Scholz und seine Augenklappe: Er sieht nicht in die Tiefe

Die Augenklappe macht aus Olaf Scholz keinen tollkühnen Kerl. Im Gegenteil: Sie illustriert sein Problem – er hat einfach keine Vision.

Olarf Scholz mit Augenklappe

Olaf Scholz, verletzt Foto: Michael Kappeler/dpa

Politik ist geronnene Milch. Schlagwörter und aus dem Zusammenhang gerissene Sätze, Bilder, die ikonisch werden, Symbole und Metaphern spielen eine größere Rolle als Inhalte. Ploppt so etwas auf wie die Dackel auf Alexander Gaulands Krawatte, ist ein Siegeszug durch die Medien gewiss. Ein Siegeszug des Nichts.

„Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte? / Die Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt? / Wer wird sich den Schädel zerbrechen / über so überflüssige Dinge -“, schreibt Ingeborg Bachmann in den 1960er Jahren in dem Gedicht „Keine Delikatessen“.

Die Antwort auf Bachmanns Frage ist klar: Die Bundesbürgerinnen und -bürger zerbrechen sich die Schädel darüber. Gerade wieder über eine weitere unwichtige Metapher, die dieser Sommer noch bereithält: die Augenklappe von Scholz. Sie soll, das lassen sich die Leute medial vorkauen, diesen Mann heben. Der Bundeskanzler als Pirat, als Freibeuter, gar als Gesetzloser. Der Bundeskanzler als verwegener, risikofreudiger, waghalsiger, draufgängerischer, tollkühner Bursche. Manche setzen ihm im Internet gar einen Papagei auf die Schulter.

Und weil dem so ist, attestieren sie dem Einäugigen in der Generaldebatte, die diese Woche stattfand, nun Angriffslust. Es reicht, wenn er Worte wie „Popanz“ (gegen Friedrich Merz) und „Abbruchkommando“ (gegen die AfD) schleudert.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ingeborg Bachmann hat recht: Unwichtigeres gibt es nicht.

Aber jetzt, wo die Augenklappe in der Welt ist, müsste doch ein ganz anderer Zusammenhang als der des Piraten herausgeschrien werden. Nämlich der, dass bei Leuten, die auf einem Auge blind sind, das räumliche Sehen eingeschränkt ist. Sie sehen nicht in die Tiefe.

Gut, das Hirn kann diesen Mangel ansatzweise ausgleichen. Fraglich, ob bei Olaf Scholz auch. Denn sein politisches Auftreten rutschte die ersten zwei Jahre seiner Regentschaft eher an der Oberfläche entlang. Er sieht auch mit zwei Augen nicht in die Tiefe, konfrontiert nicht mit dem, was hinter den Dingen liegt: hinter dem Klimawandel, dem Erstarken der Rechten, dem Krieg, der sozialen Verwerfung, dem Sterben im Mittelmeer. Scholz äußert sich nicht, und wenn doch, auf eine Art, dass sofort vergessen wird, dass er den Mund je öffnete. Seine „Zeitenwende“ ist nur noch Schlagwort.

Wo sind seine Visionen von einer besseren Gesellschaft, wie gelingt es ihm, die Menschen anzusprechen, und zwar so, dass sie an seinen Lippen hängen, ihm abnehmen, dass er der Richtige ist, dem sie Verantwortung übertrugen? Als Martin Luther King seine Traum-Rede hielt, die bis heute unter die Haut geht, wollte er alle mitreißen, auch seine Gegner*innen. Scholz dagegen lullt ein.

Jetzt, wo die Augenklappe in der Welt ist, müsste herausgeschrien werden, dass der Einäugige nicht in die Tiefe sieht

Der Klimawandel etwa, diese Bedrohung allen Lebens, findet in seinem Reden nicht als Bedrohung statt, sondern als etwas, das Folgen hat, die man abfedern muss. Hätten seine Reden Schlagkraft, würde er den Menschen sagen, was mit dem Klimawandel auf sie zukommt. Würde sagen, dass wir, wenn wir solidarisch zusammenhalten, dieses Riesenproblem gemeinsam lösen. „I have a dream …“

Scholz würde die FDP zur Räson bringen und die Grünen bei ihren Bemühungen um Klimaschutz laut und öffentlich stärken. Stattdessen lässt er sich von der Rhetorik der CDU treiben, die sich wiederum die Agenda der Rechten zu eigen macht. Statt das tollkühn zu entlarven, schlottern ihm die Knie angesichts von Sonntagsfragen.

Wer sagt denn, dass die Bürger*innen, auch die Wutbürger*innen, nicht verstehen würden, wenn da jemand stünde, der ihnen mit Emphase und mit Empathie erklärte, dass am Schutz des Klimas nichts mehr vorbeigeht? Oder dass sie von der Arbeit der MigrantInnen in Deutschland profitieren? Oder dass sie, wenn die AfD politische Macht hätte, angesichts deren wirtschaftlicher Ideen die VerliererInnen wären?

Der Klimawandel, die soziale Ungleichheit, die Demontage der Demokratie sind Fakten, selbst wenn man sie nicht sieht. Die Augenklappe aber ist ein Fake und macht Scholz nicht stärker, obwohl sie da ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Seit 2002 bei der taz, erst im Lokalteil, jetzt in der Wochentaz. 2005 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet für die Reportage „Schön ist das nicht“, 2011 wurde die Reportage „Die Extraklasse“  mehrfach prämiert. 2021 erschien ihr Roman "Brombeerkind" im Ulrike Helmer Verlag. Es ist ein Hoffnungsroman. Mehr unter: www.waltraud-schwab.de . Auch auf Twitter. Und auf Instagram unter: wa_wab.un_art

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.