Jagen ist das neue Yoga: Dem Essen ins Auge sehen

Biobauer Christian Heymann jagt, was auf den Tisch kommt. Viele Menschen zieht es zur Jagd. Unser Autor war mit auf Wildschwein-Pirsch.

Ein junger Hirsch

Rotwild am Waldesrand: Nicht nur niedlich anzuschauen Foto: Alamy

Der Waldweg ist weiß gefroren. Die Sohlen knirschen darauf wie zerbrechendes Knäckebrot. Es ist zehn Uhr abends, über uns hängt eine Wolkendecke, die das Großstadtlicht blaugrau reflektiert. „Das ist gut“, flüstert Christian Heymann, „dann fühlt sich das Wild sicherer. Versuch', leiser zu laufen.“

Wir sind auf dem Weg zur Kopfschusskanzel, einem Jägerstand in den alten Rieselfeldern westlich von Berlin. Hier an der Havel hat Heymann, Biobauer und mit dem Landwirtschaftsbetrieb „SpeiseGut“ einer der Pioniere der Solidarischen Landwirtschaft in der Hauptstadt, seine Felder und in der Umgebung sein Revier. Den Hochsitz hat er in den vergangenen Wochen gebaut, eigentlich eine große Holzkiste auf vier Stangen, mehr als vier Meter überragt sie das Feld. Man merkt ihm an, es wäre nur ein gerechter Lohn wochenlanger Zimmerer-Arbeit, in der ersten Nacht erfolgreich zu sein. Und auch, weil die Kälte so klirrt in der Dunkelheit, das Thermometer im Auto zeigte minus zwei Grad.

Vielleicht hundert Meter entfernt liegt der Waldrand. Dort endet auch einer der vielen ­alten Gräben, die die Felder durch­ziehen. In ihrem Schutz ziehen die Wildschweine oft durch das Revier. Aber tauchen sie am Waldrand aus der Ver­senkung auf, hat der Jäger ein gutes Ziel.

Wir dämpfen unsere Stimmen, während wir uns weiter an die Kanzel anpirschen. Ein kleines Rascheln lässt Heymann zum Wärmesichtgerät greifen. Gleich neben uns duckt sich eine Maus ins Gras, im Okular taucht sie als weißer Fleck zwischen den Grashalmen auf. Wir haben den Waldweg verlassen und sind nun im offenen Feld unterwegs, folgen dem Profil eines Traktorreifens.

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Vor eineinhalb Jahren hat Christian Heymann, 39, der selbst keine eigenen Tiere züchtet, seinen Jagdschein gemacht. Es war das Wildschwein, dessentwegen sich der Bauer dazu entschied. „Es ist eine Plage“, sagt er. Regelmäßig brechen die Tiere in seine Felder ein. Der Bestand des Wildschweins wächst, vor allem Berlin und seine Umgebung sind attraktiv. Die Tiere finden hier ein breites Nahrungsangebot, die milderen Winter stellen kein Problem dar, in und um die Stadt werden sie von Spaziergängern sogar gefüttert. Längst gibt es keine Schonzeiten mehr.

Lange ließ Heymann seine Felder bejagen, dann starb der Jäger. Inzwischen macht sich Heymann nach einem langen Tag auf dem Feld selbst auf die Pirsch, zwei bis drei Nächte sind es wöchentlich.

Wir sind auf dem Hochstand angekommen und haben das schmale Brett zwischen den Wänden verkeilt, das uns die nächsten Stunden als Bank dient. Wir haben einen Ansitzsack, eine Mischung aus Latzhose und Schlafsack, und Decken dabei und mummeln uns ein. Inzwischen haben sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt, der Waldrand vor uns ist in milchiges Grau getaucht. Etwa 50 Meter links von uns steht eine Ricke mit zwei Jungen im Feld. Das Wärmesichtgerät zeigt drei helle Flecken, zwei stehen enger zusammen. Wir haben die Rehe schon entdeckt, als wir unten an der Kanzel standen. Der Aufstieg hat sie nicht verscheucht.

Christian Heymann, Jäger

„Das ist gut, dann fühlt sich das Wild sicherer. Versuch', leiser zu laufen“

Der Umriss des Rehs

Ich versuche, Umrisse der Rehe mit bloßem Auge zu erkennen. Doch mit der Konzentration bekommt das Grau überall schimmernde Schlieren. Wir können uns gegenseitig atmen hören, flach und schnell. Heymann scannt die Umgebung mit dem Nachtsichtgerät und entdeckt einen neuen weißen Fleck: „Feldhase“, sagt er kurz.

Von Wildschweinen jedoch keine Spur. Die Tiere ruhen tagsüber und brechen zu ihren Futterzügen erst auf, wenn es dunkel ist, deshalb sitzt Heymann oft bis weit nach Mitternacht an. Wildschweine sind klug, können ausgezeichnet äugen und winden, wie der Jäger sagt. Ein ungewohntes Geräusch, ein Hauch von Mensch in der Luft, und die Tiere ziehen sich zurück. Auf Pirsch nach dem Schwarzwild zu gehen ist für viele Jäger die höchste Disziplin.

Die Zahl der Jäger in Deutschland wächst. Rund 384.000 Menschen hatten 2018 einen Jagdschein, das sind 24 Prozent mehr als zur Zeit der Wiedervereinigung. Im vergangenen Jahr haben sich über 20.000 Leute zur Prüfung angemeldet, ein Viertel davon sind Frauen. Insgesamt ist der Anteil der Jägerinnen auf 7 Prozent angestiegen. Vor 30 Jahren Jahren waren es nur 1 Prozent.

„Jagen ist das neue Yoga“, hatte Heymann scherzhaft gesagt, als wir uns für die Jagd verabredeten. Viele schätzen die Ruhe und Entschleunigung, die damit verbunden ist. Bei einer Befragung des Deutschen Jagdverbandes unter Nachwuchs­jägern gaben 77 Prozent das Naturerlebnis als wichtiges Motiv an. Nur für 6 Prozent war es das Interesse an Waffen.

Unter den Frauen nannten überdurchschnittlich viele das eigene Wildbret als Grund. „Bei Wild weiß ich, wie sich das Tier ernährt hat. Und artgerecht ist es auch aufgewachsen“, sagt Petra Erlebach, die mit Heymann oft auf Jagd ist. Was geschossen wird, kommt zu Hause auf den Tisch, Heymann verkauft das Fleisch aber auch in seinem Hofladen in Berlin-Gatow.

Für ihn sei der Kick des Jagdfiebers aber auch wichtig, gibt er zu. Die beiden können sich gut streiten, ob man auch den Fuchs schießen soll. Er bedrohe auch Bodenbrüter wie Rebhühner, sagt er. Sie ist da skeptischer.

Die Rehe verschwinden im Waldsaum. Ich beobachte mit dem Wärmebildgerät, wie die drei weißen Flecken kleiner werden. Es ist, als ob sich jetzt noch einmal eine andere Einsamkeit über die Umgebung legt. „Kommen lassen“, flüstert Heymann. Mein Anorak knistert. Nach ein paar Minuten erscheint wieder ein kleiner Fleck vor der Linse. „Da ist was“, flüstere ich, viel zu laut. „Vielleicht ein Fuchs, der was im Maul hat“, sagt Heymann, als das Tier sich weiter annähert. Er nimmt leise das Gewehr und gibt mir die Taschenlampe. Ich soll anleuchten, was er ins Visier nimmt.

Ein matter roter Streifen legt sich aufs Feld, am Ende bewegt sich etwas. „Das ist kein Fuchs, das ist ein Wildschwein“, flüstert Heymann, und in dem Moment ist das Tier auch schon verschwunden, wir hören nur noch die Äste im Wald brechen. Überlaut, ich habe einen Adrenalinschub.

Einsamkeit legt sich wieder über die Nacht, langsam kriecht die Kälte unter die Decken. Dann weckt uns der Ruf eines Kauzes. Ein Alarmruf, meint Heymann. Möglich, dass ihn die Wildschweine aufgestört haben. Noch einmal eine halbe Stunde konzentrieren wir uns aufs Feld. Als wir von der Kanzel steigen, ist es halb drei Uhr morgens. Über der Kopfschusskanzel schält sich der Vollmond aus den Wolken.

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