Ukrainische Militärstrategie: Imageschaden auf der Krim

Nach Angriffen erleidet Russland militärische Verluste und verliert an Ansehen. Bilder sollen beweisen, dass der Chef der Schwarzmeerflotte noch lebt.

Satelittenbild der Schwarzmeerflotte in Sewastopol

Die Schwarzmeerflotte ist trotz der vermehrten ukrainischen Drohnenangriffe einsatzfähig Foto: Planet Labs/ap

Es sind vor allem strategische Infrastrukturen auf der Krim, auf die die ukrainische Armee in den vergangenen Wochen gezielt hat: Flugplätze und Schiffe, von denen aus die ukrainischen Getreidefrachter beschossen werden – und am Freitag dann das in Sewastopol gelegene Hauptquartier der Schwarzmeerflotte, die zu den Seestreitkräften Russlands gehört. Dabei soll auch der Flottenchef Viktor Sokolow getötet worden sein.

Laut Militärexperten wurden diese Angriffe durch die zunehmende Schwächung des russischen Luftabwehrsystems möglich. Bereits im Sommer 2022 ließ die Ukraine die ersten Drohnen über der 2014 von Russland annektierten Halbinsel fliegen. Eine von ihnen landete auf dem Dach des Hauptquartiers der Schwarzmeerflotte – damals noch ohne Sprengstoff an Bord. Es ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass der ukrainische Geheimdienst in den vergangenen eineinhalb Jahren die Schwachstellen der russischen Armee erkundet hat, um sich auf Angriffe vorzubereiten.

Ein weiterer Beleg dafür ist ein Video, das den Einschlag einer ukrainischen Rakete am Kap Tarkhankut, im Nordwesten der Krim, zeigt. Das Video wurde von einer Drohne aufgenommen, die das Gelände, auf dem ein S-400-Raketen-System installiert ist, zuvor ausspioniert hatte. Im Video zielt die ukrainische Drohne auf das russische Luftabwehrsystem, dann schießt sie und fliegt danach ganz in Ruhe zurück.

Für Russland bedeutet jeder erfolgreiche ukrainische Angriff auf die Krim nicht nur einen militärischen, sondern auch einen Reputationsverlust. Die ganze Welt schaut zu, wie ein Land, das seit den Annexion der Krim im Jahr 2014 keine eigene Seestreitkräfte mehr hat, die Schwarzmeerflotte vernichtet. Deshalb muss der Kreml nun erst recht reagieren.

Das abgeschossene S-400-­System war zuvor auf den von Japan beanspruchten Kurileninseln stationiert. Russland hatte es von dort abtransportiert und auf die Krim verlegt. Der neuen Bedrohungslage durch die vermehrten ukrainischen Luftangriffe wird Russland vermutlich nun begegnen, indem es so viele Luftabwehrsysteme wie möglich auf der Halbinsel stationiert.

Admiral Viktor Sokolow soll auch unter den Opfern sein

Trotz der vermehrten Angriffe auch auf die Schwarzmeerflotte ist diese durchweg weiterhin kampfbereit geblieben. Experten gehen davon aus, dass sie in der Lage ist, weiterhin mit Kalibr-Raketen das ukrainische Territorium sowie ukrainische Schiffe im Schwarzen Meer anzugreifen.

Beim Angriff der ukrainischen Armee auf die Schwarzmeerflotte am Freitag sollen 34 russische Offiziere getötet worden sein. Unter ihnen war nach Angaben der ukrainischen Spezialkräfte auch Admiral Viktor Sokolow, der Befehlshaber der russischen Flotte.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte am Dienstag vor Journalisten, er habe „keine Informationen“ zum Gesundheitszustand des Kommandeurs, und verwies für Fragen an das Verteidigungsministerium. Das veröffentlichte kurz darauf Bilder und Videos, die Sokolow bei einer von Verteidigungsminister Sergei Schoigu geleiteten Sitzung zeigen sollen. Allerdings ist Sokolow lediglich als angeblich online zugeschalteter Teilnehmer auf einer schräg hinter Schoigu angebrachten Leinwand zu sehen. Die Ukraine will ihre Informationen nun noch einmal überprüfen.

Sollte der Tod von Sokolow bestätigt werden, wäre dies der höchstrangige russische Offizier, der im Ukrainekrieg seit Februar 2022 getötet wurde. Aber selbst das hätte keine großen Folgen: Moskau würde einfach einen neuen Kommandeur ernennen.

Die ukrainische Armee muss die Stadt Melitopol befreien

Russland wird nun sein Luftabwehrsystem auf der Krim umstrukturieren und verstärken. Die Ukraine wird nach neuen Verteidigungslücken suchen. Das braucht Zeit.

Der Start einer ukrainischen Bodenoffensive auf der Krim wird erst denkbar sein, wenn die ukrainische Armee die Stadt Melitopol in der Südukraine befreit hat – eine Stadt von strategischer Bedeutung, von wo aus Straßen und Schienen zur Halbinsel Krim führen. Deshalb muss das ukrainische Militär in den kommenden Wochen in Richtung Melitopol vorrücken. Sonst riskiert es, bis zum Frühjahr keine weiteren Geländegewinne zu machen.

Sobald es im Herbst vermehrt regnet, werden weder Russland noch die Ukraine in der Lage sein, schweres Gerät einzusetzen, denn das bliebe im Schlamm stecken. Auch die Soldaten in den Schützengräben stünden knietief im Wasser. Dann muss die Bodenoffensive bis zum Winter ausgesetzt werden, und der Krieg wird zum Stellungskrieg. Im Winter werden Soldaten auf beiden Seiten Unterkühlung erleiden und letztlich sterben – das wird die größte Ursache von Verlusten sowohl der ukrainischen als auch der russischen Armee im Winter sein.

Die Ziele der Ukraine auf der Krim bleiben in jedem Fall unverändert: Sie will das Asowsche Meer erreichen, den russischen Landkorridor zur Krim abschneiden und die Krim-Brücke zerstören, um so die Zugangswege für das russische Militär auf der Halbinsel zu blockieren. Alles mit dem Ziel, Russland von der Krim zu verdrängen.

Russlands Ziel ist es, die Kontrolle über die eroberten ukrainischen Gebiete zu behalten, mindestens bis die Präsidentschaftswahlen in Russland im Jahr 2024 vorbei sind. Wenn Wladimir Putin im März wiedergewählt wird, sollte es dann möglich sein, noch einmal im ganzen Land groß zu mobilisieren, ohne damit potenzielle Wähler zu verschrecken. Letztendlich hofft der Kreml, dann im Sommer – oder spätestens im Herbst 2024 – den Angriffskrieg in der Ukraine zu gewinnen.

Der Autor stammt von der Krim und schreibt unter Pseudonym. Er lebt im Exil.

Aus dem Russischen Gemma Terés Arilla

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