Zwei Stockentenweibchen auf dem Gelände der Sicherheitsverwahrung der JVA Werl

Foto: Arne Piepke

Sicherungsverwahrung:Drinnen vor der Tür

Menschen in Sicherungsverwahrung kennen sich mit dem Warten aus. Sie haben ihre Strafe im Gefängnis verbüßt und bleiben doch eingesperrt – unter Umständen für immer. Ein System mit Widersprüchen.

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Aus werl, 12.9.2023, 10:58  Uhr

Der Beschluss fällt negativ aus: Christian Twachtmann wird nicht entlassen. Er sei immer noch „gefährlich“, urteilt das Landgericht Arnsberg in Nordrhein-Westfalen bei einer Routineüberprüfung im Juni 2023. Unter anderem, weil er nicht an den geforderten Behandlungen teilnehme. Doch die, sagt Twachtmann, werden doch gar nicht angeboten. Ohne Angebot aber keine Therapie, ohne Therapie keine Entlassung.

Der Besuchsraum der Justizvollzugsanstalt Werl liegt im Erdgeschoss. Sonne fällt durch die Gitter hinein. Um helle Holztische sind Stühle mit bunten Lehnen gruppiert. An den Wänden ein Regal mit Gesellschaftsspielen, ein Kaffeeautomat, ein Tisch am Fenster ist mit Computer und Kamera ausgestattet, offenbar für Videotelefonate.

Christian Twachtmann trägt helle, lichte Haarstoppeln, ein hellblaues T-Shirt und eine dunkelblaue gestreifte Hose. Nach mehreren Jahren Haft wegen Banküberfällen und Betrügereien ist er seit 2021 in der Sicherungsverwahrung. Offiziell ist er damit nicht mehr im Gefängnis; raus kommt er trotzdem nicht.

Vielleicht nie wieder.

Oder aber noch dieses Jahr, wenn die Sammelklage des Anwalts Adam Ahmed Erfolg hat.

In die Sicherungsverwahrung kommen Menschen, die ihre Haftstrafe verbüßt haben, die ein Gericht aber weiter für eine Gefahr für die Gesellschaft hält. Abwiegen muss es dabei das individuelle Recht auf Freiheit und den Schutz der Bevölkerung. Keine einfache Entscheidung.

45.000 Menschen sitzen, Stand 31. März 2023, in Deutschland in Gefängnissen, 604 in Sicherungsverwahrung, davon 2 Frauen. Seitdem ist eine dritte Frau hinzugekommen. Zwei Drittel der Verwahrten sind Sexualstraftäter, die übrigen sitzen wegen Mordes oder Raubes, auch ein paar Brandstifter sind dabei.

In die Sicherungsverwahrung kommt man nicht einfach so. Aber immer einfacher. Und immer schwieriger wieder raus.

Werl ist die größte Einrichtung für Sicherungsverwahrte in Deutschland. 155 sitzen hier im Juli 2023 ein. 120 von ihnen haben den Münchner Anwalt Adam Ahmed als Rechtsbeistand beauftragt, gegen die weitere Verwahrung zu klagen. In einer der Klageschriften, sie umfasst 27 Seiten und liegt der taz vor, resümiert Ahmed zehn Jahre nach der letzten Reform der Sicherungsverwahrung: „Die gesetzlichen Vorgaben werden in Werl nicht eingehalten.“ Die Sicherungsverwahrung in Werl sei daher unverhältnismäßig, und die Betroffenen müssten sofort „auf freien Fuß“ gesetzt werden.

Christian Twachtmann sitzt an einem Blumenbeet in Jogginghose und T-Shirt

Christian Twachtmann Foto: Arne Piepke

Die Defizite sind aus Sicht von Ahmed: Überbelegung, zu wenig Personal, unzureichende Unterstützung bei der Resozialisierung und der Entlassungsvorbereitung – darunter mangelhafte Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten – sowie fehlende individuelle Betreuung, vor allem durch Therapeut*innen. Laut Ahmed wurde in Werl darüber hinaus bei keinem Insassen die zu Beginn verpflichtende Behandlungsuntersuchung durchgeführt, die ermitteln soll, welche Therapien ein Verwahrter braucht. Die Gefängnisleitung verweigere zudem, Personalakten von Untergebrachten herauszugeben, sodass „ein rechtsstaatliches Verfahren nicht garantiert“ sei.

Die Insassen bekräftigen die Vorwürfe. Der taz liegen 68 eidesstattliche Erklärungen von Untergebrachten aus Werl vor. Darin bemängeln sie unter anderem wie auch ihr Anwalt fehlende Behandlungsuntersuchungen und mangelnde Akteneinsicht. Darüber hinaus werfen sie dem zuständigen Landgericht Arnsberg vor, bei Klagen von Verwahrten oder bei Haftprüfungen die Personalakten von Untergebrachten nicht vollständig anzufordern. Ausgänge vor die Mauern würden oft nicht oder nur begleitet und mit Fesselung gewährt, notwendige Therapiegruppen nicht angeboten werden, auch individuelle Behandlungen werden entweder gar nicht oder zu selten durchgeführt. „Seit 2,5 Jahren wird mir keine deliktorientierte Behandlung angeboten“, schreibt einer. So könne er seine Straftat nicht, wie gesetzlich gefordert, aufarbeiten und habe deshalb keine Aussicht auf Entlassung.

Twachtmann sagt: „Wenn man nach Recht und Gesetz verurteilt und eingesperrt wird, sollte man in einem Rechtsstaat auch nach Recht und Gesetz behandelt und therapiert werden. Das ist in der Sicherungsverwahrung in Werl nicht der Fall.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Thomas König, Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl, sieht die Klage Ahmeds gelassen. Sie sei sehr allgemein gefasst, bei der Entlassung von Sicherungsverwahrten gehe es aber darum, wie jeder individuelle Fall zu bewerten sei. Mehr möchte er dazu nicht sagen.

Christian Twachtmann, heute 45 Jahre alt, hat sein halbes Leben in Haft verbracht. Das erste Mal sitzt er im Jahr 2000 ein, da ist er 22. So geht es aus seinen Akten hervor. Der Supermarkt, bei dem er eine Ausbildung angefangen hat, hat dichtgemacht, die Ausbildung muss er abbrechen. Er jobbt danach mal in der Disko, mal im Getränkemarkt. Dann entdeckt er die Verkaufsplattform Ebay, die in Deutschland gerade erst gestartet ist. Dort bietet er unter fremdem Namen Waren an, die er nicht besitzt. „Ich hatte festgestellt, dass man mit wenig Aufwand viel Geld verdienen konnte“, erzählt Twachtmann Anfang Mai dieses Jahres im Besucherraum der JVA Werl. Mit dem Geld kauft er Essen, Klamotten, hat Spaß.

Adam Ahmed, Rechtsanwalt

„In Werl werden die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten“

Von Dauer ist die Masche nicht. Twachtmann wird erwischt und kommt in U-Haft. Dann Gefängnis, auf Bewährung raus und das Ganze von Neuem. Nach der nächsten Verurteilung im Jahr 2002 kommt er 2006 in den offenen Vollzug, haut ab.

Twachtmann hört von den Gentlemen-Bankräubern, die so genannt werden, weil sie sich ihren Opfern gegenüber verhältnismäßig höflich verhalten. Das spricht ihn an. Er geht in eine Bank, einmal, zweimal, erst beim dritten Mal traut er sich, die Waffe zu zücken: eine Luftwaffe, die aussieht wie eine echte. Twachtmann raubt gleich noch eine Bank aus. Und eine dritte. Doch schon bald wird er erneut gefasst. Sieben Jahre bekommt er für die Überfälle. Als er rauskommt, ist er 35, hat keine Unterkunft, keinen Job, kein Geld. Er schläft erst bei Verwandten, dann bei Freunden.

Kein halbes Jahr später überfällt er wieder eine Bank. Wieder soll er für sieben Jahre in Haft. Und anschließend in Sicherungsverwahrung.

Die Idee der Sicherungsverwahrung ist alt. Gesetzentwürfe gibt es bereits im 18. Jahrhundert. Aber erst die Nazis führen sie 1933 ein, 3.258 „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ sowie Rückfall- und Mehrfachtäter sitzen 1936 ein.

Norbert Konrad sitzt an einem Tisch, beide hände auf der Platte

Norbert Konrad Foto: Arne Piepke

Die BRD übernimmt das Konzept, die Zahl der Verwahrten sinkt allerdings stark: 1961 werden bundesweit 688 Menschen verwahrt, darunter 9 Prozent Gewalttäter. Fast zwei Drittel sind Betrüger und Diebe. Dank einer Gesetzesänderung kommen die ab den 70er Jahren gar nicht mehr in die Sicherungsverwahrung. So sinkt die Zahl weiter, bis es 1991 noch 182 Verwahrte gibt. Gefängnisleitungen, Kri­mi­no­lo­g*in­nen und Rechts­an­wäl­t*in­nen gehen schon davon aus, dass sich die Sicherungsverwahrung bald selbst erledigt. Doch es kommt anders.

Der Jurist Tillmann Bartsch spricht in seiner Dissertation von 2011, die eine Art Grundlagenwerk für das Thema ist, von einer „Renaissance“ der Sicherungsverwahrung in den 90er Jahren. Grund sind mehrere Sexualverbrechen, „einzelne, durchweg schreckliche Ereignisse, die die Bevölkerung außerordentlich bewegten“: In Oberbayern tötet ein vorbestrafter Sexualstraftäter ein siebenjähriges Mädchen. Im niedersächsischen Varel ermordet ein Mann eine Zehnjährige – acht Jahre, nachdem er schon einmal ein Mädchen erdrosselt und dafür auch eine Jugendhaftstrafe abgesessen hat. Im Nachbarland Belgien ermordet ein Mann zwei Frauen und missbraucht elf Kinder.

Die Medien berichten ausführlich über die Fälle, fordern hohe Haftstrafen. Als 2004 der Bundesgerichtshof ein härteres Urteil gegen einen Sexualstraftäter aufhebt und dieser nach Entlassung aus der Haft wieder eine Frau vergewaltigt, prangert die Bild den „Saustall Justiz“ an und erhält dafür eine Rüge vom Presserat.

Auch Politiker schalten sich ein. Christian Wulff von der CDU, damals Ministerpräsident von Niedersachsen, beklagt die vermeintlich zu milde Strafvollzugpraxis, der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder behauptet in der Bild am Sonntag gar, Sexualstraftäter seien „nicht therapierbar“. Man müsse sie „wegschließen – und zwar für immer!“

Das stößt auf Resonanz. In Umfragen zeigen sich Menschen in ihrem Sicherheitsempfinden erschüttert, wie Tillmann Bartsch es beschreibt. Da Sexualverbrechen mehr ins Bewusstsein rücken, sei der Eindruck entstanden, dass ihre Zahl sich stark erhöht habe. Doch Wahrnehmung und Wirklichkeit klaffen auseinander: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik bewegt sich die Anzahl der Sexualmorde in den 70er und 80er Jahren zwischen 30 und 40 pro Jahr. 1990 sind es 23, im Jahr 2000 dann 16, fünf Jahre später 14.

Die Zahl der Insassen stieg wieder

Dennoch steigen die Zahlen der Verwahrten ab 1990 wieder an, Gesetze werden verschärft. Ab 1998 müssen Verwahrte nicht mehr nach zehn Jahren entlassen, sondern können auf unbestimmte Zeit festgehalten werden.

Das soll sogar rückwirkend gelten. Dagegen jedoch klagt der Verwahrte M. aus Schwalmstadt in Hessen. Am Ende seines langen Gangs durch die Gerichte wendet er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der gibt ihm recht. Denn: Auch gefährliche Gewalttäter haben Rechte.

Daraufhin befasst sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit dem Fall und verpflichtet den deutschen Gesetzgeber im Jahr 2011 zur Reform. Die Sicherungsverwahrung muss sich zukünftig stärker von der regulären Haft unterscheiden. Außerdem sollen die Verwahrten eine realistische Perspektive erhalten, wieder in Freiheit zu gelangen. Im Grunde bedeutet das: behandeln, bis sicher ist, dass sie draußen zurechtkommen, ohne wieder straffällig zu werden. Bis 2013 müssen die gesetzlichen Vorschriften angepasst werden.

Die rückwirkende Aufhebung der Zehn-Jahres-Regel kippt das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Es bedient sich eines Kniffs: Das Rückwirkungsverbot ist zentraler Kern des deutschen Strafrechts. Die Sicherungsverwahrung soll nun nicht mehr Strafe, sondern „Maßnahme der Besserung und Sicherung“ sein.

Damit ist die Rückwirkung möglich. Länger als zehn Jahre soll die Sicherungsverwahrung jedoch nur in Ausnahmefällen dauern, nämlich wenn von einem Verwahrten noch „erhebliche Straftaten“ zu erwarten sind.

Doch Zahlen aus den Bundesländern, die die taz abgefragt hat, zeigen: Eine Ausnahme ist es nicht. Im Durchschnitt bleibt etwa ein Drittel aller Verwahrten länger als zehn Jahre eingesperrt. Den Rekord hält Baden-Württemberg mit einem Mann, der 34 Jahre hinter sich hat. Es ist kein Wunder, dass die Anzahl der Sicherungsverwahrten bundesweit kontinuierlich steigt.

Aber warum? Das liegt zum Teil an der Schwierigkeit, die zentrale Frage der Sicherungsverwahrung zu beantworten: Wie will man wissen, ob ein Mensch, der seit Jahren in einer Haftanstalt einsitzt, draußen wieder Straftaten begehen würde – zumal erhebliche?

Eine Reihe von Regeln soll dafür sorgen, dass diese Frage in jedem einzelnen Fall richtig beantwortet wird. So soll die Sicherungsverwahrung erstens möglichst gar nicht verhängt werden. Sie wird nur angeordnet, wenn ein Straftäter mehrmals mit der gleichen – schweren – Tat straffällig geworden ist, also mehrmals gemordet, vergewaltigt oder Banken überfallen hat.

Kommt es doch dazu, sollen mehrere Stellen immer wieder kontrollieren, ob die Voraussetzungen für eine Entlassung gegeben sind. Bereits in der Strafhaft sollen die Betroffenen an therapeutischen Behandlungen teilnehmen, dort ihre Delikte aufarbeiten. Ziel ist, dass sie keine Gefahr mehr für andere darstellen und entlassen werden können. Was die So­zi­al­päd­ago­g*in­nen und Psy­cho­lo­g*in­nen hören und sehen, protokollieren sie in den Gefangenenpersonalakten. Eine Schweigepflicht haben sie nicht. Damit haben die Be­hand­le­r*in­nen eine nicht ganz unproblematische Doppelrolle: Einerseits sind sie Stütze für die Insassen, andererseits Zeugen der Anklage.

Gefängnismauer mit Blumen

Die Blumen verdecken die Mauer nicht Foto: Arne Piepke

Die Entscheidung, ob nach Absitzen der Strafhaft die Bedingungen für eine weitere Verwahrung noch gegeben sind, trifft ein Gericht. In der Sicherungsverwahrung prüft es dann einmal im Jahr, später alle neun Monate, ob es die Verwahrten weiterhin für eine Gefahr für die Gesellschaft hält. Eine umfangreiche Prüfung steht nach zehn Jahren an. Denn eine längere Verwahrung soll ja nur die Ausnahme sein.

Als weitere Kontrollinstanz müssen Gerichte in bestimmten Abständen Sachverständige hinzuziehen, meist Psychiater*innen, die sich anschauen, wie Verwahrte ihre Taten reflektieren, wie sie sich entwickelt haben, welche Lebensumstände sie nach einer Entlassung erwarten. Dazu werden neben Gesprächen und dem Aktenstudium auch standardisierte Fragebögen verwendet, darunter solche, die die Rückfallwahrscheinlichkeit errechnen sollen.

Christine Graebsch, Jura-Professorin

„Ich kenne kaum jemanden, der auch mal positive Gutachten schreibt“

Doch statistische Prognoseinstrumente gelten als fehleranfällig: Sie erzeugen viele „falsch Positive“, heißt es in einem Fachartikel zur „Qualität der Prognosegutachten“ von Menschen im Maßregelvollzug. Einer der Autoren ist Norbert Leygraf, von der Bild einmal „Psychiatrie-Papst“ genannt. Fazit des Artikels: Es gibt kaum Gutachten, „die der Entlassung den Weg bereiten“.

Christine Graebsch, Jura-Professorin und Leiterin des Strafvollzugsarchivs, eines Vereins zur „Dokumentation und Aufklärung über Recht und Rechtswirklichkeit in Gefängnissen“, geht sogar noch weiter: „Ich kenne kaum jemanden, der auch mal positive Gutachten schreibt.“

Ihre Erklärung: „Bei Prognosen gibt es zwei Arten von Fehlern.“ Der erste ist, die Entlassung von jemandem zu befürworten, der dann eine schwere Straftat begeht. „Das bekommen alle mit, alle fallen über den Sachverständigen und das Gericht her. Im Zweifel macht man also lieber den anderen Fehler, nennt jemanden ‚noch gefährlich‘, er bleibt drin, und niemand wird den Fehler je bemerken, weil man ja nicht weiß, ob er draußen eine Straftat begangen hätte oder straffrei geblieben wäre.“

Fehlerhafte Gefährlichkeitsprognosen

Gefährlichkeitsprognosen vor allem bei schwerer, aber seltener Kriminalität – wie Sexualstraftaten – weisen sehr hohe Fehlerquoten auf. Da sie so selten sind, fehlen ausreichend Daten, um tatsächliche Wahrscheinlichkeiten ausrechnen zu können, erklärt die Kriminologin Katrin Höffler in einem Fachartikel. Untersuchungen beruhen auf Fällen, in denen gefährliche Straftäter zum Beispiel aufgrund von Verfahrensfehlern die Haft nicht angetreten haben oder frühzeitig entlassen wurden. Dabei zeigt sich, dass etwa 15 Prozent von ihnen rückfällig wurden. Übertragen auf die Sicherungsverwahrung heißt das: 85 Prozent wären zu Unrecht eingesperrt.

Zurück nach Werl. Norbert Konrad, seit 2016 in der Sicherungsverwahrung, kommt ganz in Schwarz gekleidet in den Besucherraum. Er trägt Jeans und einen Kapuzenpullover, unter dem sich ein Bauch wölbt. Die Kleidung schickt ihm ein Bekannter. Die Haare weißblond, Seitenscheitel. Um den Hals hängt ein Brillenband mit Lesebrille.

Der 56-Jährige bringt eine dünne Kladde mit. „Mein Todesheft“. Konrad schlägt eine Seite auf. Dort hat er verzeichnet, wann wer in Werl seit 2016 gestorben ist: Er hat 17 Personen gezählt. Bis Mitte August kommen zwei weitere hinzu. Der Jüngste war 46. Der Älteste über 80. Das nordrhein-westfälische Justizministerium bestätigt die Zahlen.

Konrad, der wie Twachtmann ein Großteil seines Lebens in Haft verbrachte, fürchtet, dass das auch sein Schicksal sein wird. „Hier kommt keiner mehr raus“, sagt er. Es sind zumindest nicht viele: 2020 wurden nach Angaben des Ministeriums drei Männer entlassen, 2021 sieben, 2022 wieder zwei. Das sind 2 bis 5 Prozent pro Jahr. Auch der bundesweite Schnitt ist mit 8 bis 10 Prozent niedrig.

Als Jüngster von acht Geschwistern verbrachte Norbert Konrad seine Kindheit in einem Dorf in Hessen. Die Familie hatte wenig Geld, der Vater wurde früh zum Pflegefall, Konrad kümmerte sich. „Von Bub an“ kochte er. Nach der Schule begann er eine Ausbildung zum Altenpfleger, arbeitete oft zwei Schichten hintereinander.

In Konrads Heimat gibt es eine Tradition: Sogenannte „Grenzgänger“ gehen von Dorf zu Dorf und „hauen sich den Kopf voll“. Konrad ist 20, als ein Verwandter von ihm in einer dieser Nächte eine Schlägerei anfängt. Konrad fällt hin, eine Flasche geht zu Bruch. Er nimmt eine Glasscherbe und rammt sie einem Mann aus der anderen Gruppe in den Hals. Er kommt das erste Mal ins Gefängnis. Von damals stammt der blaue Fleck unter seinem rechten Auge. „Eine Knastträne“, erklärt er. „Wir haben eine Tätowiermaschine gebaut, aber die Hand ist abgerutscht.“

Von da an geht Konrad im Gefängnis ein und aus. Wenn er draußen ist, versucht er sich von alten Bindungen zu lösen, zieht nach Süddeutschland, bekommt Unterstützung von einer christlichen Gemeinschaft. Doch fernhalten von seinem früheren Leben kann er sich auf Dauer nicht. Konrad wird schließlich wieder angeklagt, zur Last gelegt werden ihm wiederholte schwere Gewalttaten. Das Gericht ordnet anschließend an den Gefängnisaufenthalt die Sicherungsverwahrung an.

Hier sitzt er nun seit sieben Jahren. „Früher habe ich von morgens bis abends geschrieben“ – Anträge an die Anstaltsleitung, Klagen vor Gericht. Für sich und andere Insassen. Er kennt die meisten Männer in der Sicherungsverwahrung in Werl, kommt mit allen klar. Ist Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO.

Gefangene können, wenn sie den Abteilungsleiter, den Gefängnisseelsorger oder die Ärztin sprechen möchten, wenn sie Papier oder neue Seife brauchen oder an einem Gruppenangebot teilnehmen möchten, einen Antrag an die Anstaltsleitung schreiben. „Oft ist es so, dass ein Gefangener einen absolut berechtigten Antrag stellt, die Anstalt ihn aber mit absurden Begründungen ablehnt“, sagt die Juristin Christine ­Graebsch. Der Verwahrte kann sich dann ans Gericht wenden. Das aber gebe in den meisten Fällen der Anstalt recht, sagt Graebsch, der Gefangene versuche sich dagegen zu wehren, verliere aber wieder. „Er versucht die ganze Geschichte aufzuklären, mit der Zeit werden die Anträge komplex, keiner blickt mehr durch, und so schaukelt sich das immer mehr hoch.“ Richtig sei: „Am Anfang steht immer ein Unrecht, das die Gefangenen erfahren haben und das nie bestätigt oder aufgeklärt wurde.“

Dieses Unrecht ist allerdings schwer zu beweisen. Das liegt auch daran, dass Insassen und ihre An­wäl­t*in­nen erst mal nur ein Recht auf Aktenauskunft haben. Selbst in die Akte zu blicken, ist nur unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehen. Graebsch findet das falsch: „In allen mir bekannten anderen Rechtsgebieten hat man ganz selbstverständlich ein Recht auf Akteneinsicht. Aber in diesem Bereich soll die Aktenauskunft genügen. Das ist absolut vorrechtsstaatlich.“ Gefangene bekämen auf Antrag lediglich eine oder zwei Seiten aus der Akte in Kopie. „Auf dem Blatt davor oder danach steht vielleicht genau das Gegenteil.“

Dass Verwahrte überhaupt in die Akten schauen wollen, ist eher ungewöhnlich. Die meisten wollen nur ihre Ruhe.

Viele Insassen zeigen Anzeichen von Hospitalisierung

Die taz hat für die Recherche mit mehreren Verwahrten aus unterschiedlichen Anstalten gesprochen sowie mit Anwält*innen, Ge­fäng­nis­seel­sor­ger*in­nen, Psy­cho­the­ra­peu­t*in­nen und Wissenschaftler*innen. Ihre Berichte zeigen: Nach Jahren des Eingesperrtseins, wo alles von der Weckzeit über die Nahrungsaufnahme bis hin zur Zimmereinrichtung fremdbestimmt ist, wo sie vor allem mit anderen ehemaligen Straftätern zu tun haben und die Außenkontakte abnehmen, ziehen sich viele Menschen zurück. Man nennt es „Hospitalisierung“. Sie schauen auf ihren Zellen fern, spielen Computerspiele, lehnen Gruppenangebote ab.

Auch Konrad ist nicht mehr so aktiv wie früher. Er hat Schmerzen, erzählt er, vor knapp zwei Jahren sei eine Zyste im Bereich seiner linken Niere entdeckt worden, die ihn nachts kaum schlafen lasse. Er macht sich Gedanken darüber, was mit ihm geschieht, wenn er pflegebedürftig wird. Für ältere Mitverwahrte wünscht er sich eine bessere Versorgung durch die JVA. Auch psychisch geht es ihm schlecht. Statt Anträge zu schreiben, sitzt er jetzt ewig vor einem leeren Blatt. Besuch will er keinen, zu deprimierend sei es für ihn zu sehen, wie der wieder nach draußen geht, während er selbst drinnen bleiben muss. Seine Aufgaben als GG/BO-Sprecher nimmt er kaum noch wahr. Durchs Fenster seines Zimmers kann er auf eine grüne Wiese blicken. Aber: „Ich habe jetzt immer den Vorhang zu. Ich kann die Gitter einfach nicht mehr sehen.“

Norbert Konrad, Sicherungsverwahrter

„Ich habe jetzt immer den Vorhang zu. Ich kann die Gitter einfach nicht mehr sehen“

Die Justizvollzugsanstalten sind – so steht es in den Landesgesetzen zur Sicherungsverwahrung – verpflichtet, die Verwahrten zu „motivieren“. Das klappt mal mehr, mal weniger gut. Nehmen die Verwahrten allerdings keine therapeutischen Angebote wahr, haben sie ein Problem: Denn die Teilnahme daran ist unabdingbare Voraussetzung für die Entlassung.

Konrad will nicht wissen, was die anderen Insassen taten

Norbert Konrad hatte Anfang des Jahres eine Gruppe mit dem Namen „Auftakt“ besucht. Dort sollten er und die anderen ihre Umgangsweisen reflektieren und neue erlernen. Doch ständig seien die Treffen ausgefallen. Kontinuität sieht anders aus. Offen reden wollte Konrad in der Gruppe ohnehin nicht. Die Sitzungen fanden im kameraüberwachten Mehrzweckraum statt, die Be­hand­le­r*in­nen hatten keine Schweigepflicht. Was die anderen Teilnehmer in Gruppen wie diesen erzählen, will sich Konrad auch nicht anhören. „Die ganzen Delikte – ich bin ja selbst kein Engel – aber was manche Leute so erzählen – ich habe einfach Angst, dass das irgendwann für mich normal wird.“ Er komme auch besser mit den anderen Untergebrachten klar, solange er nicht so genau wisse, was sie gemacht haben.

Und auskommen mit ihnen muss er, solange er einsitzt. Für andere Verwahrte sind die in vielen Gruppen geforderten Rollenspiele ein Grund, gar nicht erst teilzunehmen. Er habe „kein Bedürfnis, Sexualdelikte nachzuspielen“, sagt einer der taz.

Die vielen ausgefallenen Termine – sie haben eine Ursache: Personalmangel. In der Klageschrift des Anwalts Adam Ahmed heißt es: „In der JVA Werl gibt es zu wenig Personal, um eine angemessene Betreuung und Behandlung der Personen in Sicherungsverwahrung zu gewährleisten.“ Und tatsächlich, in Werl arbeiten nur etwa halb so viele Psy­cho­lo­g*in­nen und Justizbeamte sowie ein Drittel so viele So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen, wie der Personalschlüssel vorsieht.

Peter Asprion, Gefährliche Freiheit? Das Ende der Sicherungsverwahrung, Herder, 2012

Tillmann Bartsch, Sicherungsverwahrung – Recht, Vollzug, aktuelle Probleme, Nomos, 2010

Susan Boos, Auge um Auge – Die Grenzen des präventiven Strafens, Rotpunktverlag, 2022

Johannes Feest, Wolfgang Lesting und Peter Selling, Totale Institution und Rechtsschutz. Eine Untersuchung zum Rechtsschutz im Strafvollzug, Westdeutscher Verlag, 1997

Johannes Kaspar (Hg.), Sicherungsverwahrung 2.0? Bestandsaufnahme – Reformbedarf – Forschungsperspektiven, Nomos, 2017

Andrej König, Klaus P. Elsner, Norbert Schalast, Norbert Leygraf, Qualität der Prognosegutachten (gem. § 16 Abs. 3 MRVG NRW und § 463 StPO) bei nach § 63 StGB untergebrachten Maßregelvollzugspatientinnen und -patienten in NRW, 2018, https://www.uni-due.de/imperia/md/content/rke-forensik/material/bericht_prognosegutachten_mrv_nrw_2018.pdf

Michael Skirl, Wegsperren!? Ein Gefängnisdirektor über Sinn und Unsinn der Sicherungsverwahrung, Scherz (Fischer), 2012

Auf den Mangel an Personal angesprochen, meint der Anstaltsleiter der JVA Thomas König, dass so wenige hier arbeiten wollen, liege unter anderem an der geografischen Lage von Werl – einer Kleinstadt ohne optimale Anbindung an Metropolenregionen. Man versuche das zu ändern, indem angestellte Psy­cho­lo­g*in­nen unterstützt würden, eine Psychotherapie-Ausbildung zu beginnen und diese teils in der JVA Werl zu absolvieren. Und indem auf externe The­ra­peu­t*in­nen zurückgegriffen werde.

Für die gibt es eine große Nachfrage. Auch Norbert Konrad verspricht sich davon mehr als von den angestellten Psycholog*innen. Einen Antrag darauf habe er vor drei Jahren gestellt. Seitdem stand er auf einer Warteliste. Erst im Mai dieses Jahres wurde ihm ein Therapeut zugewiesen. Nun sprechen sie jeden Mittwoch miteinander. Ob das seiner Entlassung diene oder nicht, sei ihm egal. „Das mache ich nur für mich. Ich nehme mit, was mir hilft.“

Und Konrads Sorge, nie wieder rauszukommen? Die ist geblieben – trotz der Massenklage. Auch für ihn liegt ein entsprechender Antrag vor Gericht. Gehört hat er noch nichts. Aber: „Ein bisschen Hoffnung hat man natürlich immer.“

Sie erbringen ein „Sonderopfer“

Die Menschen in der Sicherungsverwahrung erbringen ein „Sonderopfer“ für die Gesellschaft, wie es das Bundesverfassungsgericht 2011 ausgedrückt hat. Doch mutmaßlich 85 Prozent von ihnen, und damit heute mehr als 500 Menschen, gehören überhaupt nicht dorthin. Das Problem ist: Man weiß nicht, wer zu den 15 und wer zu den 85 Prozent gehört. Statt alle einzusperren, wäre eine engmaschigere Betreuung nach der Entlassung besser.

Für die tatsächlich schweren Gewaltverbrecher könnte das niederländische Modell eine Lösung sein. Sie leben dort in einer Art Dorf, das von einer Mauer umgeben ist. Innerhalb der Mauern können sie sich Tag und Nacht frei bewegen. So soll ein humanes Leben fern von Behandlungsdruck möglich sein. Gleichzeitig würden Kosten für Therapieversuche gespart, die sowieso nicht angenommen werden.

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