Richard Fords Roman „Valentinstag“: Abschied eines Boomers

Trauer über eine Romanfigur? Angesichts von Richard Fords „Valentinstag“, des letzten der Frank-Bascombe-Bücher, kann man das empfinden.

Der Eingang zum Kornpalast in Mitchell, davor Touristen und Touristinnen und ein künstlicher, übergroßer maiskolben

Eine fremdgewordene USA: der Mitchell Corn Palace in South Dakota. Alles aus Maiskolben! Foto: ZUMA Press/imago

Warum schreibt Frank Bascombe? Das ist eigentlich eine unstatthafte Frage. Frank Bascombe ist eine Romanfigur und tut das, was sein Autor ihn tun lässt.

Doch Richard Ford hat diesen Frank Bascombe, eine der bedeutendsten Figuren der Gegenwartsliteratur, nun einmal mit viel Individualität, Glaubwürdigkeit und Dringlichkeit ausgestattet. Wer mit ihm aufgewachsen ist – „Der Sportreporter“, der erste Bascombe-Roman, erschien 1986, „Valentinstag“, der fünfte und, wie Ford angekündigt hat, letzte, ist gerade herausgekommen –, kann sich dabei ertappen, über ihn nachzudenken wie über eine reale Person (und zum Abschied tatsächlich so etwas wie Trauer empfinden).

Also, warum schreibt Frank Bascombe?

Der Ausgangspunkt dieser Bücher ist, dass er keineswegs schreibt, um dafür Anerkennung zu bekommen, Geld oder Ruhm. Das lässt er gleich hinter sich, als er als hoffnungsvoller Jungschriftsteller mit der Literatur aufhört, obwohl sein Debüt erfolgreich gewesen ist, und zwar, nachdem sein älterer Sohn, Ralph, noch im Kindesalter starb. Damit fängt diese Romanreihe an.

Die emotio­nale Katastrophe ist geschehen, Frank Bascombe muss mit ihren Nachwirkungen umgehen lernen. Und ein Teil seiner Bewältigung besteht darin, dass er ein zweites Buch halb fertig in einer Schublade versenkt und es dort belässt.

Das normale, beifallslose Leben

Er wird Sportreporter. Im zweiten Roman aber, „Unabhängigkeitstag“, lässt er auch das journalistische ­Schreiben bleiben, sattelt um, wird Makler (mit der Einsicht, dass man „Leuten kein Haus verkauft, sondern ein Leben“) und bleibt das auch. Jetzt, in „Valentinstag“, hilft er, inzwischen 74 Jahre alt, noch im Maklerbüro eines seiner ehemaligen Angestellten aus.

Der Punkt ist nun aber, dass er gleichzeitig eine gewissermaßen aufschreibende Haltung gegenüber seinen Erlebnissen beibehält. Er wird zum Ich-Erzähler; und das, was er erzählt – die Szenen und Dialoge, die Begegnungen, die Vorortbeschreibungen und Autofahrten, der Bericht eines „normalen, beifallslosen Lebens, das wir alle führen“ halt –, das ist nicht in Form eines inneren Monologs oder einer in „Fänger im Roggen“-Tradition kunstvoll-flapsigen Alltagssprache dargeboten. Es ist sorgsam und genau geschrieben.

Man schaue sich nur einmal diese Eröffnungssequenz an: „In Haddam treibt der Sommer durch baumverschattete Straßen wie süßer Balsam eines achtlosen, träumerischen Gottes, und die Welt fällt in ihre eigenen geheimnisvollen Hymnen ein.“ („Der Unabhängigkeitstag“)

Oder jetzt die Szene im „Valentinstag“, in der Frank Bascombe die Hälfte der Asche seiner verstorbenen Exfrau ihrem Willen gemäß im Ives Lake in Michigan verstreut, zu dem sie früher Familienausflüge unternommen haben: „… die Asche formte kurz ein Wölkchen, dann einen Rußflecken auf der Wasseroberfläche, der sich auflöste und davontrieb, tiefer sackte und dann einfach verschwand.“

Warum beobachtet Frank Bascombe so eingehend? Was treibt ihn an?

Man muss die Worte finden

In allen fünf Frank-Bascombe-Büchern lässt Richard Ford seinen Alltagshelden immer wieder über das Schreiben nachdenken. Im „Unabhängigkeitstag“ heißt es: „Ich habe immer geglaubt, dass Worte die meisten Dinge besser machen können, und es gibt nichts, was man nicht verbessern könnte. Aber man muss die Worte finden.“

Diesen Glauben, der zugleich eine Aufgabe ist – man muss die Worte finden –, wird Frank Bascombe alle fünf Bücher hindurch festhalten, wobei man gleich hinzufügen sollte, dass es hier nicht um billigen Trost geht, und auch, dass in den Büchern immer wieder Szenen geschildert werden, in denen die verbessernden Worte eben nicht gefunden werden. Dialoge laufen ins Leere, Unfälle passieren, Menschen sterben.

Die eben zitierten Sätzen fallen zum Beispiel, kurz bevor Franks jüngerer Sohn Paul einen Baseball ins Gesicht geschossen bekommt, so heftig, dass er beinahe ein Auge verliert; sie hatten seinen Helm vergessen. Das sind die Szenen, in denen Worte nichts helfen. Aber Frank Bascombe strengt sich mit ihnen an; was bleibt ihm anderes übrig?

Richard Ford: „Valentinstag“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Hanser.Berlin, Berlin 2023, 384 Seiten, 28 Euro

An einer anderen Stelle überlegt er sich, dass man „eine gute, dauerhafte und anpassungsfähige Strategie dafür“ braucht, „den Unwägbarkeiten des Lebens anders als frontal zu begegnen“. Das ist ein Kern seines Lebensentwurfs. Was du nicht ändern kannst: deal with it. Und in diesem Zusammenhang ist auch seine erzählerische Einstellung zu seinem Leben zu sehen. Sie ermöglicht es ihm, Abstand zu halten, auszuweichen und ist damit seine Form der Selbstbehauptung gegen die Unwägbarkeiten des Lebens, von denen diese Bücher nur so wimmeln. Trennungen, Krankheiten, toxische Begegnungen, Lebenskrisen, Immobilienkrisen, Hurrikane, schließlich Trump.

Eine fremd gewordene USA

Überhaupt handelten die Frank-Bascombe-Romane von Anfang an von den letzten Dingen – und davon, wie das Leben weitergeht. Schreiben ist dabei ein Bewältigungsmechanismus. Wer sorgfältig beschreibt, behält eine Art von Kontrolle.

In dem aktuellen Roman wird dieser Ansatz noch einmal fundamental auf die Probe gestellt. Frank Bascombe ist hier nicht nur mit seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert, sondern vor allem auch mit der unheilbaren ALS-Erkrankung seines zweiten Sohnes Paul (die Reihe beginnt mit dem Tod des ersten Sohnes und endet mit dem Tod des zweiten – Richard Ford ist bei aller Fähigkeit zur Empathie auch ein unbarmherziger Plotter, der die erzählerische Schraube immer noch eine Umdrehung mehr anzieht).

Nach einer schwächeren ersten Romanhälfte fahren sie in der stärkeren zweiten Romanhälfte los. Vater und Sohn in einem klapprigen Campingwagen durch eine ihnen fremd gewordene USA, sie kommen am Mitchell Corn Palace in South Dakato vorbei – alles aus Maiskolben! – und landen schließlich bei den vier in Stein gehauenen US-Präsidenten am Mount Rushmore.

Bei deren Anblick Paul tatsächlich freudig ausrufen wird: „Es ist komplett sinnlos und lächerlich, und es ist super.“ Was bei einem schwächeren Autor als eine Art Fazit über das Leben insgesamt stehen würde, von Richard Ford aber, bei dem es keine letzten Worte gibt, am Schluss noch einmal aufgefangen wird.

Auf dieser Fahrt – kein pathetisches Abschiednehmen zwischen Vater und Sohn, eher eine Buddy-Tour mit Handicaps und der Leitfrage: Was machen wir als Nächstes? – denkt Frank, der immer ein eifriger Leser war, über den deutschen Philosophen Martin Heid­egger nach, und man will sich schon erschrocken fragen, ob er sich hier kurz vor Schluss doch noch zu letzten existenziellen Gewissheiten bekehrt.

Doch das ist dann gar nicht so. Es gibt einen ausdrücklichen Seitenverweis: „Sein und Zeit, Seite 263“. Wer ihm nachgeht, landet in dem Abschnitt von Heideggers Hauptwerk, in dem das Dasein als heldisches „Sein zum Tode“ bestimmt wird. Was allerdings Frank Bascombe zurückweist. Er stellt fest, dass er auch angesichts der Endlichkeit der Existenz „kein bisschen“ bereit ist, „ernsthaft auf Behagen, Leichtnehmen, Sichdrücken zu verzichten“. Und ziemlich am Schluss von „Valentinstag“ heißt es: „Mir ist bewusst geworden, dass Heidegger das Leben – das schon schwer genug ist – noch ein kleines bisschen schwerer macht.“ Während, darf man ergänzen, die Möglichkeit, es zu beschreiben, es ein kleines bisschen leichter macht. Manchmal. Nicht immer.

Gefühle eines Boomers

Bevor man endgültig von ihm Abschied nimmt, kann man sich fragen, wie dieser Frank Bascombe, der 1945 „in ein gewöhnliches, modernes Dasein hineingeboren“ wurde, mit alledem zur Generation der Boomer steht. Auch das ist interessant kompliziert. Indem Gefühle für ihn immer etwas Schwieriges, in ihrer Reflexionsbedürftigkeit Fremdes sind, ist er durchaus ein Vertreter dieser Generation, die den Umgang mit gesellschaftlichen Liberalisierungen, Privatheit und sozialen Beziehungen erst lernen musste.

Doch er geht keineswegs darin auf. Als Boomer ist man mit der Idee aufgewachsen, dass man, wenn man die pubertären Selbstfindungskrisen erst einmal hinter sich gelassen hat, ein geregeltes Erwachsenenleben erwarten kann (oder, im Rebellenfall, muss). Diese Idee dekonstruieren die Bascombe-Romane gründlich. Das Leben bleibt hier stets voller Ambivalenzen, Krisen und Überraschungen, guter wie böser.

Das bleibt bis zum Schluss so. Statt einer abschließenden Lebensbilanz bietet auch „Valentinstag“ wie die vier vorangegangen Bascombe-Bücher nur an, die „losen Enden des Lebens“, die eigentlich nicht zusammenpassen, immer neu zu ordnen, ein „unablässiger Prozess des Ordnens und Neu-Ordnens und Wieder-neu-Ordnens“.

„Alles ist so kompliziert wie ein geometrisches Problem, wenn es um Angelegenheiten des Herzens geht“, hieß es im „Sportreporter“. Auch deshalb schrieb Frank Bascombe.

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