SPD-Mitglied über seine 70-jährige Treue: „Es geht um Veränderung“

Um den Kapitalismus abzuschaffen, kam Nils Diederich 1952 zur SPD. 70 Jahre später ist der Politiker immer noch Parteimitglied. Doch warum nur?

Ein alter Mann in seiner Garage, er trägt eine rote Hose und blättert in einem Aktenordner

Aufgabe von Politik? „Gesellschaftliche Probleme auf vernünftige Weise zu lösen“, sagt Diederich Foto: Sophie Kirchner

taz: Herr Diederich, Sie sind seit 70 Jahren Mitglied der SPD. Wie hält man das aus?

Nils Diederich: Man braucht schon eine kräftige Konstitution.

Was heißt das mit der Konstitution genau?

Es geht vor allem um geistige Stärke – die SPD hat ja viele Wendungen und Windungen hinter sich. Gott sei Dank habe ich stets versucht, mich an einigen Grundsätzen entlangzuhangeln. Etwa dem, den mir mein 1933 aus Deutschland emigrierter Onkel mitgegeben hat: „Wenn du irgendwas mit Politik machen willst, dann lass dich nicht instrumentalisieren, indem du dich in Seilschaften einbinden lässt.“

Der Mensch

Nils Diederich wird 1934 in Berlin geboren. Seine Eltern engagieren sich für linke Gruppen, Diederich tritt 1952 in die SPD ein.

Der Politiker

Der heute 88-Jährige hatte Ämter auf vielen politischen Ebenen inne. Von 1976 bis 1987 sowie von 1989 bis 1994 saß er im Bundestag, zuvor war er mehrere Jahre Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Zehlendorf gewesen. Von 1971 bis 1976 leitete er die Planungsleitstelle beim Regierenden Bürgermeister von Berlin.

Der Politikwissenschaftler

Parallel zu seinen politischen Ämtern lehrte Diederich seit 1971 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft. Einer seiner Schwerpunkte: Parteien.

Was das Engagement in Parteien angeht, scheint das doch fast ein Widerspruch zu sein: Seilschaften sind dabei ein zentraler Teil.

Stimmt, und daraus ergaben sich für mich auch steinige Wege. Aber letztlich habe ich es ohne feste Einbindung in Seilschaften geschafft.

Haben Sie nie an Austritt gedacht?

Nein. Aber das hat etwas mit meiner Sozialisation zu tun. Ich bin in einer sozialdemokratischen Familie aufgewachsen.

Zum 18. Geburtstag gab es das Parteibuch.

Schon kurz davor: Mein Vater hat 1952 den Vorsitz des SPD-Kreisverbandes Zehlendorf niedergelegt, aus beruflichen Gründen. Da habe ich beschlossen, ich trete jetzt ein.

Als Ersatz für den Vater …

Nein, zur Bewahrung der Kontinuität. Mein Großvater Franz ist schon 1888 in die SPD eingetreten, geworben von Karl Liebknecht, dem Sohn von Wilhelm Liebknecht …

einem der Gründerväter der SPD.

Mein Vater war dann in den 20er Jahren politisch aktiv, meine Mutter seit 1922 Mitglied in der Sozialistischen Proletarierjugend, der Jugendorganisation der USPD. Da gibt es also eine Traditionslinie von „Kleinadel“ in der SPD.

Als Sie 1952 eintraten, war die SPD – noch ohne Godesberger Programm – eine klassenkämpferische Partei.

In Berlin nicht. Hier war es die Partei, die unter ihrem Nachkriegsvorsitzenden Franz Neumann Widerstand gegen die SED und die Zwangsvereinigung geleistet hat. Das war der große Mythos und trug zum Selbstbewusstsein bei, was sich auch in Wahlen niederschlug: Nicht umsonst holte die SPD in Berlin einst 64 Prozent.

Hatten Sie noch einen anderen Grundsatz?

Ja. Etabliere dich erst beruflich, sodass du jederzeit aus der Politik wieder aussteigen kannst.

Sie sind dann ja Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin geworden – und saßen lange im Bundestag und haben die Planungskommission des Regierenden Bürgermeisters geleitet.

Wissenschaft und Politik sind immer parallel gelaufen. Ich habe Soziologie und Volkswirtschaft studiert, weil ich dachte, dass das in der Politik nützlich sein kann. Ich habe mich aber nie für irgendwas beworben. Das hat sich immer ergeben.

Sie haben Politik von außen und innen betrachtet. Was ist das Wesen von Politik?

Es geht ums Verändern und um Veränderung. Als junger Mensch habe ich mich als Sozialist gefühlt, als Linker: Wir wollten die Gesellschaft verändern. Es waren die Adenauer-Jahre, die haben wir als das Reaktionärste vom Reaktionären empfunden. Es fand eine Restauration statt, auch im Sinne von Reintegration all derjenigen, die dem Nationalsozialismus zum Siege verholfen hatten. Da hat man natürlich als Sozialdemokrat Widerstand geleistet. Das Wesen der Politik ist letztlich, dass man sich, wenn man sich für Gesellschaft inter­essiert, in die Politik hineinbegibt mit dem Ziel, etwas anhand der Ideen, die man mit sich herumträgt, zu ändern. Das ist immer eine Auseinandersetzung.

Ein alter Mann schaut sich Blumen an.

Nils Diederich auf seinem Grundstück Foto: Sophie Kirchner

Womit?

Viele Menschen, die sich einfügen in die Strukturen, verlieren letztlich die Ideen, die sie mit sich trugen, aus dem Auge. Die Ideen bleiben Fassade oder rücken in den Hintergrund, die Tagespolitik, das pragmatische Vorgehen wird wichtiger. Das kann man zum Beispiel jetzt bei den Grünen beobachten. Diese Partei, hervorgegangen aus einem Bündnis von Ökologen und Pazifisten, schwenkt gerade um zu einer Partei, die gar nicht genug Waffen in die Ost­ukraine pumpen kann. Ist doch erstaunlich! Das ist eine pragmatische Anpassung, ein absoluter Perspektivenwechsel, der interessanterweise auf Zustimmung bei der Bevölkerung trifft. Eine ähnliche Situation übrigens wie die der Sozialdemokraten 1948/49 in Berlin, als sie plötzlich gegen den Kommunismus Widerstand geleistet hat.

Politik ist Veränderung, aber auch Pragmatismus. Was denn nun?

Politik ist zunächst einmal die Aufgabe, gesellschaftliche Probleme auf vernünftige Weise zu lösen – im Interesse der Bürger und im Rahmen der demokratischen Möglichkeiten. Und zugleich der Versuch der einzelnen Parteien, ihre Ziele durchzusetzen.

Welches Ihrer politischen Ämter war Ihr liebstes?

Das als Bundestagsabgeordneter. Wobei: Ich habe versucht, alle Aufgaben und Funktionen mit vollem Engagement auszufüllen.

Nun haben Sie sehr spontan gesagt: Bundestag.

Meine Motivation war schon immer, irgendwann Bundestagsabgeordneter zu sein.

Schon mit 18?

Schon mit 14! Ich habe in der Familie täglich die politischen Telefongespräche meines Vaters mitgekriegt und die Diskus­sio­nen, die meine Mutter führte. Und ich galt als der „linke Politiker“ in meiner Schulklasse.

Fühlten Sie sich später in diesem Wunsch bestätigt?

Als ich 1976 in den Bundestag kam, saßen da drei große Politiker vorne: der Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner, der Kanzler Helmut Schmidt und Parteichef Willy Brandt. Das war sehr beeindruckend. Ich hatte das Gefühl, die Sozial­demokratie ist auf dem richtigen Weg, etwas zu verändern. Und man kann als Bundes­tagsabgeordneter sehr viel ­bewirken: Als Berichterstatter für das Berlinförderungsgesetz und die Berlinhilfe aus dem Bundeshaushalt habe ich das gemerkt.

Der Reiz als Bundestagsabgeordneter ist, dass man wirklich Einfluss hat?

Ja. Ich habe mich immer für die generelle gesellschaftliche Gestaltung interessiert, und die findet eben im Bundestag statt. Als ich in die SPD eintrat, war das Grundgesetz noch ganz neu; plötzlich gab es viele spannende politische Ansätze bis hin zum Paragrafen 15 mit der Möglichkeit der Verstaatlichung – der jetzt erstmals in der praktischen Diskussion eine Rolle spielt.

Sie meinen den Erfolg der Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen in Berlin über die Enteignung und Vergesellschaftung privater Wohnungsunternehmen beim Volksentscheid. Überrascht es Sie, dass es so lange dauerte, bis diese Debatte aufkam?

Es gab nie die Chance, den Artikel 15 des Grundgesetzes anzuwenden. Während der Adenauer-Zeit war das obsolet, da ging es um andere Fragen. Und die Gewerkschaften, damals die stärksten Verbündeten der Sozialdemokraten, kämpften für bessere Bedingungen für ihre Arbeitnehmer innerhalb der Wirtschaftswunder-Gesellschaft und für Mitbestimmungsrechte im Betrieb. Enteignung spielte keine Rolle.

Wie finden Sie es, dass jetzt darüber diskutiert wird?

Es wirkt aus der Zeit gefallen. Die öffentliche Hand ist doch selbst schuld, dass sie all diese Wohnungen verloren hat. Ein guter Teil des Bestandes der heutigen Deutsche Wohnen geht auf eine Wohnungsbaugesellschaft zurück, die in den 1920er Jahren von Gewerkschaften gegründet wurde. Nach und nach wurde das privatisiert. Auch mein Haus – das ich ohne großes Eigenkapital noch als Assistent an der Uni erwerben konnte – war damals Eigentum von Gewerkschaften. Irre.

Wie schätzen Sie die Erfolgschancen eines möglichen ­Enteignungsgesetzes in Berlin ein?

Eine große Frage ist, ob ein ­Bundesland den Enteignungsparagrafen des Grundgesetzes überhaupt anwenden kann auf eine Gesellschaft, die bundesweit tätig ist. Denn die Berliner könnten ja nur den Ber­liner Teil der Firmen enteignen.

Und wie bewerten Sie die Debatte an sich?

Sie hatte bereits eine unglaubliche politische Wirkung. Man sieht, wie der Immobilienkonzern Vonovia sich kringelt und dreht, um sich lieb Kind in der Politik zu machen und in Franziska Giffeys Wohnungsbündnis. Das ist der Versuch, alles schön aussehen zu lassen und die Wohnungsnot im Rahmen des Marktwirtschaftlichen zu lösen.

Kann das gelingen?

Wenn Nachfrage da ist, kann nur Neubau helfen. Wohnungen sind soziale Güter und erfordern, dass kommunale Gesellschaften regulierend wirken. Die von Helmut Kohl gemeinsam mit der FDP abgeschaffte Gemeinnützigkeit für Wohnungsgesellschaften muss wieder her; das steht ja auch im Koalitionsvertrag der Ampel. Der Blick auf die langfristigen Entwicklungen zeigt aber, dass die Nachfrage Schwankungen unterworfen ist. In Berlin wurden in den 1990er Jahren tausende Wohnungen abgerissen; es gab eine Stagnation bei der Bevölkerungsentwicklung. Und die Wohnungsfrage hat bis 2015 gar keine Rolle gespielt.

Da war der Druck im Kessel schon ziemlich groß, den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hatte das aber nicht interessiert.

Das kann schon sein. Jedenfalls laufen wir jetzt der Wohnungsentwicklung hinterher. Aber mit Blick auf die 1990er muss man sich doch fragen: Ist die Wohnungsnot vielleicht auch nur eine kurze Phase? Die Berliner Bevölkerung stagniert fast wieder, im Umland entstehen auch viele Wohnungen. Es kann durchaus sein, dass in drei, vier Jahren alle fragen, wieso wir eigentlich so viel bauen.

Ich wollte eigentlich von der Enteignungsdebatte zum Otto-Suhr-Institut überleiten, weil das so gut passt. Seit 1971 haben Sie dort als Professor gelehrt. Das OSI war damals einer der Hotspots der ideologischen Auseinandersetzungen über die Zukunft der Republik. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Ich habe schon vorher dort gelehrt und deshalb die 68er-Zeit sehr bewusst miterlebt. Der Opportunismus der Studenten, auch der ganz radikalen, hat mich ganz besonders überrascht.

Wie meinen Sie das?

Ein Beispiel: Ein Student in einem Seminar an einem Freitagvormittag entschuldigte sich, er müsse früher gehen wegen einer Demonstration und er müsse sich beeilen, weil er ja noch packen müsse. Ich fragte: Wieso packen? Da sagte er, gleich nach der Demonstration müsse er sich in den Flieger setzen, weil er mit seinen Eltern nach Sylt reist. Ja, ja, die große Revolution, aber natürlich eingebunden in das gute gutbürgerliche Leben … So bekam ich ein sehr differenziertes Verhältnis zu dieser Bewegung. Ich war kein 68er und damals schon so eine Art Altvorderer.

Sie waren immerhin Mitglied im SDS, dem Sozialistischen Studentenbund, ein wesentlicher Akteur des radikalen gesellschaftlichen Aufbruchs der 60er Jahre.

Aber der zerfiel. In den 70er Jahren habe ich mich in der Hochschulinitiative für den demokratischen Sozialismus engagiert. Da diskutieren wir noch heute die Frage, welchen Gehalt die Idee des demokratischen So­zialismus hat.

Und?

Das hat sie. Die Frage ist doch: Soll man sich von Vorstellungen über ideale Gesellschaften verabschieden, weil man die Gefahren des Versuchs kennt, Ideologien eins zu eins in die Realität umzusetzen?

Sicher nicht!

Genau. Ich zitiere gerne Carl Schurz, Revolutionär von 1848, der in die USA ausgewandert ist und für die amerikanische Regierung gearbeitet hat: „Ideale sind wie die Sterne. Wir richten unseren Kurs nach ihnen, aber wir erreichen sie nie.“ In dem Sinne verstehe ich auch die Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist demokratischer Sozialismus?

Sie waren gleichzeitig Hochschullehrer und Bundestagsabgeordneter. Sie haben auf der einen Seite Politik gemacht und auf der anderen als Wissenschaftler Politik analysiert und über Parteien geforscht, also über sich selbst. Sie waren das Objekt Ihrer Forschung.

In gewisser Weise ist das richtig. Das behindert einen aber nicht in der Forschung, sondern in der Politik. Wenn man mit einem analytischen Blick auf die Arbeit der Politik schaut, hinterfragt man sich auch ständig selbst. Ich habe mich dadurch in meiner naiven Handlungsfähigkeit als Politiker begrenzt. Wichtig ist:­ Man muss die Rollen trennen.

Geht das?

Ja. Deswegen habe ich nie danach gestrebt, Minister zu werden oder Staatssekretär. Die Rolle als Abgeordneter hat mir genügt. Das hatte auch den Vorteil, dass ich Studenten in meinen Lehrveranstaltungen vermitteln konnte, was in der Politik tatsächlich passiert. Und man muss sich tagtäglich sagen: Du spielst in der Gesellschaft eine bestimmte Rolle. Aber du bist daneben auch Mensch, Individuum, das in andere Strukturen eingebunden ist. Das muss man trennen. An dieser Stelle kann übrigens Korruption entstehen: Die politische Rolle wird dazu benutzt, den Eigennutz zu mehren. Dazu habe ich auch Lehrveranstaltungen gemacht.

Waren Sie erfolgreicher in der Politikwissenschaft oder als Bundestagsabgeordneter?

(überlegt) Als Politikwissenschaftler, würde ich sagen. In meiner Garage stehen zehn Kartons mit Examensgutachten. Ich habe auch heute noch Schriftwechsel mit Absolventen. Ich denke, ich habe meine Aufgabe als Hochschullehrer einigermaßen ordentlich erfüllt.

Ihr Vermächtnis ist der Wahl-O-Mat, ein Online-Tool, mit dem Menschen ihre Parteipräferenz vor Wahlen herausfinden können.

Gegen Ende meiner Uni-Karriere habe ich den Typus meiner Lehre verändert weg von empirischer Forschung hin zu Projekten, in die die Studenten selber eingebunden waren mit starkem Praxisbezug. So haben wir, in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung und anderen Partnern, in einem zweisemestrigen Seminar 2002 nach einem holländischen Vorbild den Wahl-O-Mat entwickelt – ein interessantes Spielzeug.

Haben Sie das Spielzeug mal wieder ausprobiert und geschaut, ob Sie noch bei der SPD als Wahlempfehlung landen? Bei vielen ist das Ergebnis ja recht überraschend.

In letzter Zeit nicht mehr. Aber ich sollte es vielleicht bald mal wieder testen.

Wenn Sie auf diese 70 Jahre SPD zurückblicken: Was ist die wesentliche Veränderung bei Ihnen und welche bei den Parteien?

Na ja, 1952 hatte ich noch die Illusion, man könnte tatsächlich aktiv etwas tun, um den Kapitalismus in eine andere Gesellschaft zu überführen. Diese Illusion ist bis auf wenige Elemente geschwunden: wir sind in eine Konsumgesellschaft hineingewachsen, die notwendig ist, um den Kapitalismus in Gang zu halten. Verändern könnte man das nur, indem man diesen Konsumismus verändert. Wenn ich die Nachfrage bremse, bricht das Wirtschaftssystem zusammen. Aber Freiheit zu Konsum einerseits, politische Versuche zu Verhaltensänderung anderseits erzeugen Widersprüche.

Sehen Sie das auch konkret?

Ja, etwa bei den ideologischen Ansätzen der Grünen, das ist fast eine Art Erziehungsdiktatur. Man muss die Leute gewöhnen, indem man sie in bestimmte Richtungen drängt und zwängt. Ich bin sehr skeptisch, ob das funktionieren kann. Ich bin aber auch skeptisch, ob funktionieren kann, was viele Sozialdemokraten heute machen, nämlich Probleme über breitgestreute Sozial­subventionen zu lösen. Zum Beispiel beim 9-Euro-Ticket und der FDP-Kompensation für den Benzinpreis für jedermann. Ich glaube nicht, dass das irgendetwas bewirkt für die Anpassung der Gesellschaft an das, was Olaf Scholz zu Recht Zeitenwende genannt hat.

Hm.

Insgesamt bin inzwischen vielleicht etwas skeptischer geworden, aber habe den Optimismus nicht verloren, dass man doch eine ganze Menge machen kann.

Wie sieht es aus mit der Familientradition: Sind Ihre Kinder Mitglied der SPD?

Immerhin zwei von drei Söhnen, aber aktiv ist keiner. Einer ist ganz aus der Gesellschaft ausgestiegen, Veganer geworden und lebt tatsächlich auf dem gesellschaftlichen Minimum als Musiker, durch Auftritte – obwohl er promovierter Chemiker ist. Eines Tages hat er gesagt: Ich will diesen Kapitalisten nicht mehr dienen, ich steige aus.

Orientiert sich Ihr Sohn an einer Ideologie oder Utopie?

Er führt ein individuelles Leben. Er hat sich entschieden, dass er sich in diese Gesellschaft nicht integrieren will. Wir sagen ihm immer: Da hast du aber Glück gehabt, dass diese Gesellschaft für dich alles Mögliche zusammen bereitstellt – Wohngeld und Sozialhilfe etwa.

Finden Sie es schade, dass es eine Karriere mit 70 Jahren in der Partei fast nicht mehr gibt?

Was heißt schade? Ich bin eine Ausnahme, weil ich schon in einer sozialdemokratischen Familie groß geworden bin. Ein guter Teil jener Generationen, die während und nach der Willy-Brandt-Zeit in die Partei eingetreten sind, kommt aus kleinen mittelständischen Verhältnissen, aus Familien, die aufgestiegen sind dank sozialdemokratischer Politik, die vorher Wirksamkeit gezeigt hat. Die haben sich nicht mit 18 entschieden, in die SPD zu gehen, sondern erst ein, zwei, drei Jahrzehnte später. Und die heutige Protestgeneration wie Fridays for Future hat eine andere Orientierung auf einen einzelnen Zweck, ein Ziel. Die kommen gar nicht auf die Idee, sich in eine Partei einzusortieren, die auf Dauer ein Programm verwirklichen will.

Was ja auch nicht falsch ist.

Nein, falsch ist es überhaupt nicht. Es gibt bis jetzt noch keine gesellschaftliche Konvergenz, wie die Gesellschaft, wie die Parteien versuchen darauf einzugehen. Denn die Verankerung der Parteien im Grundgesetz, wonach sie an der „Willensbildung“ mitwirken, ist nicht nur ein Privileg, sondern es ist ein gesellschaftlicher Auftrag. Und man kann sagen, dass die Parteien diesen Auftrag heute nicht ausfüllen.

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