meine Heimat „recherchieren“ wollte, denke ich. Wieso konnte ich nicht einfach sagen, was Sache ist: Dass ich gern noch einmal in meinem alten Kinderzimmer und der Küche stehen will – um zu gucken, ob da Erinnerungen kommen, die mich wieder mit dem Ort verbinden. Warum tat ich es nicht? Vielleicht weil mir das albern vorkam? Weil ich Sorge hatte, dass ich diese Idee laut ausgesprochen selbst lächerlich, vielleicht sogar unmöglich finden würde? Keine Ahnung, jetzt stehen vor der Tür sechs Kisten, auf denen mein Name und der meines Bruders stehen. Meine Eltern haben mich daran erinnert, dass sich noch Spielzeug auf dem Dachboden unseres alten Hauses befand und ich fand das einen super Türöffner, um mit den neuen Besitzern ins Gespräch und endlich in dieses Haus zu kommen. Keine Chance. „Wir wissen ja nicht, was Sie vorhaben.“

Stimmt, eigentlich habe ich sie angelogen und wollte als irrender Wahlberliner einfach nur in Ruhe Heroin auf ihrem Klo spritzen, denke ich und sehe auf das bescheuerte „<3-lich Willkommen“-Schild in der Eingangstür, drumherum dichte Vorhänge.

Wenn Erinnerungen heute irren

Immerhin gibt es noch das Loch im Gartenzaun, denke ich und krieche durch, laufe bis zu dem Baum, an dem ich dutzende Male hochgeklettert und dutzende Male heruntergefallen bin und deshalb noch heute drei Narben am Kopf trage. In meiner Erinnerung ist er riesig, jetzt ist er kaum größer als ich. Kurz darauf sitze ich vor den Spielzeugkisten und rauche die zehnte Ernte23, mit der ich hier das Rauchen trainiert habe.

„Warum tust du dir das an?“ fragt mich mein Bruder, als ich ihm später am Handy davon erzähle. Er wohnt inzwischen in Hamburg.

Ich habe ihm erzählt, dass ich den Park besucht habe, in dem Julia und ich uns zum ersten Mal küssten – genau wie den Angelteich, an dem Philipp und ich beste Freunde wurden, sowie die Straße, die uns zu jeder Party führte. Aber immer, wenn ich an dem Ort war, huschten die erinnerten Bilder so verschreckt durch meinen Kopf, als wären sie sich nicht sicher gewesen, ob sie nicht doch nur Fantasie waren.

„Weil ich nicht glauben kann, dass hier nichts mehr ist!“ sage ich. „Das ist der Ort unserer Kindheit, ich meine, was bedeutet der denn für dich?“

„Ich liebe das alles.“

„Aber du hast doch immer gesagt, dass du es hier scheiße findest.“

„Ich liebe das Haus von damals“, entgegnet er. „Aber genau das gibt es nicht mehr in Blankenburg.“

Wenn dieser Ort also so gar keine Heimat mehr für mich ist, wo ist sie dann?

„Weißt du was?“ fragt mich mein Bruder am Telefon, während ich die letzten Kisten ins Auto stelle.


„Was?“

„Ich fahre manchmal nach Blankenburg zum Haus unserer Kindheit, freue mich kurz über die Erinnerungen, die kommen, bis ich mich irgendwann nicht mehr freue und dann fahre ich einfach weiter.“

Mein Bruder sucht hier nie alte Gefühle, denke ich. Er trägt sie in sich.

Ich bin durch die ganze Stadt bis zu der verschlossenen Tür geirrt, hinter der unser altes Kinderzimmer wartet. Um die Gefühle von damals zurückzuholen, die mir damals die einer Heimat gaben. Aber das geht vermutlich gar nicht. Weil das, was mir als Kind das Gefühl von Heimat gab, nun einmal nicht mehr an diesem Ort liegt.

Es gibt hier nichts mehr zurückzuholen. Außer diese Kisten voll mit Playmobil und Schleich-Tieren. Wenn ich die Kisten in den nächsten Tagen in Wernigerode zusammen mit meinem Bruder durchschaue, dann werde ich mich zuhause fühlen.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.