Neue Platte von Moor Mother: Schuld, Sühne, Soundfiles

„The Great Bailout“ heißt das neue Album der US-Musikerin Moor Mother. Es handelt von britischer Kolonialgeschichte und ihrer Verstrickung in Sklavenhandel.

Die US-Künstlerin Camae Ayewa firmiert unter dem Namen Moor Mother

Die US-Künstlerin Camae Ayewa firmiert unter dem Namen Moor Mother Foto: Ebru Yildiz

Was ist euch wichtig, „About what do you give a shit?“ fragte die US-Künstlerin Camae Ayewa unter dem Namen Moor Mother zu Beginn ihres „Tiny Desk“-Konzerts beim Radiosender NPR am 19. Februar, als sie Auszüge ihres neuen Albums „The Great Bailout“ vorstellte. Entstanden war das Material 2020. Während der Covid-Pandemie, an ihrem heimischen Computer, hatte sie befreundete Künst­le­r*in­nen gebeten, ihr Soundfiles zu schicken, die sie mit ihrer eigenen Stimme und Musik montierte.

Entstanden ist ein Gesamtkunstwerk aus Noise, Elektronik, Jazz und Gospel; eine Klangcollage als Reaktion auf die kolonialen Verbrechen Großbritanniens und dessen Umgang mit seiner Sklavereigeschichte. Konzipiert als ein langes Gedicht, als afrofuturistische Ballade über Schuld und Sühne.

Im Auftakt „Guilty“ sorgen sphärische Harfenklänge von Mary Lattimore mit einem Streicherensemble für sanfte Klangverschiebungen. Wie bei einem Wiegenlied verbinden sich darüber Gesangsmelodien von Raia Was und Lonnie Holley. Beiläufig, fast zärtlich berichten sie vom Grauen der Middlepassage auf Sklavenschiffen. Erst allmählich kommt der Sprechgesang Ayewas dazu, die auf die düsteren Ereignisse einstimmt, ein Vorgeschmack auf die Verhärtung der Musik. Noise-Flächen, Elektronik und ein Beat der wie ein Herzschlag pulsiert.

England besaß im 18. Jahrhundert die weltweit größte Flotte an Sklavenschiffen; die Hafenstadt Liverpool war Haupt­umschlagplatz des Sklavenhandels. Insgesamt wurden etwa drei Millionen Menschen verschifft und verkauft und leisteten Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern und Zuckerplantagen der britischen Kolonien in Nordamerika und Westindien. Der Gewinn aus der unbezahlten Arbeit bildete die finanzielle Grundlage des Imperiums.

Entschädigung, aber nicht für die Ausgebeuteten

Nach dem Verbot des Sklavenhandels in Großbritannien 1807 wurde eine beispiellose Summe als Entschädigung gezahlt. Doch die 20 Millionen Pfund (heutiger Wert etwa 18 Milliarden Euro), die etwa der Hälfte der Jahresbruttoeinnahmen des Landes entsprachen, gingen nicht an die als Leibeigene Ausgebeuteten, sondern an die Skla­ven­be­sit­ze­r*in­nen als Kompensation. Die letzte Rate wurde noch 2015 ausbezahlt!

Es gab ab dem späten 18. Jahrhundert auch humanistisch geprägte Kampagnen gegen die Sklaverei. 1807 wurde sie nur in England verboten, ab 1833 auch in den Kolonien. Der Parlamentsentscheid sah jedoch vor, dass nur Kinder unter sechs Jahren sofort frei sein sollten; alle übrigen galten als „Lehrlinge“, welche sich erst noch „emanzipieren“ und die „Freiheit erlernen“ sollten und daher, im Gegenzug für freie Kost und Logis, weitere vier Jahre umsonst für ihre ehemaligen Ei­gen­tü­me­r*in­nen arbeiten sollten.

Im Zoom-Interview erklärt Ayewa, Vertreibung und ihre Auswirkungen würden nicht genug diskutiert. Sie spricht von einer „PTBS der Vertreibung“, einem posttraumatischen Belastungssyndrom, vergleichbar mit Kriegs- und Katastrophen­erfahrungen. Das transgenerationale Trauma habe sich in Körper und Selbstwahrnehmung eingeschrieben und verursache noch immer großes Leid.

Irreversable Entanglements

„Wir haben so viele verschiedene Akte systemischer Gewalt durchgemacht“, erklärt die einstige Punksängerin und Rapperin aus Philadelphia. Nach dem Tod von Trayvon Martin und dem Beginn der „Black Lives Matter“-Bewegung hatte sie 2015 ihr Kollektiv Irreversable Entanglements gegründet, mit dem sie Archivaufnahmen von Bür­ger­recht­le­r*in­nen und historische Jazzaufnahmen mit Livemusik mischte.

Seit 2021 unterrichtet sie an der Musikhochschule Thornton School of Music. Hinter ihr ist der blaue Himmel von Los Angeles zu sehen. Kurz kommt auch ihre Partnerin, die Community-Anwältin und Aktivistin Rasheeda Phillips ins Bild, mit der sie gemeinsam das Künstlerinnen-Duo Black Quantum Futurism bildet.

Moor Mothers afrofuturistischer Zugang stellt die europäisch-koloniale lineare Zeitmessung infrage. So heißt es in „South Sea“: Wir sind permanent dabei, uns in die Vergangenheit „zu injizieren“. Doch wer bestimmt die Zeit? Wir sind noch immer gefangen in der Zeitmessung der ‚Master Clock‘ (Sklavenhalter-Zeitzone). Wie wir über die Zeit denken, bestimmt, wie wir über uns selbst und die Welt um uns herum denken.“

Im Interview ergänzt sie: „Wie können wir einen Weg finden, das Trauma der Vergangenheit zu untersuchen, während uns regelmäßig gesagt wird, wir sollen Dinge vergessen, die vor langer Zeit passiert sind.“ Im Stück „My Souls Being Anchored“ heißt es: „Unbezahlte Arbeit ohne Staatsbürgerschaft, ohne Namen, ohne Sprache. Wo ist da noch Platz für Entschuldigungen? 1856: die Eröffnung der National Portrait Gallery. Die erste Begegnung der Europäer mit einem Spiegel und wie sie sich selbst sehen.“

Bei „Compensated Emancipation“ schwebt der Gesang von Kyle Kidd über düsteren Drones und Soundclustern, aus denen die Stimme von Moor Mother hervortaucht, ähnlich wie Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, als Analogie des „Angelus Novus“ von Paul Klee.

„Warum bin ich hier?“ fragt sie. „Jeden Moment sollte die Königin vorbeikommen, um mir von der Tatsache des Schwarzseins zu erzählen und wie das Anti-Schwarzsein die Domänen der Wahrheit kolonisiert hat. Mit jedem Atmen, Gehen, Sprechen verstoßen wir gegen das Gesetz, wir dürfen nicht hier sein.“

Skandal um „Windrush Generation“

Damit knüpft sie an den jüngsten Skandal in Großbritannien beim Umgang mit der „Windrush Generation“ an. Die Einwanderer aus der Karibik wurden 1948 für den Wiederaufbau Englands nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Schiff „Empire Windrush“ ins Land gebracht.

Moor Mother: „The Great Bailout“ (Anti/Indigo)

Weil die Behörden Steuerbescheide und Gesundheitskarten verschlampt hatten, konnten die inzwischen betagten afrobritischen Bür­ge­r:In­nen keine Rente beantragen. Manche konnten nach einem Urlaub nicht wieder nach England einreisen oder wurden gar wegen fehlender Papiere in die Karibik abgeschoben.

Während einer Europatournee habe sie zum ersten Mal davon gehört: „Das führte mich zu Archiven und verschiedenen Gesprächen mit Schwarzen Künst­le­r*in­nen in Großbritannien“. Recherche sei ein zentraler Teil ihrer Arbeit. Sie sei daran interessiert, die Beziehung von Kolonialismus und Emanzipation der gesamten Afrodiaspora zu erforschen, denn, so Ayewa: „Unter der kolonialen Geschichte gibt es keinen Schlussstrich. Sie hallt ständig nach und schwingt weiter.“

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